Bewaffnete Konflikte weltweit

Der Spiegel veröffentlichte jetzt den Artikel „Israel führt laut Experten eine der zerstörerischsten Offensiven der Geschichte“ (Link: Krieg in Gaza: Israel führt eine der zerstörerischsten Militäroffensiven der Geschichte - DER SPIEGEL).

Es ist das erste Mal, dass ich einen Artikel zu dem Thema finde. Haben wir eine größere Verantwortung für Palästina auf die Straße zu gehen als für den Sudan, Afghanistan, Äthiopien usw.? Und wenn ja, liegt dies daran, dass das was in Gaza passiert tatsächlich zahlenmäßig oder moralisch schlimmer ist als das was zum Beispiel in Äthiopien geschieht, obwohl der Konflikt dort zur Zeit als einer der Konflikte mit den meisten Todesopfern gilt? (Link: Kriege: Zahl der Toten durch Konflikte so hoch wie seit 30 Jahren nicht mehr | ZEIT ONLINE)

Als ich bei Spotify den LdN-Podcast durchsucht habe, habe ich keine Folge über die Lage im Sudan, im Jemen oder im Kongo gefunden. Eine aus dem Jahr 2020 über die Lage in Äthiopien. Warum schienen euch regelmäßige Updates über die aktuelle Lage dort als nicht relevant?

Weder Kurdistan noch der Iran, noch Menschenrechtsverletzungen in China oder Ägypten sind noch Thema im öffentlichen Diskurs.

Ich möchte hiermit nochmal deutlich machen, dass ich die Situation in Gaza in keintser Weise relativieren oder als unwichtig abtun möchte. Im Gegenteil. Ich möchte vielmehr verstehen, warum kriegerische Auseinandersetzungen in anderen Ländern nicht zu derartigen internationalen Protesten geführt haben. Basiert der Fakt, dass über Palästina und Israel mehr berichtet wird auf einem Gefühl oder auf einer tatsächlich unvergleichbaren Schrecklichkeit? Oder etwa daran, dass Israel ein Staat ist und für Staaten die Kritik oder Sanktionen der internationalen Gemeinschaft bzw. anderen Staaten größere Auswirkungen hat, als auf „aufständische Milizionäre“? Sollten wir die Geschehnisse nicht als Anlass nehmen zu Protesten gegen alle kriegerischen Auseinandersetzungen zu führen?

Sind andere Konflikte oder Menschenrechtsverletzungen (bspw. in Ägypten) „peanuts“ gegen die Geschehnisse in Gaza oder sind sie uns schlichtweg egal? Ist die Offensive gegen Gaza tatsächlich einer der zerstörerischsten in der Geschichte?

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Die große Aufmerksamkeit, die der Nahost-Konflikt erfährt, dürfte an verschiedenen Faktoren liegen:

  1. Die Mitverantwortlichkeit der internationalen Gemeinschaft und vor allem Deutschlands
    Ohne die Schoah wäre die Gründung Israels nicht so notwendig gewesen, wie sie es war. Die Schoah hat gezeigt, dass ein sicherer Heimatstaat des israelischen Volkes zwingend notwendig ist, um die Geschichte des jahrhundertelangen Antisemitismus mit ihren zahlreichen Pogromen zu beenden. Dazu wurde den Zionisten der Wunsch gestattet, einen Staat im „heiligen Land“ zu gründen, gegen den Willen der dort länger ansässigen Bevölkerung. Daher hat die internationale Gemeinschaft und vor allem Deutschland in Bezug auf den Nahost-Konflikt eine besondere Verantwortung.

  2. Mehr Verbindungen zum Westen bestehen
    Durch den jüdischen Exodus und später die Flucht vor Nazi-Deutschland sind Menschen jüdischer Herkunft über die ganze Welt verteilt, vor allem in den USA leben viele Juden mit starken Bezügen zu Israel. Deshalb werden Nachrichten bezüglich des Nahost-Konfliktes immer auf einen stärkeren Widerhall vor allem im Westen treffen, einfach weil ständig Menschen, die im Westen leben und gut verwurzelt sind, davon betroffen werden. Das trifft einfach für Uiguren, Ägypter, Äthiopier, Sudanesen, Jemeniten oder Kongolesen nicht in diesem Maße zu. Mit stärkerer Verbindung steigt das Interesse an Berichterstattung - und wer über Angriffe auf Israel stark berichtet, wird auch über die Reaktionen Israels berichten müssen.

  3. Israel als Demokratie hat viele Interessenvertreter im Westen und ist von amerikanischen Hilfen abhängig
    Durch die Abhängigkeit von amerikanischen Militärhilfen und die Mitgliedschaft in der internationalen Gemeinschaft der Demokratien hat Israel einfach ein anderes Standing als der Kongo, der Jemen oder Äthiopien. Israel hat Botschaften in allen möglichen Ländern und betreibt natürlich - wie jeder Staat - starke internationale Beziehungsarbeit („Diplomatie“). Israel hat im Westen und auch bei Russland ein großes Maß an Soft Power, welches die anderen genannten Staaten nicht in diesem Maße haben, vor allem nicht im Westen.

Die Konklusion ist, dass es nicht um die Ausmaße des Konfliktes geht, sondern um die Relevanz für Europa / den Westen. Ebenso wie wir stärker über den Angriff Russlands auf die Ukraine als damals über den Angriff Russlands auf Georgien berichten, einfach weil die Ukraine das Tor zu Europa ist und Georgien… not so much.

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Diese Einschätzung ist sicher nicht falsch, entspricht aber nicht ganz der Art und Weise wie politische Entscheidungsträger unsere Einsätze in bzw. Unterstützungen von Krisenregionen motivieren. Gerade der deutsche Einsatz in Afghanistan wurde ja immer wieder als Einsatz für die unterdrückte Zivilbevölkerung motiviert, was im globalen Kontext bizarr erscheint. Im Hinblick auf die Ukraine ist das Argument, dass wir hier das Völkerrecht verteidigen auch deutlich lauter als, dass wir auch unsere eigenen Interessen wahren.
Dass andere Länder solche Aussagen z.T. als heuchlerisch oder doppelmoralisch wahrnehmen ist daher kaum verwunderlich.

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Ich verstehe die Lage als Podcast für alles, was Deutschland gesellschaftlich oder politisch bewegt. Auch wenn es ein Stück weit traurig ist: Dafür gehen die Leute hier nicht auf die Straße.

Menschen haben eine begrenzte Aufmerksamkeitskapazität. Sich mit allen Konflikten der Erde näher zu beschäftigen, ist schlicht nicht möglich. Und wäre psychologisch wahrscheinlich auch viel zu belastend …

Das wäre vollkommen nutzlos. Gegen wen will man demonstrieren? Gegen die Menschheit? Was soll denn unsere Regierung dagegen effektiv tun?

Auch der Podcast hat zeitlich begrenzt. Deine implizite Forderung ist schlicht unrealistisch.

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Dennoch ist die Frage fair, warum man sich mit bestimmten Themen beschäftigt und mit anderen nicht. Und wenn das primär mit deutschen Interessen zu tun hat wäre es auch nur ehrlich das so zu kommunizieren. Das erlebe ich aber weder medial noch politisch besonders häufig.

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Ja, natürlich. Und immer, wenn die Kapazitäten begrenzt sind, muss man eine Auswahl treffen. Bewusst oder unbewusst. Ich denke, hier ist das Auswahlkriterium „Nähe“: Ukraine ist nun mal der Krieg, der uns regional am nächsten ist und Israel bzw. der Nahostkonflikt scheint uns mental näher zu sein als Konflikte in anderen Regionen der Welt. Einen „bösen Willen“ oder egoistische Interessenten vermag ich an der faktisch getroffenen Auswahl nicht erkennen.

Habe unten mal ein Video des funk Formats CRISIS verlinkt, dass sich mit Krisenberichterstattung beschäftigt. Hier werden 5 Gründe ausgemacht warum z.B. über den Jemen weniger berichtet wird als über die Ukraine:

  1. Nähe
  2. Spürbarkeit
  3. Interessen
  4. Beteiligte
  5. Machbarkeit
    Grundsätzlich ist daran m.E. auch nichts verwerfliches solange man sich dessen auch bewusst ist und es so offen kommuniziert, wie es z.B. dieses Format tut.
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Interessanter Beitrag, da sind tatsächlich noch ein paar Gründe drin, die durchaus relevant sind.

Bei der Nähe wird auch noch Urlaub erwähnt (vermutlich wirklich ein Punkt, in den meisten Krisenregionen gibt es kaum Tourismus, in Israel hingegen schon, bis hin damals zu Billigflügen mit Ryan Air…). Wer selbst mal in Israel war, für den ist ein Konflikt in Israel schon i.d.R. relevanter als einer im Jemen.

Bei den Interessen kann man anmerken, dass Israel im Außenhandelssaldo Deutschlands zumindest auf Platz 21 ist, für uns als Exportnation daher signifikant wichtiger ist als die meisten anderen Krisenherde, vor allem im Afrika.

Bei der Beteiligung ist es ein No-Brainer, dass Konflikte mit direkter oder indirekter Beteiligung des Westens (was bei Israel durch die US-Militärhilfe der Fall ist) einen höheren Nachrichtenwert haben.

Den Punkt der Machbarkeit finde ich aber tatsächlich in dem Video am wichtigsten, weil man sich darüber tatsächlich wenig Gedanken macht. Über die Ukraine oder Israel zu berichten ist wirklich einfach, weil sowohl die Ukraine als auch Israel Berichterstattung wünschen und halbwegs dafür sorgen können, dass die Medien auch mehr oder weniger sicher - zumindest in gehörigem Abstand zur Front - arbeiten können. In den meisten afrikanischen Ländern, in denen Bürgerkriege toben, ist das nicht der Fall - entweder gibt es einfach keine „handlungsfähige Regierung“, oder die Regierung hat gute Gründe, keine unabhängigen Journalisten vor Ort zu wünschen (siehe Jemen oder China im Hinblick auf die Uiguren).

Jetzt haben wir jedenfalls schon einige Gründe herausgearbeitet, warum gerade der Nahost-Konflikt und der Ukraine-Krieg so dominant in der Medienberichterstattung sind, während über andere Konflikte oft nur mit Zweizeilern berichtet wird. Das ist nicht optimal, aber ich halte die Gründe dafür auch für nachvollziehbar, vor allem im Hinblick auf Machbarkeit und die begrenzte Aufmerksamkeitsspanne des durchschnittlichen Rezipienten.

Es geht immer um einen geopolitischen Bezug Deutschlands oder unserer Partner. Die implizite Kritik Lino1 ist korrekt.
Das Auswärtige Amt beschrieb vor ein paar Jahren die Zustände in libyschen Auffanglagern als „KZ-ähnlich“. Hat sich bestimmt nicht geändert aber interessiert momentan auch keinen mehr

Wichtig finde ich, dass diese Gründe:

  1. dem Rezipienten bekannt sind
  2. von journalistischer Seite eingeordnet werden

Ansonsten kommt es nämlich schnell zu dem Fehlschluss, dass die Intensität der Berichterstattung mit der objektiven Relevanz oder Kritikalität des Konfliktes gleichgesetzt wird. Es gibt allerdings eine ganze Menge staatliche und individuelle Handlungen die nicht allein die Wahrung deutscher Interessen im Blick haben sollten. Da wären z.B. Spenden, Entwicklungshilfe, aber auch jedwedes Engagement zur Durchsetzung des Völkerrechts. Der o.g. Effekt hat damit eine selbstversärkende Wirkung. Wird nur über bestimmte Konflikte berichtet, dann engagieren wir uns auch verstärkt dort (weil es einfacher wird eine entsprechende demokratische Legitimation zu bekommen) und entsprechend wird auch noch mehr darüber berichtet.

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Nur zur minimalen Korrektur: sowohl die Ukraine als auch vor allem Israel setzt massiv auf embedded Journalism. Das heißt, Journalisten dürfen sich beim Regime auf Berichterstattung bewerben und werden dann vom Militär an Orte und Szenen geführt über die sie berichten sollen.

Im Journalismus wird intensiv darüber diskutiert, ob man im embedded Journalism überhaupt noch unabhängig ist. Ich tendiere dazu zu sagen, dass solche Journalisten per Definition nicht unabhängig sein können, denn erstens dürfen sich solche Journalisten nicht frei am Schauplatz bewegen oder mit Menschen reden. Stattdessen werden sie an ausgewählte, nicht generalisierbare und potenziell präparierte Orte geführt wodurch die Wahrheit verzerrt wird. Und zweitens müssen Journalisten bei abweichender Berichterstattung fürchten ihre Akkreditierung für solche embedded Berichterstattung zu verlieren.

Solche Berichterstattung ist somit keinen Deut besser als Staaten in denen Berichterstattung von außen ganz verboten wird. Vielleicht ist sie sogar schädlicher, da sie sehr einfach manipuliert werden kann.