Bildung durch Vorlesen: eine unterschätzte Chance

Heute möchte ich einmal ein Thema vorschlagen, das mir sehr am Herzen liegt: Die Abnahme des Vorlesens durch die Eltern.
Laut Vorlesemonitor 2022 lesen nur noch 61 % der Eltern ihren 1-8jährigen Kindern regelmäßig vor. 2019 waren es noch 68 %. https://www.bundesregierung.de/breg-de/suche/vorlesemonitor2022-2140442

Dieses Vorlesedefizit ist aus m.M.n. einer der Hauptgründe für nachlassende Schülerkompetenzen. https://deutsches-schulportal.de/bildungswesen/iqb-bildungstrend-die-wichtigsten-ergebnisse/

Der Grund für diesen Mangel könnte in der Arbeitsbelastung der Eltern, in Sprachdefiziten (bei eingewanderten Familien) und vor allem ganz allgemein im fehlenden Bewusstsein für die Bedeutung des Vorlesens liegen. Vertiefender Spracherwerb wird vermutlich zunehmend als Aufgabe der Schule angesehen und an diese delegiert.

Dieser Trend beunruhigt mich, weil man die Bedeutung des Vorlesens nicht unterschätzen darf. Abgesehen von der emotionalen Grundlage der Sprache, die das Vorlesen und gemeinsames (bei Leseanfängern abwechselndes) Lesen fördert, vermittelt Vorlesen Schriftsprache, also korrekten Satzbau und Endungen, vielfältigen Wortschatz, das Lesen „zwischen den Zeilen“ und so etwa ab Klasse 3 die Präteritumformen. Selbstverständlich ist es auch wichtig, dass Eltern von klein auf sehr, sehr viel mit ihren Kindern sprechen, erklären, zeigen, benennen etc. Aber dann wird es auch zunehmend wichtig, sich Texte erlesen, erschließen und erarbeiten zu können. Leseverständnis bildet die Grundlage für (fast) alle anderen Fächer. Auch für Mathematik müssen Aufgabenstellungen verstanden und umgesetzt werden.

Meine Frage ist an dieser Stelle, was die Politik im Rahmen der Bildungsverantwortung tut, um diesen wichtigen Ansatz der Bildung von Kindern zu fördern, zu unterstützen:
Welche Aufklärungskampagnen gibt es (wie Stiftung Lesen, aber von Seiten der Landesregierungen und der Bundesregierung)?
Welche Anreize gibt es (z.B. „Ich schenk dir eine Geschichte“) oder sollte es geben (Ich habe z.B. in meiner Schule meine Idee „Bücherkarussell“ umgesetzt mit Büchertaschen, die die Kinder für eine Zeit mit nach Hause nehmen) ?
Welches Angebot für finanziell schlecht gestellte Familien gibt es (gut ausgestattete Büchereien in allen Städten, aber auch großen Dörfern, Bibliobusse) ?
Welche Programme für Kinder aus migrantischen Familien gibt es (Hier würde sicher die Kindergartenpflicht helfen in Kombination mit ehrenamtlichen Vorleser:innen) ?

Da wir es uns als Gesellschaft weder ökonomisch noch sozial leisten können, weiterhin so viele Kinder und Jugendliche auf ihrem Bildungsweg zu verlieren, ist diese Facette der kindlichen (und frühkindlichen: Beginn mit Ansehen und Erzählen zu Bilderbüchern) Bildung außerordentlich wichtig, wird aber vermutlich unterschätzt, von Politik und Eltern.

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Wichtiges Thema, allerdings weiß ich nicht ob hier tatsächlich direkt der Staat gefragt ist. Das Problem, das Lesen abnimmt liegt wie ich finde viel tiefer und beginnt definitiv in der Schulzeit der künftigen Eltern. Der derzeitige Buch Kanon der Schulen fügt schwere Schäden in der Leseentwicklung der Schüler zu. Warum muss schon ab Klasse 7 Goethe und Co gelesen werden? Das ist zum Teil sehr harte Kost und nur weil Goethe drauf steht muss es nicht super sein. Also ich habe mehr gelitten als der Junge Werther. Diese Bücher sorgen für eine so unfassbar miese Leseerfahrung, dass diese bis ins Erwachsenenalter fort besteht. Wieso können nicht mehr Bücher gelesen werden, die nicht moderner sind und mal keine tiefgreifende Botschaft haben, sondern einfach gute Stilmittel?

Übrigens sind die Unis da der Kern allen Übels. Wieso muss bitte ein Grundschullehrer sämtliche Schiller und Lessingwerke tiefgreifend beherrschen wie für einen Deutsch Leistungskurs? Aber bitte keine Jugendbücher, könnte ja sinnvoll sein.

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Für wahr.

Durch Goethe und Schiller wurden wir auch durchgequält.

Zusammen mit dem ganzen Durchpauken von irgendwelchen antiquierten Stilmitteln und Interpretationen die in der tollen Frage gipfelten „was will der Autor damit sagen“ (einzig korrekte Antwort steht dann im Lösungsbuch, das man nicht kennt und dementsprechend in miesen Noten endet)

Wer bis dahin noch keine Lust am Lesen gefunden hat, wird für den Rest seines Lebens davon abgehalten.

(Zum Glück war ich da schon Vielleser)

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Einerseits gebe ich dir recht. Es wäre wünschenswert, wenn alle Eltern vorlesen würden - und zwar auch dann noch eine Weile (Ich habe meinen Kindern jeden Abend vorgelesen, bis sie ca. 12 Jahre alt waren), wenn die Kinder bereits (beginnen zu) lesen.

Andererseits sieht die Realität offenbar zum Teil heute anders aus, und der Staat/die Schule rennt später immer hinterher mit Förderprogrammen und der ewigen Frage: Warum nur sind die Leistungen so schlecht?

Deshalb denke ich, es wäre besser, das Problem an der Wurzel zu packen. Für Familien, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, braucht es sowieso Pflichtkindergarten, Ganztagsschule oder andere Fördermöglichkeiten. Den deutsch-deutschen Kindern kann eine entsprechende Unterstützung auch nicht schaden. Zumindest muss man den Eltern wieder bewusst machen, wie wichtig das Vorlesen ist.

Ich glaube auch nicht, dass es nur an den digitalen Endgeräten oder Spielen liegt. Das Problem an Fernsehen, Computer, Handy & Co ist eigentlich nicht das Fernsehen, der Computer der die Konsole, sondern das Problem ist, was die Kinder an anderen Aktivitäten verpassen (draußen spielen, klettern, Fahrrad fahren, lesen…), wenn sie viel zu viel Zeit vor den Bildschirmen verbringen.

Ja, stimmt schon. Ich fand es damals nicht so schlimm. Schließlich lernt man so, auch schwierige Texte zu verstehen und zu analysieren, aber ich finde auch, dass es heute ganz andere schulische Anforderungen braucht. Plus immer wieder Motivation und Anregung zum Lesen. Und das erreicht man nicht mit Goethe. Völlig richtig. Zumal die klassische Literatur doch vielleicht wirklich in der Oberstufe gelesen werden kann. Dann verdirbt man den Kindern die Lesefreude nicht so früh.

Finde ich an dieser Stelle nicht zum Thema passend, sondern voreingenommen. Wenn es um Lesekompetenz von Kindern geht und diese durch Vorlesen erreicht werden könnte, dann ist es egal, welche Buchsprache verwandt wird. Gute Bücher gibt es auch außerhalb des Landes der Dichter und Denker. Aus meiner Sicht ist wichtig, dass das Kind Freude dann Lesen erfährt - es muss die Lust der Eltern spüren können.

Fürs Kind ist das Vorlesen und die Zeit mit den Eltern das Wichtige.

Wenn es allerdings um die Lesekompetenz in deutscher Sprache geht, sieht es anders aus. Das ist aber eher ein Thema der Art „bessere Integration“. Das ist aber ein anderes Thema.

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Ja, natürlich. Aus meiner Sicht ist es besser, den eigenen Kindern in der gemeinsamen Sprache vorzulesen. So habe ich es auch mit meinen eigenen Kindern gemacht, weil ich nicht in Deutschland lebe. Die Freude am Lesen ist das Wichtigste. Stimmt.
Die Kinder müssen jedoch so früh wie möglich auch die Sprache des Landes, in dem die leben, so gut lernen, dass sie von den Schulstrukturen zu 100 % profitieren können.

Letztlich ging es mir vor allem um die Beobachtung aus meiner eigenen Erfahrung, dass (deutsche?) Eltern ihren Kindern oft nicht mehr genug vorlesen. Wenn man dann aber nicht überlegt, wie man dieses Vorlesen in der Landessprache auch Einwandererkindern zugute kommen lassen kann, benachteiligt man diese. Deshalb die Erwähnung. Ansonsten hast du recht. Zwei Themen, die verbunden sind.

Es gibt eine jährliche Aktion zu den Thema:
https://www.vorlesetag.de/
Unsere Bücherei bietet auch Vorleseaktionen, die gut besucht sind, meist sind die Eltern dabei.
Es ist eben so, wenn man erst mal die Kinder angefüttert hat steigt die Chance immens, dass die Eltern mitziehen.

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