CL rechnet Zinskosten „künstlich“ hoch - Keine Gegendarstellung

Hallo zusammen,

nach Jahren der stillen Mitleserschaft melde ich mich heute mit einer kurzen Anmerkung zu Wort.
Im Buch werden im ersten Kapitel die fehlenden Investitionen in die Infrastruktur beklagt. Christian Linder kommt dort teilweise mit Gegenargumenten zu Wort. Eines davon ist der Hinweis auf die Kosten der Schulden, nämlich die Zinsen.

Er nennt hier, wie auch in zahlreichen Interviews, beeindruckende Zahlen. 2021 noch 4 Milliarden Zinsen für die Vergangenheit und 2023 schon über 30 Milliarden - mehr Schulden kann sich der Bund nicht leisten.

Leider gibt es hier fast nie Gegendarstellungen, die die Zahlentricks bzw. das rechnerische Vorgehen dahinter aufzeigen. Die Realität sieht bei weitem nicht so dramatisch aus, aber ohne Gegendarstellung ist das ein gefundenes Stammtischargument (4 Mrd. zu 30 Mrd.-> wer soll das in Zukunft noch bezahlen?).

Entspricht der Verkaufspreis einer Staatsanleihe nicht dem Nennwert, entsteht entweder ein Agio (Preis liegt über dem Nennwert) oder ein Disagio (Preis liegt unter dem Nennwert). Der Staat kann die Höhe des Agios recht gut mit der Höhe der angebotenen Zinsen und der Laufzeit steuern, ist der Zins z. B. kleiner als ein vergleichbarer Marktzins, gibt es z.B. ein Disagio, dass die Anleihe für den Käufer weiterhin attraktiv ist, da der Verkaufspreis der Anleihe unter dem Nennwert dieser liegt.

Diese Ausgabegewinne oder -verluste werden in Deutschland direkt im Ausgabejahr in voller Höhe erfasst. Unabhängig von Laufzeit und Höhe der Anleihe. Die zu zahlenden Zinsen werden hingegen über die Laufzeit verteilt. Beides zusammen stellt jedoch den korrekten Preis der Schulden dar.

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Soweit ich weiß, betont auch Ökonom Maurice Höfgen genau diese Taktik immer. Oder ist es Dummheit…?

Die oben beschriebene Rechnungslogik bedeutet, dass der Bund in den Jahren 2012 bis 2022 beim Verkauf von Anleihen jeweils durch das Agio (gezahlter Preis ist höher als der Nennwert) Ausgabegewinne erzielt hat. In den letzten 10 Jahren wurden die gesamten Zinsaufwendungen dadurch rechnerisch jeweils stark reduziert, da die zu zahlenden Zinsen mit den erzielten Agios verrechnet wurden.

2023 gibt es z.B. bei privaten Kreditinstituten wieder Zinsen (davor teils Negativzinsen) für Anleger, derzeit gibt Bund wieder Anleihen mit einem Disagio aus, d.h. der Bund erhält weniger als den tatsächlichen Nennwert der Anleihe, da diese sonst für mögliche Käufer aufgrund der Alternativangebote nicht attraktiv wäre.

Dieses Disagio, z.B. für eine 10- oder 30-jährige Anleihe, wird nun auch noch komplett auf die Zinskosten aufgeschlagen. So kommt man sehr schnell zu einer Vervielfachung der zu zahlenden Zinsen im Vergleich zu den Vorjahren. Diese wird aber in der Realität nicht in voller Höhe fällig, da es sich größtenteils um die Ausgabedifferenzen handelt.

Auch hier wäre eine Verteilung der Mehr- oder Mindererlöse auf die Laufzeiten der Anleihen wesentlich aussagekräftiger, da Agios oder Disagios zusammen mit den Zinsen natürlich den tatsächlichen Preis des Geldes anzeigen.

Verteilt man sowohl die Zinsen als auch die Agien über die Laufzeit, so steigen die Zinskosten von ca. 21 Mrd. in 2021 auf ca. 26 Mrd. in 2023. Das ist schon ein deutlicher Unterschied von 4 zu 30 Mrd. Die Zahlen, die Christian Lindner hier bewusst nennt, bringen keinen Erkenntnisgewinn, stellen die Situation sehr eindimensional dar und führen schlicht in die Irre, auch wenn sie nicht falsch sind. Zumindest ein Hinweis darauf oder eine kurze Gegendarstellung wäre sicher hilfreich.

Dezernat Zukunft e.V. verweist dabei, dass der Vorschlag einer periodengerechten Verbuchung nicht neu ist. Sowohl der Wissenschaftliche Beirat des BMF, die Bundesbank als auch der Bundesrechnungshof haben dies in der Vergangenheit vorgeschlagen. Dennoch wird es derzeit weiterhin als bewusstes Steuerungsinstrument der Politik eingesetzt und als Naturgesetz wiedergegeben.

Wie schlimm ist die Zinsrampe? - Dezernat Zukunft

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So weit ich weiß, ist das zwar größtenteils Korrekt, was du hier schreibst, zumindest wenn ich den ebenfalls erwähnten Höfgen richtig verstanden habe.

Allerdings sollte hier doch wohl darauf geachtet werden, wie dieser Vorwurf formuliert wird. Lindner hält sich an die geltenden Regelungen, die eben aus den vorgetragenen Gründen Reformbedarf haben.
Was man ihm vorwerfen könnte, ist, dass er diesen Reformbedarf vermutlich bewusst nicht anspricht, sondern diese Zahlen argumentativ für die Schuldenbremse nutzt.

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Ja, das habe ich auch schon von Maurice Höftgen gehört, er hat sich einmal auf die Zahlen von Dezernat Zukunft e.V. bezogen - siehe den in meiner Antwort verlinkten Artikel.

Ich denke, es ist leider Taktik, das Ganze so zu verwenden bzw. dann so eindimensional zu kommunizieren.

@PhilippBo; stimme ich dir voll und ganz zu, vll. habe ich es eingangs zu unpräzise formuliert

Vll. Zum Abschluss des Themas noch ein paar aktuelle Informationen aus der Zeit:

Bei einer Anpassung (weiterhin von seit Jahren von der Bundesbank, dem Bundesrechnungshof und dem wissenschaftliche Beirat im Finanzministerium gefordert https://www.bundesbank.de/resource/blob/868092/6d58ccda8e2c2befe6b932173971fdfa/mL/2021-06-bundesschulden-data.pdf ) der Buchungsregel stünden dem Bund im Bundeshaushalt 2023 17 Milliarden Euro mehr zur Verfügung - allein damit hätte das Haushaltsloch in diesem Jahr geschlossen werden können.

Bundeshaushalt: Rechnet Lindner die Zinskosten in die Höhe? | ZEIT ONLINE

Es ist wirklich schade, dass der Darstellung von CL nicht einmal widersprochen wird oder Handlungsmöglichkeiten aufgezeigt werden. Es ist eben nicht alternativlos.

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Vielen Dank für den Hinweis, ich habe mich selbst schon gefragt wie die Zinsen so schnell steigen konnten und benutze dies als Argument für die Schuldenbremse:

Ich habe versucht die Auswirkung anhand eines Beispiels für eine 10 Jährige Anleihe zu veranschaulichen, da ich echt lange brüten musste um das Konzept Agio/Disagio zu verstehen:

Anleihe Disagio Zins p.a. Zinseszins Rückzahlung davon Zinsen
Beispiel: 1’000’000 € 2.0% 21.9% 1’218’994 € 218’994 €
Fall 1: 990’249 € 9’751 € 2.1% 23.1% 1’218’994 € 228’746 €
Fall 2: 1’000’000 € 0 € 2.1% 23.1% 1’230’998 € 230’998 €

Ausgangslage: Wir schreiben das Jahr 2023 und der Finanzminister möchte gerne € 1’000’000,- haben und ist bereit dafür 2 % p.a. fest über 10 Jahre zu bezahlen. Er schickt seinen Anlagenzeichner in den Keller und der malt auf Büttenpapier einen Schuldschein über 1’218’994,- Euro, auszuzahlen in 2033.

Die Marktlage verändert sich und der Bund muss 2.1 % p.a. bezahlen.

Fall 1: Der Finanzminister verkauft die bestehende Anleihe für € 990’249,-. Das spart Büttenpapier und der Anlageninhaber erhält im Jahr 2033 1’218’994,- Euro, was rechnerisch 2.1 % Zinsen pro Jahr entspricht.

Fall 2: Der Finanzminister verbrennt den Schuldschein und schickt den Anlagenzeichner wieder in den Keller, damit er eine neue Anlage mit 1’230’998 Euro malt, in der Hoffnung, dass der diesmal schnell genug fertig ist.

Im ersten Fall wird der Bundeshaushalt im ersten Jahr mit € 32’626,- belastet und in den neun folgenden Jahren mit € 22’875,-. Im zweiten Fall werden die nächsten 10 Haushalte mit € 23’100,- belastet.

Zwei Fragen:

  1. Müssten sich nicht Agio und Disagio über die Menge der Anleihen auf 0 mitteln? Das Finanzministerium kann die zu zahlenden Zinsen ja nicht immer unterschätzen, sondern müsste mit seinen Schätzungen mal zu hoch liegen.
    Wenn dem nicht so ist, sich also über das Jahr ein Disagio aufbaut, heißt das nicht automatisch, dass die Leute im Ministerium entweder nicht schätzen können, oder konsequent unterschätzen?
  2. Wäre es nicht sinnvoller einfach plain stupid nur Anleihen über die Rückzahlung von 1’000’000 Euro auszugeben und den Zins über Disagio zu regeln?

Zu den Fragen:

Das kann man mMn. so nicht sagen, da die Agien zur kurzfristigen Beeinflussung der Haushaltsergebnisse genutzt werden können. Insgesamt gleicht sich der zu zahlende Betrag in Bezug auf die Gesamtkosten (pro Anleihe) natürlich wieder aus, aber er wird eben nicht periodengerecht verbucht, was zu einer größeren Volatilität der Zinsausgaben pro Haushalt und zu einer erschwerten Nachvollziehbarkeit führt.

Der Hauptkritikpunkt ist hier, dass mit dem Ausgabenmechanismus bewusst Politik gemacht werden kann und gemacht wird. Siehe hier ein Schrieben der Bundesbank, welche ebenfalls die periodengerechte Verbuchung befürwortet:

Bundesschulden: Bei Zinsausgaben Agien periodengerecht verbuchen (bundesbank.de)

Bzgl. einer Beispielrechnung hat hier der Wissenschaftliche Beirat beim BMF ab Seite 18 etwas vorgelegt:
Das Schuldenmanagement des Bundes - Ein Plädoyer für längere Laufzeiten und eine Reform der Agio- und Disagio-Regeln (bundesfinanzministerium.de)

Also in einem ersten Schritt wäre es sinnvoll, die Kosten des Geldes, seien es Zinsen oder Agien, periodengerecht zu verbuchen. Die Reduktion auf eine Kostenposition ist wohl auch nicht einfach, der Staat kann z.B. (aus praktischen Gründen) keine Negativzinsen ausgeben und regelt dies daher auch mit einem Agio. Das bin ich aber generell etwas überfragt.

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