"Corona-Eiertanz" erzeugt Gegenreflex

In der LdN228 geht ihr nochmal genauer auf die Corona-Strategie und deren Ziele in Deutschland ein, zitiert unter anderem Markus Feldenkirchen, der den passiv-reaktiven Stil der Merkel-Regierung kritisiert.
Besonders spannend fand ich die Zahlen mit den Zustimmungswerten zu bestehenden Maßnahmen und die verhältnismäßig breite Unterstützung für die Forderung nach härteren Maßnahmen.
Ich würde gerne einen Aspekt ergänzen, der m.A. nach etwas zu kurz kam: Es gibt einen nicht unbeträchtlichen Teil an Menschen, die bereits im März konsequent daheim geblieben sind und Kontakte auf ein Minimum beschränkt haben - teilweise sogar deutlich über die gesetzlichen Vorgaben hinaus.
Diese Menschen sehen jetzt mit wachsendem Frust, wie die wissenschaftliche Evidenz ihnen Schritt für Schritt für diese (zu Beginn vielleicht sogar vermeintliche Über-)Vorsicht Recht gibt. Währenddessen diskutiert man in der Regierung den Modus und Zeitpunkt der Lockerung und setzt seit November wiederholt Ziele, die dann wieder revidiert werden müssen.Gleichzeitig gibt es eine geradezu schmerzhafte Inschutznahme der Wirtschaft - seien es der Vorweihnachtsverkauf (in der Corona-Kurve schön zu sehen als „Zipfelmütze“) oder die fehlenden Auflagen für Betriebe, die ihre Angestellten nach wie vor in den Betrieb zitieren, oft auch ohne adäquate Schutzmaßnahmen für die Menschen. Ihr habt es selbst schon mit fassungslosigkeit erwähnt: Während einige Homeoffice schon seit März zum Standard erhoben haben sind in Unternehmen und Teilen der öffentlichen Verwaltung (!) nach wie vor zu viele Menschen am Arbeitsort (und auf dem Weg dorthin) versammelt.
Diejenigen aber, die sich seit Beginn der Pandemie „richtig“ verhalten im Sinne eines Einhalten der AHA-Maßnahmen und dem weitgehenden Verzicht auf Kontakte kommen zunehmend in eine Frustphase. Das ist ein bißchen, als ob man versucht einen 40-Tonner zu bremsen. Man kann sich dagegen stemmen und alles tun, was in der eigenen Macht steht - solange die Masse nicht mitzieht ist man als Einzelperson (oder Bubble) chancenlos.
Die Folge sind Ermüdungserscheinungen. Man beginnt Kompromisse zu machen: Großeltern, die wollen, dass das Kind doch mal wieder mit nach Hause kommt - nicht immer nur Spaziergänge durch Schnee und Regen. Doch mal ein Bier in einer anderen WG…etc. Und diese Ermüdungserscheinungen treten nun (so meine These) in einer breiten gesellschaftlichen Schicht auf, die bislang vielleicht zum Großteil noch stramm dagegen gehalten hat. Für viele kommt da sicher auch noch die reine wirtschaftliche Existenz-Not obendrauf.Und wo man nachlässt rückt das Virus näher und gewinnt wieder an Boden…

Danke für eure tolle Arbeit Ulf und Philip und Team!

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Da finde ich mich so ziemlich drin wieder. Zumal der Eiertanz eben doch irgendwie insofern nicht erklärbar ist, als dass der weitere Verlauf der Pandemie ja offenbar schon bei ihrem Ausbruch abzusehen war. Spätestens im April hatte sich bis zu mir herumgesprochen, dass Impfstoffentwicklung bis Jahresende extrem ehrgeizig, aber machbar ist, dass mindestens eine zweite Welle kommt, wenn die Temperaturen wieder fallen, dass ein Durchimpfen der Bevölkerung aus logistischen Gründen bestimmt ein Jahr dauert und wer weiß, was noch alles. Und ich bin nur irgendso’n Tropf in der Öffentlichkeit, der von nichts ne Ahnung hat. Meinetwegen ein interessierter und informierter Tropf, aber eben irgendso’n Tropf. Leute an entsprechenden Positionen müssen doch ganz andere Informationen zur Verfügung gehabt haben.
Da wäre doch Zeit gewesen, Pläne für verschiedene Szenarien zu entwickeln. Und wenn dieser Plan heißt „Keine Schulöffnung vor Inzidenz 20/7Tage/100.000 Leutchen und keine weitergehende Öffnung vor Inzidenz 10/7 Tage/100.000 Leutchen“ dann klingt der zwar rudimentär, aber er ist eben doch ein Plan. Sogar ein zweistufiger, wenn man ihn sich genau anschaut. Und mit so einem Plan hat das tägliche hypnotisiert auf die Zahlen schauen so ungefähr aller Menschen in diesem Land einen Zielpunkt. Den kann man natürlich nicht an ein Datum knüpfen, das ist völlig klar. (Ich kann mir aber nur schwer vorstellen, dass das ernsthaft erwartet wird: „Am 14. März ist alles wieder gut“ oder so. Das ist doch Käse.) Und wenn dann neue Erkenntnisse dazu führen, dass der Plan geändert werden muss, na, dann muss er eben kontrolliert geändert werden. Diese Änderung wird klar und begründet kommuniziert und dann sollte für mein Gefühl (ja, okay, schwaches Argument) durchaus Verständnis dafür da sein und die Akzeptanz erhalten bleiben. So läuft es aber genau nicht. Stattdessen wird alle paar Wochen mal geschaut und man hat den Eindruck, in den paar Tagen vor diesen Terminen wird beinahe wahlkampfmäßig über den Ausgang dieser Termine verhandelt, während zwischendrin fast nichts passiert und die, die eigentlich Strategien entwickeln sollten, genau so hilflos auf die Zahlen schauen wie wir alle.
Und für mich als Nichtjuristin ist auch die Argumentation, dass die Corona-Verordnungen nunmal nur eine bestimmte Dauer haben dürfen, kein so richtig nachvollziehbarer Grund: Kann ich als Exekutive denn nicht deutlich vor Ablauf einer Verordnung klar kommunizieren, unter welchen Bedingungen ich wie an die Verordnung anknüpfen möchte? Da ließe ich mich aber gern eines besseren belehren :slight_smile:

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Vielen Dank für diese, aus meiner Sicht zutreffende, Beobachtung. In diesem Zusammenhang auch ein weiterführender Artikel aus dem Guardian (in der deutschen Presse habe ich vergleichbare Berichte nicht gefunden):

Ich hatte es ja so verstanden, dass die Verordnungen befristet sein müssen, damit ihre Verhältnismäßigkeit und damit Verfassungsmäßigkeit gewährleistet ist. Ich stimme mit Ihnen aber vollkommen überein, dass es sinnvoller gewesen wäre, Ihre Geltung an objektive Kriterien zu knüpfen. Was viele mürbe macht ist, dass alle wissen, dass die Maßnahmen verlängert werden, sich die Politik aber bis auf den letzten Drücker Zeit lässt, diese Verlängerungen zu beschließen.

Hallo zusammen,

ich kann alles gut nachvollziehen, was meine Vorredner geschrieben haben. Ich würde es gerne noch um einen Begriff ergänzen. Vielleicht ist „Gegenreflex“ zu hart formuliert. Ich würde es „… erzeugt Ermüdung“ nennen. Ich glaube weiterhin, dass viele Menschen für die Maßnahmen sind und sie unterstützen (sieht man ja zum Glück noch an den aktuellen Umfragen) aber es besteht die Gefahr, dass wir es alle zu locker nehmen und mal ein Auge zu drücken.

Ein Gewöhnungseffekt tritt langsam ein. Und der ist gefährlich, glaube ich.

Gruß

Danke für eure Beiträge!

Ich denke, dass wir alle gerne planvolles Handeln von Seiten der Politik sehen würden. Aber wie kriegt man die Leute wieder an Bord? Mit einem Plan im Sinne von NoCovid droht ja offensichtlich der Verlust an weiterer Unterstützung in der Bevölkerung. Es fällt mir zumindest schwer zu glauben, dass eine Reihe von gut ausgebildeten, bestens informierten und professionell beratenen politischen Entscheidern sich gegen scheinbar offensichtliche Lösungsansätze stellt. Man geht zwar der wissenschaftlichen Evidenz nach, aber man überträgt die Evidenz nicht vorausschauend in eine Zukunftstendenz. Dafür muss es Gründe geben und nicht umsonst werden kritische Journalistenfragen oftmals abgetan mit dem Vorwurf der Unterkomplexität.
Aber wie bekommt man die Menschen noch vereint hinter eine Strategie? Geht das noch? Wie gesagt, viele in meinem Umfeld interessiert es schon gar nicht mehr.
Danke @Ulla , dass du auch hypnotisiert auf die Zahlen schaust - jetzt fühle ich mich schon etwas weniger seltsam :wink:

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Naja, fairerweise: Dass „eine Reihe von gut ausgebildeten, bestens informierten und professionell beratenen politischen Entscheidern sich gegen scheinbar offensichtliche Lösungsansätze stellt“ hat ja durchaus andere Gründe als reine Stieseligkeit. Die beratenden Expertinnen kommen jeweils aus ihren eigenen Nischen, den Luxus hat die Politik aber nicht. Ich finde es schon extrem schwierig, abzuwägen, wer da eher recht hat: Entwicklungspsychologinnen, die fürchten, dass Kinder Schaden nehmen, wenn sie zu wenig Kontakt zu Ihresgleichen haben (und deshalb auf eine frühere Öffnung drängen) oder Epidemiolog*innen, die ausschließlich die Pandemieentwicklung im Blick haben? Die wollen halt aus guten Gründen unterschiedliche Dinge, das lässt sich zwar irgendwie entscheiden, aber eben nicht wegwundern. Wie auch die Friseur_innen vermutlich nicht deshalb wieder aufmachen wollen, weil sie das Elend beim Einkaufen nicht mehr sehen können, sondern weil sie mehrheitlich die Hilfen immer noch nicht haben und schon ihre Altersvorsorge ins Geschäft knallen müssen. (Ich erfinde die jetzt mal so als Beispiel, ich habe gar keine Ahnung, ob die in der Mehrheit tatsächlich öffnen wollen. Als Illustration taugt die These hier aber allemal.)
Da die Unterstützung von Maßnahmen nach wie vor offenbar sehr hoch ist – die Zahlen hab ich jetzt nicht im Kopf, waren aber in der letzten Lage, glaube ich, und sollten sich auch fix recherchieren lassen – denke ich schon, dass sich die Leute noch hinter einer Strategie versammeln lassen. Das war für mich im Grunde der Ausgangspunkt meiner Überlegungen oben, auch wenn er unerwähnt geblieben ist: Mit Strategie gibt es für uns alle eben nicht nur das auf-Zahlen-starren (da sind wir übrigens glaube ich sehr, sehr viele), sondern ein Ziel, auf das wir hinarbeiten und an dem wir uns beteiligen können. Individuell zwar vielleicht nur im Kleinen, aber eben aktiv. Was ja, wenn ich es recht verstanden und richtig im Kopf habe, das Kernargument der Zero-Covid-Strategie ist.