Corona: Erhebliche Zweifel an Streeck-Studie

Die sogenannte Gangelt-Studie von Hendrik Streeck ist jetzt (erst) veröffentlicht worden. Diese war zu einiger Bekanntheit erlangt, weil erste Zwischenergebnisse unmittelbar vor Ostern und kurz vor der entscheidenden Ministerpräsidentenkonferenz über Lockerungen der Corona-Eindämmungsmaßnahmen auf einer umstrittenen Pressekonferenz mit dem Ministerpräsidenten NRWs, Armin Laschet, und mit tatkräftiger Unterstützung der PR-Agentur des ehemaligen BILD-Chefs Kai Diekmann vorgestellt wurden.

Hierbei erklärte Streeck öffentlich, dass die Sterblichkeitsrate bei Covid19 seiner Forschung nach deutlich niedriger sei als bis dahin angenommen, und dass u.U. bereits bis zu 1,8 Mio. Deutsche sich unbemerkt mit dem Corona-Virus infiziert gehabt haben könnten und mittlerweile immun seien. Es ist wohl unbestritten, dass diese Pressekonferenz sich erheblich auf den folgenden Gipfel ausgewirkt und die Weichen für den kommenden laxen Umgang der deutschen Politik mit dem Virus geprägt haben, mit der Folge, dass wir jetzt eine zweite Infektionswelle erleiden, die wir anscheinend nicht mehr sondern viel weniger im Griff haben als die erste.

Jetzt hat sich herausgestellt, dass die Zahlen der Gangelt-Studie offensichtlich falsch waren bzw. eine grob falsche Methodik angewendet wurde, indem beim Vergleich der Anzahl der Todesfälle mit den Infektionszahlen die Zeitspanne, die es dauert bis ein Corona-Patient verstirbt, komplett ignoriert wurde! Auch wurden nachträglich aufgetretene Todesfälle von Personen, die in der Studie als infiziert und überlebend gezählt wurden, im Nachhinein nicht in die Studie eingearbeitet!

Wenn diese Recherche stimmt, ist die damalige (und immer noch) von Streeck postulierte IFR also grob falsch und viel zu niedrig angesetzt.

Was sagt uns das, dass so jemand offensichtlich der einflussreichste Virologe der letzten Monate bzgl. der in Deutschland verfolgten Corona-„Strategie“ ist?

Quelle: Die ungezählten Todesfälle aus Gangelt - MedWatch - der Recherche verschrieben

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Maßgebliche Richtung der Corona-Politik ist wohl eher die Linie Drosten, falls man sowas sagen will. Eine eventuelle Abweichung davon während des Sommers ist wohl weniger mit falschem Optimismus à la Streeck zu erklären, sondern den ambivalenten Schutzzielen dieser Politik. Neben dem Gesundheitsschutz einerseits bemüht sich die Bundesregierung nämlich auch andererseits darum, die Wirtschaft nicht vollends absaufen zu lassen.

Vergegenwärtigt man sich, dass es nicht einzig um die Gesundheit der Bürger geht, ergibt das Hin und Her auch wunderbar Sinn: Regulieren, Deregulieren, Ausnahme für dies & jenes, dafür Verbot von XY. Teilweise auf föderaler Ebene unterschiedlich, manchmal mit Zahlen Daten Fakten schwer begründbar (Bsp Theater vs Einkaufszentrum).
Man lässt während risikoärmerer Monate die Wirtschaft Luft holen, um nun wieder zum Zweck des Gesundheitsschutzes in einem weiteren Lockdown abzutauchen. Da es für beides die eine perfekte Maßnahme nicht gibt, wird zwischen den Schutzzielen „abgewechselt“. Das ganze ist eben ein Spagat. Ich würde der Studie und ihren Auswirkungen daher nicht allzu viel Beachtung schenken.

Ich sehe Streck auch eher kritisch, viele seine Äußerung & die Diekmann-Sache haben mich nicht so überzeugt.
Klar war ja auch von Anfang an - Gangelt Studie ist eine ! kleine Studie auf ner rel. kleinen Stichprobe…

Ich wollte aber trotzdem erstmal Deiner Einschätzung widersprechen, dass er der „offensichtlich einflussreichste Virologe“ sei. Diese Rolle - wenn man sie denn unbedingt vergeben möchte - hat m.E. immernoch Herr Drosten :wink:
Aber wenn Du das Wort „einer“ nach offensichtlich einfügen würdest bin ich bei Dir

Ich halte nichts von Streeck bashing.
Die Gangelt Studie war gut und wichtig und die erste ihrer Art in Deutschland und wurde Methodisch gut und sauber gearbeitet. Hier durch wurde das Symptom des Geschmacks/Riechverlustes auch erst breit bekannt.

Die Art der Präsentation der Studie damals war umstritten und nicht optimal, ich würde es als gescheiterten Versuch von Wissenschaftskommunikation verstehen. Nach eigener Aussage wusste Herr Streeck nicht dass diese PR-Agentur irgendwie kritisch zu sehen ist und hat über einen Freund den Kontakt dahin gefunden.

Streeck hat sich immer mal wieder in der Kommunikation verrant, aber das ist auch in Ordnung, er ist ein sicherlich guter Wissenschafter und auch wenn dies auf wenig Gegenliebe stößt, bemüht er sich um eigene und andere Standpunkte zum Umgang mit Corona als die offizielle Linie von RKI und der Berliner Virologie. Es ist gut und wichtig, dass in der Wissenschaft auch andere Standpunkte vertreten und diskutiert werden.

Bei der Verallgemeinerung der Ergebnisse auf ganz Deutschland musste und wurde dann doch schnell zurück gerudert. Ich bin nicht sicher ob dies von dem Team von Herrn Streeck bzw ihm selbst so gedeutet wurde oder dies in der politischen/medialen Interpretation so zustande gekommen ist.

In wie weit sich die Position von Herrn Streeck, von Herrn Drosten, Herrn Kekulé, Herrn Lauterbach oder weiterer mehr oder weniger prominenter Virologen und Epidemiologen und Institute wie dem RKI, der Leopoldina etc. auf die Politik ausgewirkt hat ist nicht wirklich nachzuvollziehen. Von daher wäre ich hier vorsichtig mit der Überbetonung des Einflusses von Herrn Streeck.

Ihn für die jetzige Infektionswelle veranwortlich zumachen ist schlicht falsch und unfair.

Das die Studie jetzt erst förmlich publiziert ist, liegt nicht an Herrn Streeck sondern an der Dauer des Peer-Review Prozesses und vermutlich auch daran, dass vieles davon vorher schon breit bekannt gemacht wurde und so das Interesse und der Druck zur Publikation geringer war von Seiten des Verlags.

Zu der aktuellen Recherche:
Was ist passiert?

Nach Ende der Studie sind weitere Personen gestorben, die sich gegen Ende der Studie infiziert hatten. Eine Person kurz nach Ende, weitere erst einige Wochen/Monate später.
Die eine Person die kurz nach Ende des Beobachtungszeitraums gestorben ist, wurde noch in die Ergebnisse mit einbezogen, die anderen nicht obwohl sie laut der Recherche als Infizierte mit einberechnet wurden.

Dies würde aber die Ergebnisse verändern.

Ist die Grob falsch? Wenn die „frisch“ Infizierten tatsächlich in die Endauswertung mit einbezogen wurden, wäre dies in der Tat zweifelhaft. Dies hätte aber in dem Review-Prozess auffallen müssen, daher bin ich hier etwas skeptisch.
Ansonsten hätte man es einbeziehen können, aber nicht müssen. Es ist in jedem Fall ein berechtigter Kritikpunkt an und eine Limitation in der Studie.
Die Zeitspanne bis ein Infizierter stirbt ist ja durchaus variabel, abhängig davon wie die Erkrankung verläuft und wann die Infektion erkannt wird.

Es ist ein Thema für wissenschaftliche Diskurs und wird vielleicht nochmal aufgrund des Drucks nachgebessert, aber kein Skandal.

Was sagt uns das, dass so jemand offensichtlich der einflussreichste Virologe der letzten Monate bzgl. der in Deutschland verfolgten Corona-„Strategie“ ist?

Hier wüsste ich aber schon gerne wie du darauf kommst, dass Herr Streeck „der einflussreichste Virologe“ der letzten Monate ist. Er mag in NRW eine wichtige Stimme (gewesen?) sein, in anderen Bundesländern gibt es aber auch andere wissenschaftliche Berater und auf Bundesebene mit dem RKI sowieso. Herr Drosten wird sicherlich auch viel Gewicht haben, ob er nun aktiv die Politik berät oder sich nur im NDR Podcast sich äußert. Ebenso sind die medizinischen Fachgesellschaften aktiv und werden auch gehört.

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Das folgere ich einfach aus der aktuell verfolgten Politik. Während der ersten Welle mag Drosten der einflussreichste gewesen sein, und das hat uns – im Gegensatz zu den meisten anderen europäischen Staaten – gut da durchgebracht. Aber Merkel ist eine Lame Duck, verabschiedet sich nächstes Jahr aus der Politik und hat keinerlei Autorität mehr über die Landesfürsten. Laschet hat sich zu Ostern mit Streeck in die erste Reihe gedrängt und ein Race to the bottom bzgl. Lockerungsmaßnahmen eingeleitet, das noch immer unsere Politik bestimmt.

Während große Teile von uns im Frühjahr bei ~1000 Neuinfektionen täglich im Home Office oder Kurzarbeit saßen, läuft mittlerweile bei ~20000 Neuinfektionen und 400 Toten täglich(!) Business as usual, außer was Freizeitaktivitäten angeht. Im Grunde sind wir mittlerweile auf Trump-Politik umgestiegen, und das sieht man an den Zahlen. Und das ist noch nicht einmal Thema in den Medien. Die Zahlen rattern einfach so an uns vorbei und wir fühlen uns immer noch als Land, dass die Pandemie eigentlich ganz gut durchsteht, dabei ist das längst nicht mehr der Fall. Aber Hauptsache Weihnachten und vor allem das Weihnachtsgeschäft wird nicht beeinträchtigt. (Außer vielleicht für die Angehörigen von ~15000 Todesopfern bis dahin, aber ein bisschen Schwund ist überall.)

Man muss das einfach mal klar sagen, dass unsere Politiker derzeit Tausende Bürger jämmerlich verrecken lassen für nichts, denn der Wirtschaft nützt es garantiert auch nicht, wenn wir jetzt bis zum Sommer in einem Wischiwaschi-Lockdown verharren, der bloß gerade ausreicht, dass unsere Intensivstationen nicht vollkommen platzen. In Fernasien und Ozeanien haben sie die richtige Strategie: Eliminierung des Virus durch harte Maßnahmen soweit nötig, und dann immer wenn irgendwo ein Infektionsherd aufpoppt, draufhauen. Aber der Großteil lebt dort mittlerweile wieder ein Covid-freies Leben ohne nennenswerte Einschränkungen, während unsere Politik von der Angst vor Maskengegnern und dem Einfluss von wirtschaftsnahen Verharmlosern wie Streeck dominiert wird.

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Du beschreibst eine Situation, nennst aber kein einziges Argument dafür, warum Streeck dafür verantwortlich sein sollte bzw. worin denn sein angeblich so großer Einfluss besteht. Das würde nur Sinn ergeben, wenn er öffentlich gefordert hätte, dass es mehrere hundert Corona-Tote pro Tag geben soll - was natürlich Schwachsinn ist.
Vielmehr fordert Streeck seit Sommer das Gegenteil, nämlich gezielte Maßnahmen zum Schutz von Menschen, die ein besonders hohes Risiko haben, an einer Coronainfektion zu sterben. Fakt ist, dass genau das nicht passiert und ein hoher Anteil der Todesfälle wieder auf Ausbrüche in Pflegeheimen zurückzuführen ist. Selbst die Maßnahmen die von der Bundesregierung Mitte Oktober versprochen wurden, sind bisher nur lückenhaft umgesetzt (Stichwort Schnelltestst). Allein das widerlegt schon Deine These von Streecks angeblichem Einfluss.
Zweiter Punkt: Infektionszahlen: Ebenfalls seit Sommer fordert Streeck, neben der Zahl der positiv Getesteten auch andere Indikatoren stärker zu berücksichtigen (u. a. die Altersverteilung der Infizierten, die Hospitalisierungsquote oder die Anzahl der positiven Tests). Aber nachwievor gilt die kontextlose Zahl der festgestellten(!) Infektionen bei den allermeisten Maßnahmen als alleiniges Kriterium - sowohl im neuen Infektionsschutzgesetz als auch in den Merkel/MP-Runden. Für mich ein weiteres Argument gegen den angeblichen Einfluss Streecks.
Noch eine kleine Anmerkung zur Kritik an der Studie: Die Kritik sagt viel darüber aus wie der Wissenschaftsbetrieb läuft (schnell Ergebnisse raushauen und bloß keine Aussagen revidieren oder Fehler eingestehen), aber das trifft z.B. auf Drostens Kinder-Studie im Frühjahr genau so zu. Die Schlussfolgerung, die Gangelt-Studie sei „grob“ falsch, ist jedenfalls maßlos überzogen.
Zu den Zahlen: Die Case Fatility Rate in Deutschland liegt gerade bei ca. 1,5 %. Die Gangelt-Studie behauptet eine Infection Fatility Rate von 0,37 % - rechnet man das hoch, würde die Dunkelziffer bei Faktor 4 liegen (sprich es gibt in Wirklichkeit nicht 1, sondern 4 Millionen, nfiziert sind bzw. eine Infektion bereits durchlaufen haben). Die wenigen Kohortenstudien die es bisher gibt, legen teilweise sogar einen noch höheren Faktor nahe. Fakt ist, dass niemand weiß, wie hoch dieser Faktor ist und dass auch diesbezüglich nur sehr wenig passiert, obwohl entsprechende Studien eben schon im März angeregt wurden - u. a. von Streeck.

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