Der Göttinger Radentscheid als Lehrstunde für Demokratie

Am Sonntag machen die Bürger*innen im beschaulichen Göttingen nicht nur für die Europawahl, sondern auch für zwei Bürgerentscheide zum Thema Radverkehr ihre Kreuze.

Im Vorfeld des Bürgerentscheids ist es grade in den letzten Wochen zu spannenden Debatten und auch ein paar peinlichen Pannen gekommen, an denen man einiges über direkte Demokratie lernen kann. Dass es überhaupt zu dieser Debatte kommt und das Bürgerbegehren nun zu einer tatsächlichen und konkreten Mitbestimmungsmöglichkeit für die Göttingerinnen führt, sehe ich trotz des Durcheinanders, dass hier in den letzten Wochen herrscht, aber bereits als ein Positivbeispiel für die Handlungsspielräume desder Einzelnen an!

Die Initiative und das Bürgerbegehren:

Die Initiative GöttingenZero schlägt in zwei unterschiedlich weitreichenden Konzepten umfassende Änderungen in der städtischen Verkehrsplanung vor, die den Radverkehr sicherer und attraktiver machen sollen (https://radentscheid-goe.de/). Damit reagieren sie auf eine Unzufriedenheit vieler Radfahrer*innen mit der aktuellen Verkehrsplanung. (Zum Gesamtbild gehört jedoch auch, dass Göttingen als Fahrradstadt bereits über einige tolle Fahrradstraßen verfügt - Sicherheitsprobleme gibt es jedoch vor allem im Zusammenspiel mit dem Autoverkehr)

In einem ersten Schritt haben viele Freiwillige im letzten Jahr die für das Begehren nötigen Unterschriften (Klimaschützer überreicht Unterschriften an Oberbürgermeisterin) für beide Bürgerbegehren gesammelt. Weil das Quorum erreicht wurde, gibt es für die Göttinger*innen am Sonntag nun zwei weitere Wahlzettel zur Abstimmung. Wenn die Entscheide angenommen werden, muss die Stadt diese umsetzen. So würden bis 2030 25 Mio € in die Maßnahmen investiert werden.

Die beiden Vorschläge reichen unterschiedlich weit, sehen im Kern aber folgende Maßnahmen vor: Trennung von Rad und Auto auf stark befahrenen Straßen (dazu gehören mehrere Hauptverkehrsstraßen), Protected Bike Lanes, Einbahnstraßen-Systeme und die attraktive Gestaltung von Fahrradstraßen. An sich total toll, dass die Göttinger Bürger*innen über diese Vorschläge jetzt abstimmen dürfen.

Die Maßnahmen werden heiß diskutiert. Kritik gibt es vor allem an den hohen Kosten uns an den Auswirkungen der Maßnahmen auf den Bus- und Autoverkehr. Auch, dass man mit nur Ja oder Nein zu allen aufgeführten Maßnahmen abstimmen kann, wird kritisiert. Allerings hätte es in den letzten 12+ Monaten auch ausreichend Möglichkeiten gegeben, über die vorgeschlagenen Maßnahmen ins Gespräch zu kommen.

Die Debatte und die Pannen

Die SPD geführte Göttinger Stadtverwaltung hat sich in den vergangenen Wochen m.e. nicht mit Ruhm bekleckert. Die lokalen Parteien streiten mit teils fragwürdigen Argumenten um die Radentscheide und offenbaren dabei meiner Meinung nach ein in teilen problematisches Demokratieverständnis. Hier ein paar Schlaglichter aus der Debatte:

Rechenfehler der Verwaltung:

Stadt verbietet Plakatierung auf öffentlichen Flächen

  • Die Initiative ist m.e. aber kreativ und stark organisiert. Dank diverser Plakatpatenschaften auf Privatgrundstücken sieht man nun trotzdem in der ganzen Stadt Werbung

Fehlerhafte Zahlen auf dem Wahlzettel:

Kommunalaufsicht empfiehlt Aufschub der Wahl - Stadt zieht trotzdem durch

SPD und CDU mobilisieren mit fragwürdigen Argumenten gegen die Radentscheide

  • Auf Flyern mobilisieren SPD und CDU nun gegen den Radentscheid. Neben berechtigter und konstruktiver Kritik suggerieren sie dabei aber auch immer wieder, dass das Geld für die Maßnahmen dann bei anderen sozialen Projekten oder bei Sportvereinen fehlen würde. Anstatt sich in den letzten 12 Monaten zu möglichen Förderungen schlau zu machen, spielen sie nun die relevanten und berechtigten Interessen der Bürger*innen gegeneinander aus. Hierzu als Beispiel das Wording der SPD: Position der SPD zu den Bürgerentscheiden am 9. Juni 2024 – SPD Göttingen

Gegendarstellung der Initiator*innen (ganz untern auf der Seite): https://radentscheid-goe.de/#/#aktuelle-themen

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Hallo

Ich wollte nur kurz auf den Radentscheid in Göttingen aufmerksam machen.

Bei der Europawahl wird in Göttingen zusätzlich ein Bürgerentscheid zum Thema „Rad-/Klimafreundlicher Infrastrukturumbau“ stattfinden.
Gegen diesen Bürgerentscheid wird seit Monaten von der Verwaltung, Parteien (z.B. SPD) und der Presse (z.B. Göttinger Tageblatt) und Sportvereinen die ihre Subventionen in Gefahr sehen Stimmung gemacht. Ob zurecht oder nicht ist für mich schwer zu beurteilen. Daher wird aber vermutlich weiterhin der PKW-Verkehr subventioniert werden und nicht der Radverkehr. Angeblich wurde die für das gesamte Radprojekt geforderte Geldsumme in gleicher Höhe für ein PKW Projekt vor nicht allzu langer Zeit ohne großes Aufsehen bewilligt (Hörensagen)

Vielleicht ist das ja für euch wegen des Klimathemas und vielleicht dem Thema Bürgerentscheid über den ich selbst auch viel zu schlecht informiert bin (wie läuft er ab? wie bindend ist er? Kann er später noch gekippt werden? Wie kann die Bürgerinitiative vorgehen wenn - wie in diesem Fall - falsche Kosten durch die Stadt in Umlauf gebracht und die Menschen somit verunsichert werden? Wurde dann mittlerweile zumindest korrigiert)

Falls das spannend klingt:

Ich habe selbst keinerlei Verbindung mit dem Radentscheid ausser, dass ich auf der Straße die Unterschrift gegeben habe als die Unterschriften dafür gesammelt wurden.

Was ich einschätzen kann, ist das der PKW Verkehr durch die Maßnahmen deutlich belastet würde. Eine Haupteinfahrstrasse in die Stadt würde zur Einbahnstraße Richtung „nach draußen“ und die schon heute sehr langen Staus würden sich auf der ausweichroute intensivieren.
Aber vielleicht bekommt man ja so die Leute dazu mehr Rad zu fahren. Wobei ich schon heute morgens mit dem Rad viel schnelleren der Stadt bin als mit dem Auto.

Ich kenne jetzt die konkrete Planung/ Ausgangslage für Göttingen nicht, aber ein Fehler der meines Erachtens (sowohl als Auto- auch als Fahrradfahrer) immer wieder gemacht wird, ist, dass man ausgerechnet die Verkehrsadern beschneidet, über die ein Großteil des Automobilverkehrs abgewickelt wird und dabei krampfhaft versucht alle Verkehrsarten auf einer Straße zusammenzuführen.
In meiner Stadt wurde beispielsweise eine der zentralen Zuwege aus dem Umland einspurig gemacht. Die freie Spur sollten sich dann Fahrräder und Busse teilen. Konsequenz waren massive Staus, da es keine Ausweichrouten gab. Die Fahrradspuren blieben übrigens auch weitgehend leer, denn wer möchte schon neben einer Blechlawine mit dem Bus im Rücken radeln. Nach einigen Monaten wurde die Fahrradspur dann von der neuen Regierung (richtigerweise) wieder zurückgebaut.

Statt zu versuchen alle Verkehrsarten zusammenzuführen (u.a. Tempo 30, Spurverengung etc.), wäre es aus meiner Sicht sinnvoller die Verkehrswege klar zu trennen. Die bestehenden Hauptverkehrsadern würde ich dann z.B. dem Auto überlassen, in den Nebenstraßen ein Fahrradstraßennetz aufbauen, das für den normalen Autoverkehr gesperrt ist und nur von Anwohnern angefahren werden darf. Das wäre für mich als Radfahrer viel angenehmer.

Statt ein solches Nebeneinander zu ermöglichen, versuchen viele Initiativen leider viel zu oft die unterschiedlichen Verkehrsarten gegeneinander auszuspielen und am Ende sind weder Auto- noch Fahrradfahrer wirklich zufrieden. Finde ich persönlich sehr schade. Hier sollte viel mehr versucht ein Win-Win Situation zu schaffen.

Offensichtlich sind wir eine Nation aus Auto- bzw. Fahrradhassern. :wink:

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Update: Der Radentscheid I hat die nötige Mehrheit erreicht. Die Maßnahmen müssen nun von der Stadtverwaltung umgesetzt werden. Der weiterführende Radentscheid II erhielt keine Mehrheit.