Digitales Dublin statt politischer Rechtsbruch? Vorschlag für datenbasierte Migrationsinfrastruktur

Liebes Lage-der-Nation-Team, Liebe Community,

in Folge 434 der Lage wurde unter anderem die Problematik von Zurückweisungen an der Grenze trotz gegenteiliger Gerichtsurteile diskutiert. Diese Debatte hat erneut verdeutlicht, wie groß die Diskrepanz zwischen geltendem Recht und gelebter Verwaltungspraxis in der europäischen Asylpolitik oft ist. Anstatt die bestehenden rechtlichen Verfahren wie etwa das Dublin-III-Verfahren konsequent und menschenwürdig umzusetzen, wird teils mit rechtlich fragwürdigen Notlösungen gearbeitet. Aus meiner Sicht muss das nicht so sein.

Ich heiße Daniel Maria M. und beschäftige mich beruflich wie privat intensiv mit digitaler Migrationsinfrastruktur. Meine Motivation ist klar: der Schutz besonders vulnerabler Gruppen und die effektive Umsetzung der Rechtsnormen, die bereits bestehen. Gerade in der aktuellen Asyldebatte beobachte ich einen eklatanten Widerspruch zwischen Rechtslage und Praxis. Bestehende Regeln wie Dublin III sollen eigentlich für faire Zuständigkeitsverteilung und zügige Verfahren sorgen, doch in der Realität klafft hier eine große Lücke. Ich bin überzeugt, dass wir mit vorhandener Technik diese Lücke schließen können, ohne neue Gesetze erfinden zu müssen. Es geht darum, das geltende Recht endlich wirksam umzusetzen und dabei die Humanität nicht aus dem Blick zu verlieren.

Die Dublin-III-Verordnung ist Teil des gemeinsamen EU-Asylsystems und legt klar fest, welcher Mitgliedstaat für einen Asylsuchenden zuständig ist. Theoretisch sollen damit zügige Verfahren und Vermeidung von Mehrfachprüfungen gewährleistet werden. In der Praxis funktioniert das allerdings kaum. Eine aktuelle Auswertung von ECRE zeigt etwa, dass im Jahr 2022 nur etwa 8 Prozent aller Dublin-Anfragen tatsächlich in einer Überstellung endeten, für Deutschland lag die Quote sogar nur bei circa 6 Prozent. Anders gesagt: Das Dublin-System erreicht sein Ziel, Schutzsuchende dem zuständigen Staat zuzuführen, nur in einem Bruchteil der Fälle. Gleichzeitig werden die Möglichkeiten zum Schutz vulnerabler Personen, zum Beispiel die eigentlich priorisierten Familienzusammenführungs-Regeln, nahezu gar nicht genutzt. Lediglich circa 2 Prozent der Dublin-Gesuche beziehen sich auf Familiennachzug. Diese Zahlen machen deutlich, dass zwischen dem rechtlichen Anspruch und der Wirklichkeit eine gewaltige Lücke besteht.

Die Folgen dieses Auseinanderklaffens sind gravierend. Menschen verbringen teils viele Monate im Ungewissen, während ihre Verfahren zwischen den Staaten hängen. Man spricht nicht umsonst vom Dublin-Limbo. Trotz der geringen Erfolgsquote investieren Behörden enorm viel Zeit und Ressourcen in diese bürokratischen Hin-und-Her-Verfahren, was sowohl die Verwaltung belastet als auch die Antragstellenden zermürbt. Viele Asylsuchende versuchen verständlicherweise, das dysfunktionale System zu umgehen, etwa indem sie eine Registrierung im Erstankunftsland vermeiden oder eigenständig in ein anderes EU-Land weiterreisen. Auf staatlicher Seite wiederum wird aus Frust über die ineffizienten Abläufe mitunter zu rechtlich bedenklichen Mitteln gegriffen, Stichwort Zurückweisungen an der Grenze trotz Gerichtsbeschlüssen. Bezeichnend ist auch, dass Gerichte in Europa regelmäßig Dublin-Überstellungen stoppen, wenn im Zielstaat menschenunwürdige Bedingungen für Schutzsuchende drohen. All das offenbart einen eklatanten Widerspruch zwischen dem, was rechtlich vorgesehen ist, und dem, was tatsächlich passiert.

Dabei gibt es einen konstruktiven Ausweg aus diesem Dilemma. Meiner Ansicht nach liegt der Schlüssel in einer menschenrechtskonformen, datenbasierten Migrationsinfrastruktur, mit der sich das Dublin-III-Verfahren technisch sauber und effizient umsetzen ließe. Wir verfügen heute über die technologischen Mittel, um die Asylkoordination europaweit so zu gestalten, dass sowohl die rechtlichen Vorgaben eingehalten werden als auch die Humanität gewahrt bleibt. Es geht also darum, vorhandene Digital-Technologie gezielt einzusetzen, um Dublin III praktisch zum Leben zu erwecken, anstatt es zu umgehen.

Wie könnte so etwas aussehen? Stellen wir uns ein digitales System vor, in dem alle relevanten Behörden der EU-Mitgliedstaaten vernetzt sind. Asylanträge, Fingerabdrücke und andere notwendige Informationen würden sicher und in Echtzeit ausgetauscht. Wenn eine Person Schutz sucht, würden ihre Daten sofort erfasst und geprüft, zum Beispiel ob bereits in einem anderen Land ein Antrag gestellt wurde oder ob Familienangehörige irgendwo in der EU registriert sind. Moderne Datenbanken und Schnittstellen könnten solche Abgleiche in Sekunden durchführen, viel schneller und zuverlässiger als die bislang oft papierbasierten oder isolierten Abläufe zwischen nationalen Behörden. Die Technik dafür ist verfügbar. Sichere Cloud-Infrastrukturen, interoperable Datenformate und eindeutige digitale Identifikatoren für Antragstellende sind längst Stand der Technik in anderen Bereichen und ließen sich hier übertragen.

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Ein solches System könnte auch gewährleisten, dass die im Dublin-Verfahren vorgesehenen humanitären Kriterien tatsächlich berücksichtigt werden. Derzeit sollten laut Dublin-III-Verordnung eigentlich Aspekte wie Familienunity und das Wohl von Kindern an oberster Stelle stehen, faktisch findet das kaum statt. In einer digital gestützten Lösung würde beispielsweise beim Treffer „unbegleiteter Minderjähriger“ sofort ein Abgleich erfolgen, ob Verwandte in einem anderen EU-Land bekannt sind, und automatisch ein Verfahren zur Familienzusammenführung eingeleitet. Ähnliches gilt für andere vulnerable Gruppen. Besondere Schutzbedürfnisse, etwa medizinische Fälle, Traumatisierte oder Schwangere, könnten direkt bei der Registrierung erfasst und im System markiert werden. So würde bei der Zuständigkeitsklärung immer ein menschenrechtlicher Filter mitlaufen, der verhindert, dass jemand in ein Land überstellt wird, wo seine Würde oder Versorgung nicht sichergestellt ist. In den bestehenden Dublin-Regularien gibt es hierfür Ermessensspielräume, Stichwort humanitäre Klausel, die digital viel konsequenter und transparenter genutzt werden könnten, um Härten zu vermeiden.

Wichtig ist mir: All das lässt sich technisch umsetzen, ohne Datenschutz oder Persönlichkeitsrechte zu verletzen. Eine menschenrechtskonforme Migrations-IT würde strenge Zugriffsbeschränkungen und Verschlüsselung vorsehen, sodass nur berechtigte Stellen auf die jeweils nötigen Informationen zugreifen. Es ginge nicht darum, flächendeckend gläserne Menschen zu schaffen. Im Gegenteil, durch zielgerichteten Datenaustausch ließen sich sogar Doppelbefragungen und unnötige Datensammlungen vermeiden. Die Datenhoheit der Schutzsuchenden und die Zweckbindung der Informationen würden selbstverständlich Beachtung finden. Kurz: Man kann ein solches System so bauen, dass es effizient und grundrechtskonform ist.

Die Vorteile liegen auf der Hand. Verfahren würden beschleunigt, Mehrfacharbeiten vermieden und Fehlentscheidungen reduziert. Vor allem aber kämen wir dem Ziel näher, Schutzsuchende gemäß geltendem Recht fair zu verteilen, ohne dass diese monatelang im Schwebezustand bleiben oder unrechtmäßig abgewiesen werden. Ein funktionierendes Dublin-System würde den aktuellen Druck herausnehmen, sowohl für die Geflüchteten als auch für die Staaten. Wenn alle Beteiligten wüssten, dass das Verfahren zügig, transparent und gerecht abläuft, sinkt der Anreiz, sich dem Prozess zu entziehen. Schutzsuchende hätten weniger Grund, aus Angst vor einer Sackgasse weiterzureisen oder zu tauchen. Gleichzeitig würde der politische Ruf nach drastischen Maßnahmen wie pauschalen Zurückweisungen leiser, weil der rechtmäßige Weg ja tatsächlich Ergebnisse liefert. Kurz gesagt: Eine technische Modernisierung könnte helfen, den Teufelskreis aus Ineffizienz und Rechtsbruch zu durchbrechen, indem sie Lösungskompetenz demonstriert.

Erfreulicherweise zeichnet sich ab, dass die Bedeutung digitaler Lösungen erkannt wird. Bundeskanzler Scholz hatte selbst noch betont, wie unverzichtbar moderne Digitalisierung und sogar KI-Unterstützung sind, um Asylverfahren zu beschleunigen. Bund, Länder und Kommunen haben sich etwa darauf verständigt, alle 633 Ausländerbehörden in Deutschland digital zu vernetzen, sodass ein erstklassiger, schneller Datenaustausch stattfinden kann, ganz ohne Aktenberge und Faxgeräte. Diese Fortschritte zeigen: Wir haben sowohl die Expertise als auch zunehmend den politischen Willen, die Verwaltung zu modernisieren. Dieses Momentum sollten wir nutzen, um vor allem auch die europäische Zusammenarbeit im Dublin-Verfahren auf den neuesten Stand zu bringen. Wenn Deutschland und andere Mitgliedstaaten ihre Prozesse digital transformieren, darf das grenzüberschreitende nicht haltmachen. Asyl kennt nun mal keine rein nationalen Grenzen, und unsere Lösungen sollten dies widerspiegeln.

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Ich bin grundsätzlich ein Freund davon, Realitäten nicht nur zu analysieren, sondern aktiv an ihrer Veränderung mitzuwirken. Daher würde ich mich freuen, im Rahmen eines weiterführenden Austauschs auch unseren Lösungsansatz und die digitalen Tools vorzustellen, an denen wir derzeit konkret arbeiten, um eine menschennahe Plattform für alle Beteiligten möglich zu machen.
Denn genau hier liegt aus meiner Sicht ein entscheidender Hebel: Die Diskussion um Migration verharrt allzu oft im Modus der Problembenennung oder Abwehr, anstatt praktikable Wege zur Umsetzung geltenden Rechts in den Mittelpunkt zu rücken. Dabei liegt vieles längst auf dem Tisch. Wir haben mit Dublin III einen rechtlichen Rahmen, der, wenn man ihn konsequent und human umsetzt, viele der aktuellen Spannungen entschärfen könnte. Statt dieses Regelwerk zu ignorieren oder auszuhöhlen, sollten wir es durch zeitgemäße Infrastruktur endlich zur Wirkung bringen. Aus meiner fachlichen Erfahrung in der IT-Konzeption solcher Systeme kann ich versichern, dass es nicht an der technischen Machbarkeit scheitert.

Ich würde mich freuen, wenn dieses Thema auf Interesse stößt, vielleicht ja sogar beim Lage-Team selbst. Eine tiefergehende Auseinandersetzung damit, sei es in einer kommenden Folge oder anderweitig, hätte aus meiner Sicht großes Potenzial, die festgefahrene Migrationsdebatte konstruktiv zu bereichern. Es würde mich nicht überraschen, wenn auch politisch-administrative Entscheiderinnen und Entscheider an datenbasierten Lösungsansätzen Interesse zeigen, sobald klar wird, dass hier echte Verbesserungen möglich sind. In jedem Fall stehe ich gerne bereit, um weiter ins Detail zu gehen, Hinweise zu liefern oder mich an einer Vertiefung des Themas zu beteiligen.

Für einen weiterführenden Austausch stehe ich jederzeit gerne per PN zur Verfügung.

Viele Grüße
Daniel Maria

Hallo @DanielMaria , wie viel von dem, was Du vorschlägst, wird eigentlich mit der Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) umgesetzt?

Danach werden, nach meinem Verständnis, ankommende Asylsuchende zukünftig systematisch an den Außengrenzen registriert, inklusive Aufnahme biometrischer Daten (Fingerabdrücke, Fotos), Gesundheits- und Sicherheitschecks. Die bisherige Dublin-Verordnung, nach der meist das Erstankunftsland für das Asylverfahren zuständig war, wird reformiert, um Verfahren zu beschleunigen und irreguläre Sekundärmigration zu reduzieren.

Eine Quotenregelung legt fest, wie viele Schutzsuchende jedes Land aufnehmen soll. Mitgliedstaaten, die keine oder weniger Geflüchtete aufnehmen wollen, müssen stattdessen Sachleistungen erbringen oder pro nicht aufgenommenen Geflüchteten 20.000 Euro zahlen.

Die Reform tritt im Juni 2026 vollständig in Kraft. Bis dahin müssen die Mitgliedstaaten die neuen Regeln in nationales Recht umsetzen und die nötige Infrastruktur schaffen

Das sind nur einige Punkte der Reform. Andere sind verpflichtende Schnellverfahren an den Außengrenzen, Einführung gemeinsamer Standards und eine einheitliche Liste sicherer Herkunftsstaaten.

Ziel ist es, Asylverfahren effizienter, einheitlicher und gerechter zu gestalten, eine gerechtere Lastenverteilung in der EU, Entlastung der Hauptankunftsländer.

Es ergibt keinen Sinn, die Zuständigkeit für das Verfahren digital effektiver zu gestalten. Da machen die Außengrenzenländer niemals mit.

Da fehlt etwas. Worin soll in deinem Vorschlag eine Lösung liegen?

Wo bleibt die gerechte Verteilung, um Länder wie Italien oder Griechenland zu entlasten und zu motivieren, ordnungsgemäß zu registrieren und nicht gezielt schlecht zu behandeln, damit Schutzsuchende ohne Registrierung weiterziehen?


Was GEAS bringt – Und was noch fehlt

Die Reform führt mehr Datenerfassung (Eurodac 2.0), verpflichtende Grenzscreenings und einen Solidaritätsmechanismus mit Relocation oder Kompensationszahlungen ein. Drei operative Lücken bleiben offen:

  • Eurodac speichert Biometrie, liefert aber keine Fallakte, mit der zwei Staaten denselben Antrag gemeinsam bearbeiten.
  • Quoten greifen nur, wenn Fallzahlen und Vulnerabilitäten tagesaktuell und verifizierbar vorliegen. Ohne gemeinsame Fallplattform kann niemand belastbar nachweisen, ob er seine Quote erfüllt oder blockiert.
  • Schnellverfahren an der Grenze helfen erst dann, wenn ihre Ergebnisse nahtlos in das Asylverfahren eines zweiten Staates übergehen. Heute endet der Datensatz oft an der Landesgrenze.

Genau hier setzt unsere Arbeit an. Wir konzipieren eine Infrastruktur, die

  • Screening-, Registrierungs- und Familieninformationen in Echtzeit bündelt
  • automatisch Schutzbedarfe markiert und Fristen überwacht
  • Relocation-Kapazitäten so abbildet, dass sie ab Tag 1 sichtbar sind

Damit würde GEAS von der Verordnung zur belastbaren Pipeline.


Warum Außengrenzenländer trotzdem kooperieren könnten

  1. Messbarkeit schafft Druck
    Wer nicht registriert, wird erstmals quantitativ belegt. Das ermöglicht automatische Ausgleichsmechanismen und EU-Haushaltskonditionalität auf belastbarer Grundlage.

  2. Weniger Doppelarbeit
    Eine einheitliche Plattform reduziert Mehrfachmeldungen an Eurodac, Frontex, EASO und nationale Systeme. Grenzbehörden hätten einen Prozess statt vier Schnittstellen.

  3. Planbare Relocation
    Wenn freie Plätze in anderen Mitgliedstaaten gleich zu Beginn sichtbar sind, steigen die Chancen, dass Fälle tatsächlich überstellt werden, statt monatelang in Lagern zu verbleiben.

Wir arbeiten aktuell intern an Datenmodellen, Datenschutzarchitektur und möglichen Schnittstellenanbindungen. Rückmeldungen zeigen, dass vor allem die Nachvollziehbarkeit, wer hat was wann erfasst, politisch anschlussfähig ist. Das System wäre kein Allheilmittel, aber die Grundlage, um die politischen Teile der GEAS-Reform belastbar umzusetzen.


Fazit

GEAS liefert neue Regeln, aber bisher keine durchgängige Infrastruktur. Ohne belastbare Echtzeitdaten bleiben Quoten, Zahlungen und Schnellverfahren politisch angreifbar. Eine neutrale Plattform, die Fälle, Fristen und Schutzbedarfe lückenlos abbildet, ist daher kein Selbstzweck, sondern Voraussetzung für jede verbindliche Reform.

Viele Grüße
Daniel Maria

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Eines würde europäische Vernetzung auf jeden Fall bringen: weniger Doppelerfassungen und vollständige Zahlen der in Europa erfassten Flüchtlinge.
Damit würde die Diskussion viel faktenbasierender geführt als jetzt. Eine Notlage, wie sie die Union jetzt konstruiert, wäre dann nur schwer möglich, da ja jeder schwarz auf weiß hat, von wie viel Flüchtlingen in Deutschland wir überhaupt reden.

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