Corona axiomatische Diskussion

Lieber Ulf, lieber Philipp,
ich würde die Lage mittlerweile seit Jahren regelmäßig und bin grundsätzlich ein großer Unterstützer. ich teile zwar nicht immer eure Meinungen, kann sie aber eigentlich immer gut nachvollziehen.
Zu der ganzen Corona Diskussion möchte ich mich jetzt aber doch einmal äußern, weil sie aus meiner Wahrnehmung seit Monaten in gewisser Weise schiefläuft. Die gesamte Diskussion geht – schon axiomatisch – von 2 Punkten aus, die nicht ernsthaft in Frage gestellt werden, obwohl es sich dabei keineswegs um Axiome handelt. Das gilt leider auch für euch!

  1. Pandemiebekämpfung scheint zum verfassungsrechtlichen Selbstzweck geworden zu sein. wir töten ganz gut daran, uns ein paar Punkte wieder in Erinnerung zu rufen. Grundrechte sind vielmehr Schutzrechte gegen staatliche Eingriffe. Sie sind erst in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts langsam auch zu Schutzansprüchen an den Start ausgebaut worden. Das ist aber nach wie vor nicht ihr primärer Zweck. zur Zeit scheinen wir einen Paradigmenwechsel zu erleben, an dem man sich in Zukunft wird festhalten lassen müssen. Die Bekämpfung der Pandemie fußt auf den abstrakten Lebensschutzgedanken. die Maßnahmen werden nicht ergriffen, um eine konkrete Gefahr für einzelne abzuwenden sondern um eine abstrakte Gefahr für alle in den Griff zu bekommen. da diese Gefahr für eine hohe Zahl an Menschen erheblich, weil potenziell tödlich ist, sind harsche Eingriffe vertretbar. diesen Gedanken wird man zukünftig auch auf den Klimaschutz und ehrliche Bedrohungen übertragen müssen. Was auch aus den Augen verloren wird, ist, dass auch das Recht auf Leben nicht uneingeschränkt gewährleistet ist. Das gilt nur für die Menschenwürde.daher bräuchten wir eine ehrliche politische Diskussion darüber, wie viel wir als Gesellschaft bereit sind zu geben, um Menschenleben zu schützen.
    Man sollte sich auch in Erinnerung rufen, dass die Infektion mit einer Viruserkrankung grundsätzlich dem allgemeinen Lebensrisiko zuzurechnen ist. niemand hat Anspruch darauf, dass der Staat ihn vor jeglichen – auch potenziell tödlichen - abstrakten Gefahren schützt. Daher ist es hoch verwunderlich, wenn bei euch in der letzten Lage der Eindruck erweckt wird, man müsse die Pandemiebekämpfung mit aller Härte weiter betreiben, wenn eine Impfung nicht vor der Infektion, sondern nur vor schweren Erkrankungen schützt. Sobald sich jeder effektiv dagegen schützen kann, schwerst und lebensbedrohlich zu erkranken, gibt es kaum noch ein Argument, um die Freiheitsrechte aller massiv einzuschränken.
    Ich bin ein großer Anhänger der 0- Covid-Strategie, weshalb ich die Maßnahmen mit trage. Die Axiomatik in der Diskussion ist aber nicht nur verfassungsrechtlich falsch.

  2. Das 2. Axiom stört mich noch viel mehr und steht damit in unmittelbarem Zusammenhang. Es wird viel über Solidarität gesprochen, dabei aber nicht thematisiert, dass die Pandemiebekämpfung praktisch ausschließlich von Kindern, Eltern, Gastronomie und Hotelgewerbe, Einzelhandel und körpernahen Dienstleistungen getragen wird. Sämtliche andere Wirtschaftszweige werden zur Bekämpfung der Pandemie gesetzlich praktisch nicht herangezogen. Man könnte das Land für vier Wochen komplett herunterfahren, einschließlich Ausgangssperren und nur kritische Infrastrukturen davon ausnehmen. Dann wären wir innerhalb kürzester Zeit deutlich unter 10. Das hätte man auch schon im Dezember machen können. Stattdessen lässt man einige überproportional stark leiden und zieht andere gar nicht heran. Die schwersten Folgen für die Kinder scheinen der Politik vor diesem Hintergrund weitestgehend egal zu sein. Hauptsache die Wirtschaft brummt.

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Danke für den ausführlichen Beitrag, aber hast du in letzter Zeit noch die Lage gehört?

Deinen ersten Punkt diskutieren wir zuletzt in der aktuellen Folge ganz ausführlich, insbesondere die Frage, welche Ziele denn eigentlich die Bekämpfung der Pandemie verfolgt. Es geht eben nicht nur im Lebensschutz, inzwischen ist das Spektrum der Ziele viel breiter. Und es geht hier auch nicht um Schutzansprüche gegen den Staat, die in der Tat wohl nicht zu den getroffenen Maßnahmen zwingen würden, sondern es geht um die politische Entscheidung, bestimmte Ziele verfolgen zu wollen.

Den zweiten Punkt haben wir in der Lage auch wahrlich rauf und runter diskutiert, in der aktuellen Folge allerdings nur am Rande.

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Hallo Ulf,
danke für die Antwort.
Ja, ich habe jede Lage der letzten 2 Jahre gehört. Offen gesagt empfinde ich als Empfänger es nicht so, das diese Punkte bei Euch tatsächlich klar zur Sprache kommen. Hier liegt vielleicht ein Kommunikationsphänomen vor (vgl. Schulz-von Thun, vier Seiten einer Nachricht).
Dessen ungeachtet: Was ist das verfassungsrechtliche Schutzgut, das die größten Grundrechtseingriffe seit Beginn der Bundesrepublik rechtfertigt (Stichwort praktische Konkordanz)? „Politische Entscheidung“ reicht da nicht. Ich werde die letzte Lage nochmal hören. Erhellendes ist mir beim letzten Mal nicht aufgefallen.

Auch der zweite Punkt kann bei Euch hin und wieder vor, aber eher im Bereich Büros und Home-Office-Pflicht. An die Erwähnung eines totalen Shut-Downs wie in Italien oder Frankreich als Alternative zur aktuellen Variante kann ich mich nicht erinnern.
Aber auch da: Ich würde mir einfach weniger Axiomatik wünschen und die empfinde ich auch bei Euch in diesem beiden Punkten sehr deutlich.

Zum Schluss noch ein Tipp: verwendet das Wörtchen „aber“ sparsamer. Es eliminiert die Wirkung des davor Gesagten.

Und noch einmal: zunächst muss ich Abbitte leisten. Der Block in der letzten Lage ist tatsächlich entweder kognitiv (sehr unwahrscheinlich) oder technisch komplett an mir vorbeigegangen.
Inhaltlich bleibe ich aber dabei. Mit fehlt jegliche verfassungsrechtliche Komponente. Die von euch genannten Ziele sind verfassungsrechtlich jedenfalls nicht unproblematisch. Im Frühjahr bist du meiner These, dass es weniger um Leben und mehr um die Funktionsfähigkeit des Gesundheitswesens geht übrigens noch vehement entgegengetreten. Ich hatte damals auf einen entsprechenden Artikel im Verfassungsblog verwiesen. Was haltet ihr den Menschen entgegen, die in Zukunft fordern, durch massive Grundrechtseingriffe aller vor einer Infektion mit Grippe geschützt zu werden? Auch an Grippe sterben jedes Jahr viele Menschen.
Und auch bei meinem zweiten Punkt bleibe ich. Hört Euch Eure eigene Lage einmal an. Ihr redet über Maßnahmen im Sinne von besserer Kontrolle und von Schließen der Büros. Der ÖPNV ist bei euch Thema und die nur gering reduzierte Mobilität. (Das ist kein Wunder, wenn alle weiterhin zur Arbeit fahren.)
Alles richtig, aber über Industrie redet ihr nicht. Warum nicht? Warum müssen Waffenproduzenten, Eierlikör- Hersteller et cetera derzeit keinen Beitrag zur Pandemiebekämpfung leisten? Das ist die falsche Axiomatik, die ich wahrzunehmen glaube, auch bei euch!