Einordnung Prozess zu Lina E

Ich denke, dass jedwede Form physischer Auseinandersetzung in einer Demokratie fehl am Platze ist (analog zur Überwindung der Körperstrafen im Strafrecht). Der zivilisatorische Fortschritt dieser gesellschaftlichen Organisationsform liegt doch gerade darin, dass es nicht länger um das „Recht des Stärkeren“ geht, sondern um eine inhaltliche (letztendlich intellektuelle) Auseinandersetzung.

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Aber nicht für die Ohrfeige, sondern für das generelle Engagement der Eheleute Klarsfeld im Hinblick auf die Verfolgung von Nazi-Tätern.

Dass die Ohrfeige Klarsfelds ein Gesetzesbruch war, der auch bestraft werden musste, ist auch heute noch unbestritten. Das damalige Strafmaß wird dabei mit Recht kritisiert, heute würde man dafür wohl eine Geldstrafe im relativ niedrigen Bereich ansetzen und gut ist.

Und so muss es in einem Rechtstaat eben laufen: Ja, wir können Verständnis für Gewaltanwendung - oder im Fall Daschner sogar für Folterandrohung - aufbringen. Das können wir bei der Festlegung des Strafmaßes erheblich berücksichtigen. Aber es muss zumindest eine symbolische Strafe im Rahmen des zulässigen Strafmaßes verhängt werden.

Wie gesagt, das sind alles Beispiele dafür, dass wohlfeile Motive die Strafzumessung wesentlich reduzieren können, aber eben nicht die Strafbarkeit an sich negieren, daher: Es sind alles Fälle, die auf der Rechtsfolgenseite berücksichtigt werden, nicht auf der Tatbestandsseite.

@FieteWerner und @otzenpunk
Ihr habt absolut Recht, dass die Justiz oft eine Beißhemmung nach Rechts hat, die in dieser Form nach Links nicht besteht. Das will ich gar nicht bestreiten - wie gesagt, ich stimme völlig zu, dass die Justiz gerade gegen Rechts stärker vorgehen sollte. Aber das kann eben nicht zur Rechtfertigung genutzt werden, warum eine linke Gruppierung nicht bestraft werden sollte, wenn eindeutig bestrafungswürdige Taten vorliegen, was bei Lina E der Fall zu sein scheint.

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Mich würde hier auch eine Einordnung interessieren, auch Gedanken dazu, inwiefern Gewalt gegen Rechts praktisch präventiv gerechtfertigt sein könnte, wenn der Staat nicht ausreichend handelt. Also um Straftaten bspw. gegen Mitbürger mit Migrationsgeschichte zu verhindern.
Siehe dazu diesen Kommentar auf Instagram von der Journalistin und Autorin Mia Latkovic, die diesen Gedanken aufgreift:

https://www.instagram.com/p/Cs84GYeqJub/

Ich verstehe, wie man zu diesem Gedanken kommt, habe aber große Bauchschmerzen dabei (auch wenn es „die Richtigen“ trifft). Allein schon, weil man in viele Richtungen in der Form argumentieren könnte („Staat tut nichts, daher darf/muss ich…“)

Wie gesagt, das geht eigentlich nur im Rahmen des Widerstandsrechts, und das würde verlangen, dass die staatliche Ordnung quasi zusammengebrochen sei. Das ist eindeutig nicht der Fall.

Wie stark gegen rechtsextreme Gewalt vorgegangen wird, entscheiden Legislative (über die Gesetzgebung), Exekutive (über die Innenministerien und die tatsächliche Polizeiarbeit) und Judikative (über die Auslegung des Rechts und die Härte der Urteile) quasi zusammen.

Es wird immer Menschen geben, die nicht einverstanden sind mit den Wertungen staatlicher Stellen. Wenn wir aber einem Linken das Recht geben, wenn dieser mit den Wertungen nicht einverstanden ist, einen Rechten anzugreifen, müssen wir das auch für alle anderen Gruppen erlauben - und das führt offensichtlich zu Straßenkämpfen und totaler Anarchie.

Wenn uns nicht gefällt, wie Politik, Verwaltung und Rechtsprechung mit dem Thema Rechtsextremismus umgeht, können wir daraus nicht das Recht ableiten, mit Gewalt gegen Rechtsextreme vorzugehen, ebenso wie der Rechtsextreme, dem es nicht gefällt, wie Politik und Verwaltung mit ausreiseverpflichteten Migranten umgeht (daher nicht mit eiserner Hand alle abschiebt) nicht das Recht hat, auf Migrantenjagd zu gehen. Wir müssen dieses Problem im Rahmen der Demokratie lösen - und ja, ich weiß, dass das nicht wirklich schnell genug funktioniert, aber anders geht es in einer Demokratie nicht.

Wir kommen offensichtlich in Teufels Küche, wenn jeder, der mit einer Wertung von Politik und Verwaltung nicht zufrieden ist, ein Recht auf Selbstjustiz damit begründet. Das kann einfach unmöglich gut gehen.

—> Eine präventive Rechtfertigung von Gewalt kann daher unmöglich mit dem staatlichen Gewaltmonopol vereinbart werden.

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In der Laudatio der deutschen Botschafterin in Frankreich, Susanne Wasum-Rainer, in der deutschen Botschaft in Paris werden Beate und Serge Klarsfeld ganz explizit auch wegen der von mir geschilderten Aktionen ausgezeichnet. Ich zitiere nur mal eine dieser Stellen, verlinke aber das gesamte Dokument:

Liebe Beate, Sie haben - gemeinsam mit Ihrem Mann - die Aufarbeitung des nationalsozialistischen Unrechts in Deutschland, Frankreich, weltweit vorangetrieben. Sie haben dabei - immer in der Überzeugung von der moralischen Legitimität Ihres Handelns - auch gesellschaftliche und rechtliche Grenzen überschritten. In Erinnerung bleibt z. B. Ihre spektakuläre Auseinandersetzung mit Bundeskanzler Kiesinger.

Deine Frage, auf die ich geantwortet habe, lautete allerdings nicht, ob gute politische Gewalt straffrei bleiben sollte, sondern ob es ein Beispiel für sie gibt.

Aber das kann eben nicht zur Rechtfertigung genutzt werden, warum eine linke Gruppierung nicht bestraft werden sollte, wenn eindeutig bestrafungswürdige Taten vorliegen, was bei Lina E der Fall zu sein scheint.

Ich schreibe doch noch was dazu, weil ich da eine Unterstellung reinlese, die man auf Twitter etc. ständg liest und die ich explizit in meinen Kommentaren abgelehnt habe: Nein, die Kritik an (gefühlt) zu milden Urteilen für Rechtsextremisten ist keine Forderung nach milden Urteilen für linke Gewalttaten. Damit verbunden ist die Forderung, dass der Staat sein Gewaltmonopol ebenso konsequent auch gegen Rechte durchsetzt.

Denn das ist das, was ich in meiner Jugend in der ostdeutschen Provinz erlebt habe: Hetze auf nichtrechte Jugendliche, Gewaltexzesse bis zum Schädelbasisbruch und monatelangem Koma auf Linke. Lehrer haben jede Woche dabei zugesehen, wie Schüler von Nazis mit Stahlkappenschuhen auf dem Schulhof getreten wurden. Die Polizei hat nie etwas unternommen und deswegen ist auch irgendwann niemand zu denen hin. Wenn doch, standen die Nazis irgendwann vor der Tür oder haben dich auf dem Nachhauseweg abgepasst. Und wohlgemerkt, das passierte nicht nur Linken, sondern allen, auch Normalos wie mir, wenn die Nazis irgendeinen Grund fanden. Und weil der Staat den Nazis in diesen Gegenden nichts entgegensetzte, ging es immer weiter so. Die haben im Wald mit Schusswaffen geübt, wie man Menschen erschießt und jeder wusste es. Und ich erinnere mich nur an einen Fall, wo einer mal ins Gefängnis musste, nachdem er jemanden totgetreten hatte.

Deswegen die Forderung, dass der Staat sein Gewaltmonopol gegenüber allen konsequent durchsetzt. Das schützt alle, die nicht Nazis sind, und die vielleicht in Zukunft Opfer rechter Gewalttaten werden. Bei Linken Gewalttaten klappt es ja auch.

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Das scheint mir in der Tat der Punkt zu sein: Der Prozess gegen Lina E macht deutlich, dass der Staat gegenüber gewaltbereiten Extremismus durchaus handlungsfähig ist. Umso mehr können wir nun aber erwarten, dass der Staat – namentlich der Freistaat Sachsen - nun auch gegen Faschisten vorgeht und nicht nur bzw. überwiegend gegen Antifaschisten.

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Ich glaube, dem stimmen wir hier wirklich alle zu. Hoffe ich zumindest ^^

Okay, dann würde ich die Ohrfeige gelten lassen.
Hier muss natürlich auch das Ausmaß der Gewalt mit dem zu erreichenden Ziel abgewogen werden. Eine Ohrfeige ist im Hinblick auf Gewalttaten wohl noch eine der mildesten Formen der physischen Gewalt. Diese kann moralisch gerechtfertigt sein, wenn man damit öffentlichkeitswirksam die mangelnde Aufarbeitung des NS-Unrechts angreift.

Das ist letztlich immer die Abwägung, die wir machen müssen. In einem Unrechtsstaat (z.B. in der Diktatur des Dritten Reiches) wären auch erhebliche politische Gewalttaten moralisch zu rechtfertigen, bis hin zu Tötungsdelikten (z.B. Sprengstoffanschläge auf Gestapo- oder SS-Einrichtungen oder gewaltsame Gefangenenbefreiungen). Aber wir leben halt nicht in einem Unrechtsstaat, daher ist eine Ohrfeige wohl schon das absolute Obermaß, was man moralisch noch als „gute politische Gewalt“ akzeptieren kann.