Bahn-Kapitel im Lage-Buch

Guten Abend liebes Lage-Team,
Ich bin die letzten Jahre immer großer Anhänger eures Podcasts gewesen und habe ihn auch gerne an andere empfohlen. Ich habe mir jetzt auch das Buch gekauft und gestern das Kapitel über die Deutsche Bahn gelesen. Vielleicht kurz als Hintergrund: Ich arbeite seit einigen Jahren in verschiedenen Positionen und Konstellationen im Bahnsektor. Leider finde ich, mit meinem Branchen / Insiderwissen, dass das Kapitel an einigen Stellen nicht gründlich und objektiv genug recherchiert wurde und einem genaueren Faktencheck nicht standhält. Auch gemachte Vorschläge sind impraktikabel oder rechtlich nicht umsetzbar. Natürlich ist der Großteil des Textes inhaltlich korrekt, aber da wo ich inhaltlich Ungenauigkeiten sehe, möchte ich ein paar Gedanken oder Argumente einstreuen.

Auch wenn ich selber kein Jurist bin, schätze ich die juristischen Hintergründe und Analysen in der Lage immer sehr. Umso mehr habe ich eine juristische Analyse im Bahnkapitel vermisst. Die Eisenbahntransportmärkte in allen Mitgliedsstaaten der EU sind durch verschiedene Railway Packages der EU-Kommission vollständig liberalisiert worden. Der dadurch geforderte Wettbewerb auf der Schiene im Personen- und Güterverkehr wird wenig bis gar nicht angeschnitten. Er ist jedoch auf der deutschen Schiene eine gelebt Realität. Im Schienenpersonennahverkehr werden nur noch 60% aller Leistungen durch die DB erbracht. Im Güterverkehr verantworten die Wettbewerber mehr Verkehr als die DB (auch hier ca. 60 zu 40%). Und was auch an keiner Stelle erwähnt wird, dass der Wettbewerb allgemein zu einer gesteigerten Transportleistung führte (sowohl Personen als auch Waren). Auch das Qualitätsniveau ist durch den Wettbewerb in beiden Transportmärkten durch den Wettbewerb gestiegen, wie Investitionen in Neufahrzeuge, gesunkenen Bestellerpreise (von Industriekunden und Aufgabenträger der Bundesländer) und auch eine größere Kundenzufriedenheiten bei privaten Eisenbahnverkehrsunternehmen unterstreichen. Demzufolge habe ich mir bei der Lektüre des gesamten Kapitels immer gefragt wer oder was ist mit „Die Bahn“ genau gemeint ist.
Die Analysen und Recherche basiert zu einem Großteil auf Berichte und Beiträge von Autoren, welche aus meiner Perspektive etwas anachronistisch die alten Vibes der Bundesbahn der 1980er und 1990er Jahre wieder hervorbeschwören wollen. So sind Autoren wie Luik oder auch Bürgerinitiativen Prellbock Altona oder auch Stuttgart 21-Gegner häufig in die Kategorie Wutbürger bzw. NIMBY (welches ja treffenderweise im Windkraftkapitel erwähnt und kritisiert wird) einzusortieren. Die Kritik an der Strecke durch den Thüringer Welt oder der Schnellfahrstrecke Köln-Frankfurt hält einer empirischen Überprüfung in keinster Weise stand, wenn man wirklich an der Verkehrswende und an einem Modal Shift interessiert ist. Die Strecke durch den Thüringer Wald mag viele Milliarden verschlungen haben und über viele Jahre extrem stark kritisiert worden sein, sie hat aber zu einer massiven Änderungen des Modal Share beigetragen. In der Folge haben sich die Fahrgastzahlen zwischen Berlin, Halle / Leipzig, Nürnberg und München extrem positiv entwickelt. Inlandsflüge zwischen Berlin und Nürnberg gibt es mittlerweile gar nicht mehr und auch die Flugverbindungen nach München wurden stark reduziert und konzentrieren sich mittlerweile großteilig auf Zubringerflüge zur Langstrecke. Es sind auch sehr viele Menschen vom Auto auf die Schiene umgestiegen. Diese Entwicklung wird sich zum neuen Fahrplanwechsel weiter verstärken, wenn Berlin München auf einen 30 Minuten-Takt umgestellt wird. Das gleiche gilt für die Strecke Frankfurt-Köln. Eine ähnliche Entwicklung wird auch durch Stuttgart 21 und die angebundene Schnellfahrstrecke zu erwarten sein und das ist gut.

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Auch die Kritik an der „Bernhard-Vogel-Trasse“ ist nur bedingt begründet. Ja die Verkehr von Berlin nach Bayern fahren einen Umweg, gleichzeitig wurden aber auch andere Korridore (Berlin-Frankfurt oder Dresden-Leipzig- Frankfurt) sehr stark verschnellert und damit in der Modal Split Betrachtung stark aufgewertet. Auch das wird unterschlagen.

Auch die Reduzierung von Kopfbahnhöfen in Deutschland wie aktuell in Stuttgart oder Altona umgesetzt ist der logische Weg, um eine massive Kapazitätsausweitung und Zeitersparnis im Netz zu ermöglichen, die wie richtig festgestellt unbedingt erforderlich ist zur Einhaltung der Klimaziele. Neben einigen Strecken im Netz, welche durch eine parallele Schnellfahrstrecke entlastet werden müssen, wie zum Beispiel HH – HAN, Nürnberg – Würzburg, HAN– Bielefeld, FRA– Mannheim und FRA– Fulda sind die großen Knotenpunkte, insbesondere Kopfbahnhöfe schon heute Verspätungsherde. In dem Zusammenhang sind Frankfurt, Hamburg, Stuttgart, Köln (für viele ICE-Verkehre faktisch ein Kopfbahnhof) und München zu nennen. All diese Projekte stehen auch im Gutachterentwurf zum Deutschlandtakt und sind zwingend erforderlich, um das Wachstum, die betriebliche Stabilität zu ermöglichen, was sich alle wünschen. Es gibt eigentlich bei allen genannten Projekten Bürgerinitiativen mit Wutbürgern à la NIMBY (wie Prellbock Altona) …, die leider viel zu oft das Gehör von den entscheidenden Leuten finden, wie zuletzt bei dem Vorhaben eine Schnellfahrstrecke entlang der A7 von HH nach HAN zu bauen, welches maßgeblich auch von Lars Klingbeil verhindert wurde. Es sind häufig ältere Generationen, die wahrscheinlich nie von den Vorzügen, der anfänglichen teuren aber zwingend erforderlichen Infrastrukturen profitieren werden, wohingegen die Nutznießer: die Jungen die Zeit, das Geld oder das Durchsetzungsvermögen für eine Unterstützung der Zukunftsinvestitionen nicht aufbringen können. FFF hat zuletzt den Bau der Strecke HH-HAN gefordert als sich herausstellte, dass sie zu scheitern drohte. Das passiert leider viel zu selten.

Der vorgebrachte Punkt der Streckenstillegungen seit der gestarteten Privatisierung der DB geschuldet ist nur in Teilen richtig. Es waren viel mehr die Bundesländer, die auf vielen Strecken keine Verkehre mehr bestellt haben und stattdessen einen Busverkehr angeboten hat. Dass die DB Netz für eine Strecke ohne Verkehr die Instandhaltung einstellt kann man unter den ökonomischen Grundsätzen nachvollziehen. Viele dieser Strecken werden in den kommenden Jahren für viel Geld wieder reaktiviert. Der Vorwurf abgelegene Strecken zu vernachlässigen muss man in der Form eher an die entsprechenden Bundesländer richten, da ein ökonomischer Betrieb auf dieser Strecke nie wirtschaftlich sein kann.

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• Die Idee DB Fernverkehr und DB Regio zu fusionieren oder sich zu mindestens enger zu verzahnen ist komplett abwegig. Erstens machen sich beiden nahezu keine Konkurrenz, außer in einem sehr begrenzten Umfang, wenn Menschen vielleicht mit dem D-Ticket von Berlin nach Köln fahren, aber das ist vernachlässigbar. Viel mehr ergänzt der Regionalverkehr (und hier ist nicht nur DB Regio zu nennen) den Fernverkehr (und auch hier sollten wir nicht nur DB Fernverkehr nennen). Eine Pooling von Fahrzeugen ist den allermeisten Fällen aufgrund der technischen Parameter der Fahrzeuge in den wenigsten Fällen möglich, weil die Geschwindigkeiten, Kapazitäten Antriebsformen, Fahrzeuglängen uvm. in keiner Weise kompatibel sind. Zuletzt ist die ganze Idee auch wettbewerbsrechtlichen Gründen eine sehr heikle Angelegenheit. Die Geschäftskonzepte sind einfach viel zu verschieden und ein Cashpooling der einzelnen Gesellschaften bringt uns sicher nicht weiter.
• Die genannten Wettbewerbsvorteile der Luftfahrt gegenüber der Bahn sind richtig benannt. Es gibt aber auch viele andere Stellschrauben, wie die Bahn noch attraktiver gemacht kann. Eine Senkung der Trassenpreise (Schienenmaut) erhöht auch den Wettbewerbsdruck, welcher in vielen Märkten wie Italien, Spanien, Tschechien oder Schweden die Angebote stark ausgeweitet haben mit besseren Service zu niedrigeren Preisen und dadurch wachsenden Fahrgastzahlen.
• Auch die Umsetzung von gemeinsamen Standards analog zur Luftfahrt innerhalb Europas für internationale Bahnfahrten und zur Steigerung der Netzkapazität durch die Einführung des gemeinsamen europäischen Zugsicherungssystems ETCS (European Train Control Systems) könnte man nennen. Auch hier hinkt Deutschland mal wieder wie bei so vielem den internationalen Verpflichtungen hinterher.
• Die Relevanz der Mineralölsteuer im Bahnverkehr ist eher zweitrangig. Es geht hier eher um den Bahnstrom und seiner Steuern.

Grüße aus dem ICE :blush:

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Erstmal danke für die Einblicke, viele der Argumente waren mir so völlig neu. Ich Frage mich bei der Lektüre solcher Fäden immer, warum man dies nicht in der öffentlichen Diskussion erfährt - zB dass im Personenverkehr das Verhältnis DB /Private 40-60 ist… Gibt es hierzu irgendwelche Quellen? Das fände ich ja schon sehr spannend, weil man idR immer auf die Bahn schimpft…

Als Insider vllt noch Mal die Frage an dich: wie ist das Verhältnis denn im Regio Gegenüber dem Fernverkehr? Mein Gefühl ist zumindest, dass der Großteil der „nicht - DB“ Unternehmen nur im Regionalverkehr unterwegs ist - trifft das zu?

Hallo liebes Lage-Team,

Nur noch einmal zur Klarstellung der Marktanteile: DB im Regionalverkehr ca. 60%, im Güterverkehr ca. 40%. Im Fernverkehr beträgt es ca. 95%. Also ist deine Analyse richtig. Eine gute Quelle mit Zahlen und weiterem Material für qualifiziertes DB- und BMDV-Bashing findet man im aktuellen Mofair (Verband der Personenprivatbahnen) und die Güterbahnen (Äquivalent im Güterverkehr) Wettbewerbsbericht: https://mofair.de/wp-content/uploads/2023/10Broschuere_Wettbewerber_Report_Eisenbahnen_2023-24.pdf.
Natürlich sind beide Verbände starke Verfechter des Wettbewerbs und faire Wettbewerbsbedingungen, obgleich diese durch EU-Regulatorik eigentlich verankert sein sollte. Es gibt aber dennoch viele Themen, wo die Wettbewerbsbedingungen nicht fair sind.

Das Verhältnis zwischen Fernverkehr und Regionalverkehr unterscheidet sich sehr stark danach wie man misst. Wenn man die Leistung in Personenkilometer (also die Summe aller Kilometer, die alle Fahrgäste transportiert wurden) misst beträgt das Verhältnis etwa 55% für den RV zu 45% im FV . Bei einer Betrachtung der Zugkilometer (also gefahrene Kilometer aller Züge) liegt der Anteil des Regionalverkehrs ca. bei 80%, weil dort die Fahrzeugkapazitäten und Fahrtstrecken geringer sind. Gute Zahlen für Personenkilometer gibt es beim Statistischen Bundesamt: Statistisches Bundesamt Deutschland - GENESIS-Online: Die Datenbank<br/>des Statistischen Bundesamtes
Für die Zugkilometerbetrachtung eignet sich die Übersicht der Bundesnetzagentur:
https://www.bundesnetzagentur.de/SharedDocs/Downloads/DE/Sachgebiete/Eisenbahn/Unternehmen_Institutionen/Veroeffentlichungen/Marktuntersuchungen/MarktuntersuchungEisenbahnen/MarktuntersuchungEisenbahn2022.pdf?__blob=publicationFile&v=1

Meldet euch gerne, wenn ihr noch Fragen haben solltet.
Einen schönen Abend.

Hallo Allerseits, ich lese gerade das Bahnkapitel und bin über eine Aussage gestolpert: auf Seite 112 steht, der Zubau von Straßen beträgt deutschlandweit jährlich rund 10.000 km. Das entspricht jährlich einem knappen Drittel des gesamten Schienennetzes. Kann das sein? Ist damit nur der Neubau gemeint oder auch Sanierungen vorhandener Straßen? Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass jedes Jahr 10.000 km Straße hinzukommen…

siehe hier: 830.000 Km Straßen versus 38.400 Km Schienen sind aktuelle Zahlen zum gesamten Bestand.

Etas älterer Artikel aus dem Tagesspiegel: „… Nach Berechnungen des Netzwerks Europäischer Eisenbahnen (NEE), die dem Tagesspiegel vorliegen, wurden seit der Bahnreform 1994 bis Anfang 2018 gut 1700 Kilometer Eisenbahnstrecke in Deutschland neu gebaut beziehungsweise bestehende Strecken umgebaut und modernisiert. Verglichen damit sei das Straßennetz um rund 247.000 Kilometer gewachsen, erklärt NEE unter Berufung auf Zahlen des Bundesverkehrsministeriums (BMVI).“

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