Forderung nach "Corona-Aufarbeitung"

Ist das nur mein oberflächlicher Eindruck, oder geistern in letzter Zeit wieder verstärkt Überlegungen durch den öffentlichen Diskurs, ob es in irgendeiner Form eine „Aufarbeitung“ der Corona-Politik geben soll?

Ehrlich gesagt, löst das bei mir spontan eher Ablehnung aus; vor allem weil „Aufarbeitung“ von vornherein so klingt, als ginge es hier um Menschheitsverbrechen, Diktatur oder etwas in der Art. Die Befürworter sehen dagegen die Chance, dass ein solches Verfahren (U-Ausschuss, Kommission, o.ä.) zu einer Befriedung der Gesellschaft beitragen kann.

Ist diese Erwartung realistisch? Ich würde ja vermuten, wenn man das nach bestem Wissen und Gewissen durchzieht, kommt am Ende in etwa raus: Im Nachhinein waren nicht alle Maßnahmen sinnvoll, aber mit dem Wissen von damals waren die meisten Entscheidungen gerechtfertigt. Das wiederum würden die Leute, die „Nürnberg 2.0“ fordern, wohl so interpretieren, dass „die da oben“ sich gegenseitig freisprechen. Und das wiederum würde kaum zum gesellschaftlichen Frieden beitragen, oder?

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Dazu gab es vor einigen Wochen erst zwei Threads:

Ich finde es etwas überinterpretiert, vom Wort „Aufarbeitung“ sofort auf „Menschheitsverbrechen“ zu schließen. Ich finde auch, dass es eine kritische Reflexion nicht nur von politischem Handeln, sondern auch von gesellschaftlchen Debatten sehr viel häufiger geben sollte. Und dass die Coronazeit sehr einschneidend war, steht denke ich außer Frage. Eine sinnvolle Aufarbeitung setzt allerdings voraus, dass Menschen sich auch trauen, ihre Einschätzungen zu revidieren und gegebenenfalls Irrtümer oder auch Fehler einzugestehen. Stichwort Fehlerkultur. Wenn ich allerdings meine, schon vorher wissen zu müssen, was bei einer Aufarbeitung am Ende herauskommen wird, macht das m. E. keinen Sinn. Was ich allerdings nicht verstehe ist die Angst, dass ein solcher Prozess den falschen Leuten in die Karten spielen könnte. Was kann es denn im Sinne einer Demokratie Besseres geben, als aus heutiger Pespektive und eben ohne den Druck, in einer akuten Situation handeln zu müssen, eine breite gesellschaftliche Diskussion darüber zu führen, welche Kritik an Coronamaßnahmen berechtigt war, wo Abwägungen getroffen werden mussten und welche „Kritik“ unberechtigt ist, etwa weil sie vor allem auf Falschbehauptungen oder Verschwörungsmythen beruht?

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Absolut. Das Problem ist natürlich: In einer Demokratie stehen die nächsten Wahlen stets vor der Tür. Und leider honoriert der Wähler das Eingestehen von Fehlern - zumindest sieht die Politik es vermutlich so - eher nicht. Dazu kommt dann, dass im Wahlkampf alle Seiten ein Interesse daran haben, der jeweiligen Gegenseite Fehler zu unterstellen, was einer fairen Aufarbeitung auch ein wenig im Wege steht.

Wichtig für die Aufarbeitung wäre auch das Bundesverfassungsgericht gewesen - aus nachvollziehbaren Gründen war dies während der Corona-Zeit sehr zurückhaltend, um der Bundesregierung nicht zu sehr in’s Handwerk zu pfuschen, sodass ich mir gewünscht hätte, dass im Nachhinein klarere Regeln bezüglich der verfassungsmäßigen Grenzen aufgestellt werden - das ist leider weitestgehend unterblieben.

Die Fragen, die während der Corona-Pandemie aufgekommen sind, werden definitiv auch bei zukünftigen Pandemien relevant sein. Deshalb ist die Aufarbeitung der Corona-Pandemie auch eine Vorbereitung auf die nächste Pandemie, damit dann weniger offene Fragen bestehen und weniger Diskussionen notwendig sind. Ich sehe nur nicht, wie wir diese Aufarbeitung ohne politische Ränkespiele hinbekommen, vor allem jetzt im Wahlkampf…

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Ich denke da gibt es eindeutige Gegenbeweise. Mir fallen da beispielsweise Struck, Laumann und allen voran Habeck ein, die vor allem wegen ihrer klaren und oft auch selbstkritischen Worte wertgeschätzt werden/wurden.

Weniger selbstkritisch, aber dafür deutlich und unmissverständlich in der Wortwahl ist Strack-Zimmermann, die - berücksichtigt man welche Partei sie vertritt und wie die gerade dasteht - fast schon die Schulhofkönigin sein könnte.

Politiker, die im Nachhinein immer alles besser gewusst haben, Kleinreden oder Fehler einfach ausscholzen sind dagegen oft eher unbeliebt. Karl Lauterbach, einst von Medien abgefeierter Popstar, ist mittlerweile nicht umsonst einer der unbeliebtesten Politiker der Ampel. Gleiches gilt für Lindner oder offensichtlich Scholz.

Daher möchte ich eindeutig für eine Coronaaufarbeitung plädieren, aber nur in Zusammenhang mit der Einführung einer neuen Fehler- und Verantwortungskultur. Sonst können wir uns das schenken.

Deswegen schrieb ich ja „zumindest sieht die Politik es vermutlich so“.

Es ist gut möglich, dass du Recht hast und die Wähler das Eingestehen von Fehlern tatsächlich honorieren würden. Aber aus Sicht der Politiker scheint das eher nicht der Fall zu sein. Tatsächlich hat das denke ich sehr mit der Glaubwürdigkeit des Eingestehenden zu tun - denn wir haben auch etliche Fälle von völlig missglückten Entschuldigungen für Fehler gesehen.

Für Politiker ist das einfach relativ schwer - klar, man kann Authentizität gewinnen, indem man Fehler eingesteht, aber der politische Gegner wird versuchen, daraus eine „Unfähigkeit“ oder gar „Ungeeignetheit“ für das Amt zu machen (auch das kann man bei Habeck und Baerbock sehr gut beobachten). Ob das klappt hängt von vielen Faktoren ab, Habecks Beliebtheitswerte sind allerdings schon eher gesunken, während „Ich-gestehe-keinerlei-Fehler-ein“-Scholz trotz seiner Rolle bei Cum-Ex und dem Todesfall unter seiner Ägide als Innensenator immerhin noch Kanzler geworden ist…

Auch Merz (der im schlimmsten Fall der nächste Kanzler wird) ist eher der Typ „Ich-gestehe-keine-Fehler-ein“. Ich fürchte, diese Geisteshaltung wird von politischen Führungskräften fast schon erwartet.

Ich stimme dir zu, dass wir generell zu einer anderen Fehlerkultur kommen müssen, wir müssen generell aufhören, Unfehlbarkeit von Politikern zu erwarten und anfangen, Politiker daran zu messen, ob sie adäquat und nachvollziehbar auf Grundlage der ihnen zur Verfügung stehenden Informationen (einschließlich des Standes der Wissenschaft) handeln. Mehr sollten wir nicht erwarten.

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Etwas offtopic, bitte überlesen wer am Thema interessiert ist. Hier geht es als follow up um Gründe für Scholz Kanzlerschaft.

Ja das war erschreckend. Aber es ist auch wichtig zu verstehen, dass nicht G20-CumEx-Scholz von der Bevölkerung gewählt wurde, sondern Armin Laschet verhindert wurde.

Maßgebliche Verantwortung dafür trugen all die, die behaupteten Laschet fahre einen zu laschen (schlechter Wortwitz, haha) Coronakurs und ihm fehle die Ernsthaftigkeit in Krisen (kurzer Moment der Unaufmerksamkeit, als er im Ahrtal lachte).

Und die Grünen haben sich mit Baerback selbst ein Bein gestellt. Die Medienkampagne des Springerverlags war absehbar.

Scholz’ Sieg war definitiv nicht erarbeitet, sondern eine soziale Medienkampagne von ganz links (gegen Laschet) und ganz rechts (gegen Baerbock). Gewonnen hat halt der, der am wenigsten Angriffsfläche bot. Er hat die Wahl halt ausgescholzt.

Und da redest du davon, man sollte öffentlich Fehler eingestehen.
Die Kampagne gegen Barbock beruhte auf Fehlern, auf die sie sofort öffentlich eingegangen ist, begründet hat und richtig gestellt hat. Blieb halt nur nichts daran hängen.
Wenn die folgende Bild-Kampagne mit einem „selbst schuld, war doch absehbar“ abgetan wird, dann würde so eine Fehlerkultur nur bedeuten, dass Fehler dann öffentlich gemacht werden dürfen, wenn die Bild das OK findet.

Du redest aber hier von Zustimmungswerten einzelner Politiker. Ich denke aber tatsächlich, dass viele die sowas beim einzelnen Politiker positiv sehen sich bei der Wahl der Partei dann durchaus auch von Kampagnen leiten lassen.

Wenn ich mir ansehe wie viele Leute die ich persönlich kenne bei jeder Meldung über eine Insolvenz was von den Grünen faseln, selbst wenn diese Firma in wenigen Jahren die vierte oder fünfte Insolvenz hinter sich hat und in der Region bekannt ist, dass massiv falsch gewirtschaftet wurde, dann bezweifle ich, dass in einer öffentlichen Aufarbeitung eine vernünftige Kommunikation möglich wäre.

Eine Aufarbeitung sollte in meinen Augen viel mehr in entsprechenden Fachbereichen erfolgen. Die Ergebnisse müssen dann natürlich am Ende öffentlich geteilt werden. Ein Hin und Her zwischen Parteien würde man somit aber zumindest auf einen limitierten Zeitpunkt beschränken.

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So richtig wahr ist das meiner Erinnerung nach aber nicht. Die Enthüllungen zum Lebenslauf kamen scheibchenweise weil Baerbock eben nicht(!) gleich zugegeben hat, dass sie sich da mit falschen Federn schmückt.

Außerdem sehe ich einen Unterschied zwischen falschen Entscheidungen im Amt und der bewussten Fehlinformation anderer. Lass uns das am Beispiel machen. Angenommen es stellt sich heraus, dass Masken überteuert oder von Bekannten des Ministers eingekauft wurden und der zuständige Minister nachvollziehbar erklärt warum er solche Verträge vollzog (Maskenmangel, Torschusspanik, die große Vertrauensbasis vom Vetter des Schwagers besser und zeitnah beliefert zu werden), dann ist das für mich akzeptabel. Es war dann halt eine Fehlentscheidung, die jeder im Job mal treffen kann.

Wenn jemand hingegen im Wahlkampf seinen Lebenslauf krass aufbauscht, um damit mehr Eindruck zu machen, dann sehe ich darin eine bewusste, boshafte Täuschung. Sowas ist aus meiner Sicht problematischer.

Nichtsdestotrotz, ich schrieb ja oben, dass wir eine andere Fehlerkultur benötigen. Wir können auch gern darüber reden, ob diese Lebenslaufmanipulationen eine problemlose Fehlentscheidung sein soll. Dann muss das aber auch für Manipulationen des politischen Gegners gelten.

Leider gilt das Prinzip „Aus Fehlern lernen“ hier nur begrenzt, fürchte ich. Man kann jetzt zwar einzeln analysieren, ob es im Fall von Corona falsch war, Kindergärten zu schließen oder gut war, Schwimmbäder zu schließen; ob Masken mehr gebracht haben als Desinfektion oder was weiß ich - aber eine zukünftige Pandemie mit einem ganz neuen Krankheitserreger läuft im Zweifel ganz anders ab. Und die Politik wird dann wieder schnell reagieren müssen und nicht abwarten können, bis alle denkbaren Erkenntnisse vorliegen.

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Dazu fehlt in Deutschland die nötige Fehlerkultur.
Also auch Fehler einzukalkulieren, um daraus zu lernen.
Speziell in der Politik scheint es eher nur die beiden Extreme „Absolut perfekt und rechtssicher“ oder „vorsätzlich böse und strafwürdig“ zu geben.

Es sind ja gerade diejenigen, die „Fehler einkalkulieren um daraus zu lernen“, die dann am stärksten geprügelt werden. Drosten wird selbst im Urlaub bedrängt; Streeck hingegen, dessen Heinsberg-Studie von einer PR Agentur auf Twitter begleitet wurde, hat das Problem nicht.

Wenn ich sehe, mit welcher Verbitterung die „Aufarbeiter“ auf jedem noch so kleinen Irrtum herumreiten, wird mir mulmig. Und die Fehler, über die geredet werden müsste, werden nicht diskutiert. Die werden wir also beim nächsten Mal wieder machen.

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Immerhin hat man aber zumindest Wissen über die sonstigen Auswirkungen diverser Maßnahmen sammeln können. Wenn man also jetzt z.B. weiß, wie groß die Auswirkungen von Schulschliessungen auf den Bildungsstand und die die Psychische Gesundheit sind, dann kennt man den Preis für diese Maßnahme.

Man kann aber zudem auch analysieren warum welche Maßnahmen welche negative Auswirkungen hatten und wie man diese negativen Auswirkungen minimieren könnte.

Solche tiefergehenden Analysen wird man aber nicht in einer Abrechnung im Bundestag machen können sondern ausschließlich in diversen Fachbereichen selbst, oftmals interdisziplinär.

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