Fortschritt versus Traditionen

Nachdem ich über Sylvester Nachrichten geschaut habe, kam mir ein seltsamer Gedanke: Bremsen wir den Fortschritt (bezogen auf Klimaschutz und gesellschaftliche Weiterentwicklung) durch das beharrende Festhalten an Traditionen unnötig aus?

Anlaß war die Berichterstattung über die Sylvester-Aktivitäten. Trotz steigender Lebenshaltungskosten kaufen Menschen für dreistellige Summen Feuerwerkskörper. Damit sprengen sich dann einige Körperteile weg (Resultat: Belastung des Gesundheitssystems) oder sich selbst komplett; der übrigbleibende Müll des Feuerwerks muss aufwändig beseitigt werden (hohe Personal- und Reinigungskosten der Stadtwerke). Dazu hoher Personaleinsatz von Polizei und Rettungsdiensten, von denen viele mit Feuerwerkskörpern beschossen und ggf verletzt werden, auch kostenintensiv.
Trotzdem werden (mit mittlerweile einigen Einschränkungen) Feuerwerkskörper in Deutschland der Tradition aus dem Mittelalter wegen weiter frei verkauft.
Die Klimafolgen mal völlig außer Acht gelassen.
Ist das nicht ähnlich unsinnig wie das Rauchen?

Bremst uns das Festhalten an solchen Traditionen nicht in der weiteren Entwicklung aus?
Welche Vorteile bieten solche historischen Überbleibsel der Gemeinschaft?

Mal als Diskussionsanreiz…

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Hab auch nicht mehr beizutragen als diesen schönen Satz: Tradition is peer pressure from the dead.

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Grundsätzlich schätze ich persönlich wie vermutlich viele Menschen in diesem eher linksliberalen Forum die Offenheit für Neues und das Hinterfragen des Gegebenen als wichtige Qualitäten ein und würde lieber heute als morgen Veränderungen in Themen sehen, die ich wichtig finde.
Meine generelle Einstellung zu Tradition ist aber mittlerweile, ihr im Zweifel den „benefit of the doubt“ zukommen zu lassen, wenn ich zu einem Thema keine genaueren Kenntnisse habe. Wenn man sich einmal auf etwas geeinigt hat, hat es dafür oft gute Gründe gegeben und es sollte nur angetastet werden, wenn man eine Änderung der sachlichen Gegebenheiten demonstrieren kann. Gewissermaßen Tradition als ein „prima facie“ Argument.
Außerdem ist zu beachten, dass es Kosten beinhaltet, von Lösung A auf Lösung B umzustellen. Auch das kann für traditionelle Lösungen sprechen.

Schließlich haben Fortschrittsideologien in der jüngeren Vergangenheit schon großes Unheil angerichtet. Sowohl die Nazis als auch die kommunistischen Diktaturen reklamierten ja für sich, auf radikale Weise alles neu und besser zu machen (die Kommunisten wollten ja teilweise sogar den „neuen Menschen“ schaffen). Vielleicht kann man das in weniger grausamer Form auch in manchen libertären und tech-utopischen Ideologien (zB Privatstadtbewegung, Silicon Valleys „move fast and break things“) beobachten. Daher halte ich eine ehrlich konservative politische Kraft auch für einen wichtigen Bestandteil der politischen Landschaft.

Was Silvesterböllerei angeht: Ja, es könnte ohne besser sein.

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Dort würde ich mit der kritischen Bewertung von Traditionen ansetzen.
Gab es gute Gründe?
Und falls ja: Gelten diese guten Gründe noch heute?

Was waren die „guten“ Gründe für Silvesterfeuerwerk? Scheinbar Aberglaube („Vertreiben böser Geister“).
Was waren die „guten“ Gründe für das Zölibat? Kapitalerhalt („Hat der Priester keine Kinder, geht alles Vermögen nach seinem Tod wieder an die Kirche zurück“)
Was waren die „guten“ Gründe für die Entstehung der „Alkoholkultur“? Schlechte Wasserqualität („Dünnbier als gesündere Alternative zu Wasser“)

Beim Großteil der Traditionen waren schon die Gründe zum Entstehen der Tradition fragwürdig, spätestens heute sind sie jedoch nicht mehr wirklich vertretbar. Was bei jeder Tradition bleibt - und worauf sich Verteidiger der Tradition dann immer zurückziehen - ist das Argument, dass Traditionen Gemeinsamkeit spenden würden („Gemeinsames Feiern“ an Silvester, „Gemeinsames Trinken“, „Gemeinsame Werte in der Religion“), aber dieser Grund trifft auf jede Tradition zu, selbst auf die schädlichsten (die Alkohol-Tradition dürfte aktuell die schädlichste sein, die wir haben, neben diversen Machismen…).

In diesem Sinne bin ich dafür, „Das ist Tradition“ grundsätzlich nicht als Argument gelten zu lassen - wenn es gute Gründe für eine Tradition gibt, die noch heute sinnvoll sind, sollte man mit diesen argumentieren - und nicht mit „Das ist Tradition“, in der Erwartung, dass das als Argument anerkannt wird und niemand die dahinter stehenden Gründe hinterfragt.

Ebenso bin ich dafür, jede Tradition kritisch zu hinterfragen und zu versuchen, sozial und umwelttechnisch förderliche Traditionen zu etablieren, statt an sozial- und umweltschädliche Traditionen (ja, Alkohol und Böllern sind solche) zu verteidigen.

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Fortschritt ist hier sicherlich ein unscharfer Begriff, „Gesellschaftliche Weiterentwicklung zum Wohle Aller“ war etwas lang in der Überschrift.
Ich habe nichts grundsätzlich gegen Traditionen. Diese bieten eine gewisse Beständigkeit und Verlässlichkeit und können wie ein Schützenfest auch sehr gemeinschaftsfördernd sein.
Ich sehe es aber eher wie @Daniel_K , das man Traditionen durchaus zeitkritisch hinterfragen sollte, besonders wenn sie sich in eine eher gesellschaftsschädigende Richtung entwickeln.

Anderes Beispiel: zu meiner Bundeswehrzeiten gab es in den Kompaniegebäuden sogenannte Unteroffizier-Keller oder -räume, eine Art Lehrerzimmer für diese Vorgesetztengruppe. Hier wurde auch eine Art „Traditionspflege“ betrieben. Leider meinte man zu der Zeit, militärische Traditionen in der Wehrmacht der Nazi-Zeit suchen zu müssen. Ich hatte nicht den Eindruck, das die Kameraden damals stramm rechtsradikal waren, aber schon sehr konservativ und sicher auch naiv. Der Traditionserlass der Bundeswehr kam ja dann nicht ohne Grund, da hier schon ein enormer Nährboden für Rechtsextremismus lag und liegt.

Daher hat der Begriff „Deutsche Leitkultur“, den Friedrich Merz ins Spiel brachte, und der auch Traditionen im Fokus hat als Identifikationselement der deutschen Gesellschaft, für mich ein eher negatives Geschmäckle.

(Ich will hier kein Merz-Bashing, ist Sauerländer wie ich und wohnt im Nachbarort, aber man darf ja anderer Meinung sein)

Hab noch einen: „Tradition ist die Weitergabe des Feuers und nicht die Anbetung der Asche.“

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