Das neue Kabinett und Repräsentation

In der Folge wurde ja gefragt, ob es jetzt die „Besten der Besten der Besten“ sind, die jetzt Minister geworden sind. Ich möchte dieses Kriterium hier mal hinterfragen. Dass Fachwissen und einigermaßen fortschrittliche politische Haltungen wichtig sind, steht außer Frage. Aber ich denke nicht, dass ein Kabinett nach den gleichen Kriterien bewertet werden sollte wie, etwas salopp gesagt, ein Schichtleiter im VW-Werk.

Neben fachkundig das Land zu gestalten sollte die Bundesregierung auch die Menschen in diesem Land repräsentieren bzw. die Bürger sollten sich durch sie repräsentiert fühlen. Das geht aber nicht, wenn man große Gruppen ausschließt. Nach 70 Jahren Migrationsgeschichte und 30 Jahren Wiedervereinigung sind Personen mit Migrationshintergrund (ca. 26 Prozent der Bevölkerung) oder Ostsozialisierte (ca. 20 Prozent) im Kabinett aber kaum präsent.

Und ich denke, das ist ein Problem. Es betrifft ja auch nicht nur die Politik. Auf Bundesebene sind Spitzenpositionen in Wirtschaft, Justiz, Medien, etc. nur zu 1,7% mit Ostdeutschen besetzt. Bei Menschen mit Migrationshintergrund sieht es kaum besser aus. Diese Gruppen sind systematisch in den wichtigen gesellschaftlichen Bereichen wie Medien, Politik, Wissenschaft, Justiz, Polizei, etc. nicht vertreten und werden daher nicht gehört. Dass heißt auch, dass sie kaum Einfluss auf Debatten und Entscheidungen nehmen können.

Ich denke, wenn unser Kabinett hauptsächlich weiße westdeutsche Männer und, immerhin, jetzt auch weiße westdeutsche Frauen repräsentiert, dann wird hier wieder einmal eine Chance vergeben. Man hätte einem großen Teil der Bevölkerung zeigen können, dass auch sie Gehör finden. Dass sie auch die Chance haben, in wichtige Posten aufzusteigen. Dass Politik auch für sie gemacht wird. Aber so werden sich viele wieder einmal bestätigt fühlen, dass das nicht „ihr“ Staat und „ihre“ Regierung ist. Dass „die da oben“ eh machen, was sie wollen. Das ist der Nährboden, auf dem Demokratieverdrossenheit entsteht, und Parteien wie die AfD stoßen jetzt schon in diese Lücke.

Daher: ich hätte mir ein repräsentativeres Kabinett gewünscht.

Das VW-Werk ist ein eher schlechtes Beispiel: Dort zeigt der Konflikt von Herbert Diess mit dem Betriebsrat dass eben nicht die Besten der Besten angestellt wurden, sonst wäre VW in der Produktivität nicht so wenig konkurrenzfähig.

Grundsätzlich bin ich bei deinem Wunsch nach mehr Repräsentanz voll bei dir, würde aber gerne nur die WählerInnen und nicht die BürgerInnen repräsentiert sehen. Sonst stellt sich schnell die Frage welches Ministerium durch die etwa 10% unter-10-Jährigen geführt werden solle.

So komisch, dass so wenig Ostdeutsche in der Spitzenpolitik sichtbar sind. Ich versteh einfach nicht, warum… :thinking:

Vielleicht, weil dieses Personal sich über Parteien rekrutiert, und Ostdeutsche einfach viel weniger in Parteien (insbesondere mit Regierungsoption, nicht AfD) aktiv sind?

Davon abgesehen war jetzt ziemlich genau die Hälfte der Zeitspanne seit der Wiedervereinigung eine ostdeutsche Frau Bundeskanzlerin, obwohl ostdeutsche Frauen nur ca. 10% der Bevölkerung stellen. Was auch immer das zu bedeuten haben mag.

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Ich fand die Bewertung von Frau Lambrecht ziemlich daneben. Ihr die Eignung abzusprechen, ohne dafür Beispiele zu nennen und sich irgendwie auf nicht näher genannte Stimmen aus dem Ministerium zu beziehen, ist kein guter Journalismus.

Wäre interessant gewesen genau die Hintergründe zu beleuchten, bevor man ihr die Eignung so wehement abspricht.

Wir können nicht in jedem Fall unsere Quellen nennen, also hier zB nicht die konkreten Personen bzw. Vorgänge, die illustrieren, warum die Menschen im BMJV so genervt sind von ihrer Inkompetenz.

Aber Lambrechts Bilanz spricht ja für sich: Sie hat seit Übernahme des BMJV 2019 eigentlich gar nichts geschafft - abgesehen davon, eine Reihe von verdienten SPD-Leuten befördern zu lassen:

  • Reform des Abstammungsrechts? Vertagt
  • Kampf gegen Hass im Netz? Reine Symbolpolitik
  • Reform der StPO? Vertagt
  • Reform des sozialen Mietrechts? Fehlanzeige
  • Einführung des besonderen elektronischen Anwaltspostfachs? komplett vor die Wand gefahren, derzeit ist das beA wegen Sicherheitslücken mal wieder offline

Noch Fragen? Ich nicht.

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Ich hätte mir auch ein repräsentiveres Kabinett gewünscht (v.a. hinsichtlich Migrationshintergrund, Hautfarbe und Bildungsabschluss - ist jemand ohne Diplom dabei?).

Ich fand es nach erster Enttäuschung aber irgendwie dann ein gutes Zeichen, weil man sich wohl eher pragmatisch mal auf Ergebnisse und Fortschritt konzentriert und nicht in zu vielen Debatten verzettelt.

Für mich - easy zu sagen, als middle ages white dude - ist das Wichtigste, dass endlich dieser Fortschrittspropfen gelöst wird und wir endlich beim Thema Klima, Bürgerrechte und Digitales mal Konkretes erleben.

Als ich vor Corona in anderen europäischen Ländern war (nenne mal bewusst nicht welche), war ich schockiert und habe mich geschämt, wie langsam wir in Deutschland sind (beim Klima, bei den Bürgerrechten und im Internet).

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Lambrechts Ministerium hat die Verschärfung des Mordparagraphen nicht verhindert…

was genau ist denn da verschärft worden? Meinst du die Änderung der StPO zu den Wiederaufnahmen?

Wenn du darauf anspielst - das ist für Lambrecht-Verhältnisse noch eine relative Erfolgsgeschichte: Das BMJV hat an dieser Änderung die Mitwirkung verweigert, weil man sie für verfassungswidrig hielt. Allerdings hat Lambrecht für diese fachliche Position ihres Hauses so engagiert gekämpft, dass ein paar Abgeordnete einen Entwurf gebastelt haben, den die Groko dann trotz der Kritik des BMJV beschloss.

Yes die Wiederaufnahme. Die Verweigerung ist mir bekannt. Allerdings sollte das zuständige Ministerium dazu in der Lage sein derartige Gesetztesbemühungen zu verhindern. Letztlich wirft es kein gutes Licht auf den Einfluss den sie innerhalb der Fraktion hat. Würde fast sagen der politische Einfluss als Ministerin ist zentraler als die fachliche Expertise.

Ich würde sagen, Angela Merkel war zur Anfang ihrer Laufbahn, als Kohl sie gefördert hat, noch eher Quoten-Frau und Quoten-Ossi in einem. Das sie es dann so weit gebracht hat, ist da natürlich schon ein gewisser Treppenwitz der Geschichte, wobei ich denke, das Frau Merkel da auch selbst durchaus clever gewesen ist, wie man ihre spätere Regierungsarbeit auch immer finden mag.

Aber da ist sie eben die große Ausnahme. Die Realität sieht ja eher so aus, dass nach der Wende haufenweise Politiker aus der „2.Reihe“ in den Osten gekommen sind, die dort Ämter bekamen auf die sie in den alten Bundesländern kaum Chancen gehabt hätten.

Man kann das natürlich ein Stück weit mit fehlender politischer Erfahrung der Ossis erklären. Aber hier hätte man eben mehr ostdeutsche Politiker fördern müssen anstatt den Osten als Versorgungswerk für weniger erfolgreiche Westpolitiker zu nutzen.

Und das Ergebnis davon ist, dass es eben bis heute an ostdeutschem Politik-Personal mit ausreichender Parteipoltischer Laufbahn und Ämter-Erfahrung mangelt.

Und mir persönlich ist die reine Fachkompetenz da am Ende wichtiger als die Herkunft, so bitter das auch ist. Oder anders gesagt, lieber einen Lauterbach aus dem Westen als Gesundheitsminister, als einen halb so kompetenten Politiker aus den neuen Bundesländern nur der Quote wegen.

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Es ist natürlich richtig, dass sich im Osten weniger in Parteien engagieren. Aber auch da gibt es es Landesregierungen, Stadträte, etc. in denen politisches Personal herangezogen und für höhere Aufgaben vorbereitet werden kann. Wie @Matder schon erläuterte: die Chance wurde bis jetzt kaum genutzt. Was auch daran liegen mag, dass Vorgesetzte eher Personen bevorzugen, die ihnen ähnlicher sind, und im Osten kommen die Vorgesetzten nun mal seit 30 Jahren aus dem Westen.

Und die Zahlen sind wirklich erschreckend, auch in anderen Bereichen. In der Wirtschaftselite sind 4,7% Ostdeutsche, in der Wissenschaftselite 1,5%, in der Justizelite 2%, im Militär 0%. Die entsprechenden Anteile bei Personen mit Migrationshintergrund sind 13,8%, 9,1%, 1,3% und 2,0%. (Quelle)

Wollen Sie also auch sagen, dass Ostdeutsche oder Personen mit Migrationshintergrund nicht Wissenschaftler sind, nicht im Militär dienen, keine Richter werden, nicht in den großen Konzernen arbeiten? Ich würde einfach mal behaupten, dass dahinter komplexere Ursachen liegen als: die wollen einfach nicht.

Diese Ausgrenzung eines beträchtlichen Teils der Bevölkerung von den Aufstiegsmöglichkeiten und Teilhabechancen dieser Gesellschaft und von der Möglichkeit, politisch repräsentiert zu werden, ist meines Erachtens ein Problem, was weder in der Politik noch in den Medien ausreichend verstanden ist.

Und gerade jetzt, wo wieder viel von einer Spaltung der Gesellschaft die Rede ist, wo gerne analysiert wird, dass Migranten und Ostdeutsche dem Staat weniger vertrauen und sich daher seltener impfen lassen, wäre es an der Zeit, über diese ungleichen Teilhabechancen zu reden.

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