Dieses Argument geht davon aus, dass Parteien und Abgeordnete einfach so im luftleeren Raum Anträge einbringen, und dann sieht man, ob sich dafür eine Mehrheit ergibt. So funktioniert das System aber nicht. In aller Regel wissen die Parteien vorher ganz genau, wer einem Antrag zustimmen und wer ablehnen wird, und wenn’s nicht passt, wird der Antrag eben nicht gestellt.
Auf Regierungsseite ist das sowieso ganz klar. Von absoluten, vorher festgelegten Ausnahmen abgesehen (z.B. „Gewissensentscheidung“ zur Impfpflicht) wird keine Regierungspartei einfach so einen Antrag einbringen, wenn die Regierungsfraktionen dem nicht alle zustimmen. Stell dir einfach mal vor, SPD+Grüne würden im Bundestag gegen den Willen der FDP einen Antrag einbringen, den Abstand von Windkraftanlagen bundesweit zu regeln und auf 50 Meter herunterzusetzen. Die Linken stimmen natürlich zu, und ein paar CDUler und/oder AfDler machen das plötzlich auch, bloß for the lulz, um Chaos zu stiften. Dann wäre die Koalition am Ende. Genau genommen wäre sie das bereits, wenn der Antrag eingebracht wird.
Und genau so ähnlich ist das jetzt in Thüringen auch. CDU+FDP+AfD haben theoretisch eine Mehrheit im Landtag, aber „Brandmauer gegen Rechts“ heißt, diese Mehrheit nicht auszunutzen, denn wenn so eine Mehrheit für ein Gesetz zustande kommt, dann auch für das nächste, usw. Dann wäre die jetzige Regierung am Ende und die CDU müsste sich entweder dazu bekennen, mit der AfD zusammen eine Regierung zu bilden, oder es liefe auf Neuwahlen hinaus, die aber nach den letzten Umfragen auch kein anderes Ergebnis vermuten lassen würden. (Außer die FDP fliegt aus dem Landtag, dann hätte RRG evtl. wieder eine eigene Mehrheit.)
Der Deal nach langem Hin und Her sieht deswegen derzeit so aus, dass die CDU akzeptiert hat, dass RRG unter den demokratischen Parteien die Mehrheit hat, und Schwarz-Gelb zwar mit der AfD zusammen eine destruktive Mehrheit bilden kann, um Regierungsvorhaben zu blockieren – und daher die CDU immer wieder über Umwege auch mitregiert – aber die Mehrheit nicht aktiv nutzt um irgendwelche Ministerpräsidenten zu wählen oder Gesetze zu beschließen. Wie oben erwähnt, wenn die CDU sich daran nicht mehr gebunden fühlt, wäre dieses Modell am Ende, und wir wären wieder an dem Punkt angelangt, als Kemmerich für 24 Stunden Ministerpräsident war, mit wahrscheinlichen Neuwahlen. Allerdings werden die eigentlich eh längst geplanten Neuwahlen sowieso schon immer verschoben, u.a. weil Teile der CDU Angst davor haben und deswegen der Auflösung des Landtags nicht zustimmen wollen.
Nein. Alle Erfahrungen praktisch überall zeigen, dass rechtsradikale Parteien immer dann und dort profitieren, wenn sie von bürgerlichen Parteien normalisiert werden, und dass sie verlieren, wenn sie isoliert werden.
Z.B. weil man darauf hofft, dass die Linke Stimmen verliert und die CDU dann nach der Wahl eben nicht mehr "handlungsunfähig"¹ ist, sondern bspw. mit SPD und FDP eine Mehrheit bilden kann. Wenn jemand Typ „Werte Union“ allerdings erwartet, dass die CDU auch mit der AfD zusammenarbeitet, kann er auch gleich die AfD wählen, um die CDU vielleicht davon abzuhalten, lieber mit irgendwelchen Sozen oder Grünen zusammenzuarbeiten.
¹ Die CDU ist ja im übrigen gar nicht handlungsunfähig. Da die Regierungskoalition bei jeder Abstimmung darauf angewiesen ist, dass zumindest einige Abgeordnete der Opposition sich enthalten, lässt sie sich das entsprechend teuer bezahlen und redet ein gehöriges Wörtchen mit.