Atomausstieg - wer hat's erfunden?

Hallo Lage,
danke für die wieder mal sehr erhellenden letzten Folgen!

Gleichzeitig möchte ich zur LdN376 ein Feedback loswerden, das ich schon bei der LdN331 hatte, aber nicht geschrieben hatte.

Die Frage ist: Wer hat den Atomausstieg erfunden? Und natürlich politisch durchgesetzt?
Mit anderen Worten: Wer darf sich den Atomausstieg auf die Fahne schreiben?

Für mich klang es in der Lage wiederholt so, dass ihr den Atomausstieg hauptsächlich Angela Merkel zuschreibt. Das ist historisch nicht korrekt.
Ja, sie ist uns zu dem Thema im Gedächtnis geblieben, weil sie eine interessante Rolle für den Atomausstieg gespielt hat. Aber sie ist alles andere als die Erfinderin oder politische Mutter des Atomausstiegs.

Aber erstmal zum Gesagten in der Lage:

Ulf, du sagtest in der LdN 376 bei 1:26:40 (Lage Plus):
„Also 16 JahreMerkel waren jetzt nicht nur eine Vollkatastrophe. Sie hat immerhin die Abschaffung der Atomkraft eingetütet.“

Okay, „eintüten“ ist ein dehnbarer Begriff. Das kann man sogar historisch so gelten lassen.

Historisch zumindest sehr missverständlich ist aber das, was du in LdN 331 bei 0:46:40 (Lage Plus) sagtest:
„Denn, und das finde ich, ist das Interessante an diesem Datum, dass es ja die GroKo beschlossen hat, nicht zuletzt auf Betreiben von Angela Merkel auch, dass tatsächlich die letzten Atomkraftwerke mit einem bestimmten Zeitpunkt vom Netz gehen.“

Die Fakten:

Den Atomausstieg - ich definiere ihn hier einmal als den Pakt zwischen Gesellschaft, Politik und Industrie, dass Deutschland aus der Atomkraft aussteigt und dessen Verankerung im Atomgesetz - hat Rot-Grün (Schröder I) im Jahr 2002 zustande gebracht.
Dieses politische Kunststück ist in meinem Verständnis „der Atomausstieg“ - und wenn man ihn auf Köpfe reduzieren will, heißen diese wohl Trittin und Fischer.

BASE - Atomausstieg.

Warum und wie kommt jetzt Angela Merkel ins Spiel?

Zunächst dadurch, dass sie in ihrer zweiten Legislaturperiode (Merkel II, 2009-2013, schwarz-gelb) den von Rot-Grün beschlossenen Atomausstieg zwar nicht vollständig rückgängig machte, aber ihn 2010 in Form der „Laufzeitverlängerung“ deutlich (immerhin um durchschnittlich 12 Jahre) nach hinten herausschob: Deutscher Bundestag - Laufzeitverlängerung von Atomkraftwerken zugestimmt

Fortsetzung meines gerade eröffneten und wohl zu langen Themas:

Von grüner Seite wurde dies scharf als „Ausstieg aus dem Ausstieg“ kommentiert.

Ein halbes Jahr später kam dann Fukushima. Mitte März 2011 die Reaktorkatastrophe, die gesellschaftliche Stimmung in Deutschland dreht sich klar gegen Atomkraft, 2 Wochen später bekommt Winfried Kretschmann bei der Landtagswahl in BaWü 24% und wird Ministerpräsident. Merkel reagiert, indem sie die gerade 6 Monate vorher beschlossene Laufzeitverlängerung wieder abräumt und einen doch wieder schnelleren Atomausstieg beschließen lässt: Den Ausstieg vom Ausstieg vom Ausstieg.

Was folgt daraus meines Erachtens?

  • Angela Merkel ist mit Blick auf den Atomausstieg - wie an der Abfolge der Ereignisse klar wird - eine zwielichtige Gestalt. Sie hat zunächst den Atomausstieg teilweise aufgehoben (!) - und dies dann nach Fukushima wieder korrigiert. Aufgrund der großen medialen Aufmerksamkeit damals ist sie uns witzigerweise als „die Atomkraft-Beenderin“ im kollektiven Gedächtnis geblieben. Aber wir sollten nicht vergessen, dass es dazu nur kommen konnte, da sie kurz vorher mit ihrer Regierung das Gegenteil durchgesetzt hatte.
  • Historisch ist der Atomausstieg Rot-Grün zuzurechnen. Da wir Menschen es ja gerne auf eine Person konzentrieren, wäre Jürgen Trittin wohl der, dem die Ehre gebührt.
  • Die Aussage aus der LdN 331, dass eine GroKo das Vom-Netz-Gehen der letzten Kraftwerke beschlossen habe, ist vermutlich einfach ein Versehen oder Versprecher? Die drei GroKos von Merkel haben nämlich genau keine großen Entscheidungen zur Kernkraft getroffen :wink:

Warum schreibe ich diesen großen Post mitten in der Nacht?
Nicht weil ich ein Merkel-Hasser wäre (so kam ich mir beim Schreiben gerade stellenweise vor), sondern weil ich finde, dass wir in hochwertigen Politik-Podcasts wie der Lage bei einer so zentralen politisch-gesellschaftlichen Entscheidung, die uns ja nicht zuletzt von fast allen anderen Industrienationen abhebt, präzise sein sollten in der politischen Zurechnung. Und die schien mir hier in der Lage - und genau das gleiche ist übrigens euren Kollegen von Machiavelli passiert - genau bei den Falschen zu landen.

Ich hoffe, dass ihr meinen Gedanken etwas abgewinnen könnt - und diese Korrektur vielleicht sogar für würdig für den Feedback-Block erachtet.

Macht es gut!
Lutz aus Köln

Du widerlegst deine Kernbehauptung in deinem eigenen Post. Ausser du bist der Meinung dass Merkel als Bundeskanzlerin nicht Teil der GroKo war?

VIelleicht nächstes Mal noch ne Runde drüber schlafen bevor mans abschickt :slight_smile:

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„Okay, „eintüten“ ist ein dehnbarer Begriff. Das kann man sogar historisch so gelten lassen.“

Damit sagt er nichts anderes, als dass der Atomausstieg ja eine über Jahrzehnte hinziehende Entscheidung ist, die gesellschaftlich getrieben war und die demokratische Mehrheit gefunden hat. Ich sehe ich auch keinen „Schuldigen“ sondern eher eine Leistung der gesamten Gesellschaft.

Ich halte aber insgesamt wenig von dem ganzen Argument, dass es ja die CDU oder die Grünen gewesen seien. Der verfrühte Ausstieg darf gerne Streitpunkt im Detail sein, insbesondere in Hinblick auf die Klimakatastrophe und dem verschlafenen Netzausbau, es bringt aber wenig dafür nun einen Schuldigen zu benennen.

So langsam gehört das ganze Thema allerdings in die Geschichtsbücher, es sei denn irgendwann gibt es mal ein erfolgversprechendes Paper, welches interessante forschungstechnische Neuerungen verspricht.

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Nein, tut er nicht. Merkel hatte ja nicht nur GroKos:

Was beim Ausstieg vom Ausstieg und Ausstieg vom Ausstieg vom Ausstieg bei mir im Hinterkopf schwirrt ist, dass dadurch höhere Entschädigungszahlungen an die Betreiber notwendig wurden. Das wäre dann wirklich Merkels Erbe, nicht, dass sie den Ausstieg doch nicht verhindert hat…

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Exakt. Merkel II war schwarz-gelb.
Und die haben - wie oben beschrieben - am Atomausstieg herumgefummelt, auch wenn das Ergebnis letztlich dann nicht sehr weit vom ursprünglichen rot-grünen Atomausstieg entfernt war.

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Ich glaube das wird in den nächsten Jahrzehnten, wenn sich Historiker unsere gescheiterte Klimapolitik anschauen auch einer der größten Kritikpunkte bleiben. Statt die Kohlekraftwerke abzuschalten und in Erneuerbare zu investieren wurden aus ideologischen Gründen zuerst die klimafreundlichen Kernkraftwerke abgeschaltet. Auch wenn es nichts bringt, Schuldige zu benennen, finde ich es doch ungerecht, dass diese Menschen nicht selbst erleben werden, welche Folgen ihr Handeln auf nachfolgende Generation hat.

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Wie kommst du auf ideologische Gründe? Ich sehe da schlicht eine Prioritätenabwägung die man kritisieren kann, nicht aber dass Gründe ‚ideologisch‘ seien in dem Sinne, dass ‚ideologisch‘ bedeutet, die Gründe seien herbeigeredet.

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Bitte nicht schon wieder die Atomkraftdiskussion…
In diesem Thread geht’s nur um die Frage, welchen Politikern oder Politikerinnen wir ihn zu verdanken haben.

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@Margarete

Vielleicht Putin. Behauptungen sagen, er hätte die Anti-Atomkraft-Bewegung in Deutschland gepusht, da es für ihn von Vorteil wäre, wenn Deutschland mehr russisches Gas kauft. Passt ggf. auch gut zusammen mit GasGerd und seinen „Atomkonsens“.

Das ist eine interessante These und vermutlich auch nicht ganz abwegig, gerade weil bei Anti-Atomkraft-Protesten auch Organisationen beteiligt waren, die durchaus Verbindungen nach Russland haben. Nach allem, was wir über russische Einflussnahme mittlerweile wissen, ist es daher durchaus denkbar, dass auch dort eine gewisse Einflussnahme stattgefunden hat.

Aber das ist eben auch nichts besonderes - wir könnten eben auch aufzählen, in welchen Bereichen transatlantisch geprägte Organisationen vermutlich auch Unterstützung aus den USA hatten, um einen gewissen Einfluss auf die politische Stimmung auszuüben. Von China wollen wir gar nicht erst anfangen. Also ich würde fast behaupten, dass das zum normalen, zu erwartenden Einfluss anderer Länder gehört, bestimmte Gruppierungen zu unterstützen… wir unterstützen letztlich auch weltweit Gruppen, die unsere politischen Ansichten teilen (z.B. Demokratiebewegungen).

Eine gewisse Unterwanderung der Friedensbewegung und der Anti-AKW-Bewegung durch Russland ist daher auch wahrscheinlich, aber ich denke realistisch betrachtet nicht, dass diese Einflüsse so dominant sind, dass sie zu gänzlich anderen Ergebnissen führen…

Natürlich haben die Grünen den ersten Ausstiegsversuch auf Ihrer Fahne stehen. Der wurde aber von Schwarze-Gelb ja abgeräumt. Fukushima leitete dann nur ein paar Monate später die erneute wende ein und die war so schlecht gemacht, dass die Kosten nahe zu komplett an der Gesellschaft hängenbleiben. Das war beim ersten Versuch noch anders.

Das allergrößte Problem, wo her glaube ich auch dieses aus meiner Sicht auch korrekte Merkel war’s kommt, das eben der Netzausbau und der Ausbau der EE gestoppt beziehungsweise nicht gemacht wurde. Auch das war mit dem EE Gesetz von Rot-grün vorher anders gemacht worden.

Unsere Minderleistung im Netz kommt ja genau daher, dass wir nicht schnell genug ausgebaut haben und das nicht aus technischen Gründen sonder aus politischen.

Dann noch den Kohleausstieg drauf gesetzt aber immer noch keine EE und Netz offensive mit gestartet, dass sind die Katastrophen der merken Regierung neben der Russland Politik.

Über die Reihenfolge erst Kohle dann Atom, alte Atommeiler die eigentlich eh alle am Lebensende waren hätte man nur mit Neubauten noch wirklich retten können das Thema in Deutschland.

Das Problem sind nicht die Ausstiege, sondern die Zerstörung der EE unter Merkel und dass soll mit diesem die Merkel war’s deutlich gemacht werden um der CDU den Wind aus den Segeln zu nehmen.

Ist vielleicht ein nachgeordneter Punkt, da das Ausmaß des Gasfeschäfts deutlich größer ist, aber ich würde hinzufügen, dass auch das Know-How und die Rohstoffe in der Atomindustrie von Russland strategisch eingesetzt werden. So bau(t)en staatliche russische Atomunternehmen in vielen Ländern Atomkraftwerke und Russland ist ein wichtiger Lieferant für Brennstäbe.

Edit, 10.4.: „Brennstoffe“ korrigiert zu „Brennstäbe“.

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Wladimir Wladimoriwitsch war zur Hochphase der Anti-AKW-Bewegung in den 1980er Jahren ein kleines Würstchen im Dresdner Büro des KGB…
Hatten die Sowjetunion und später Russland ein politisches Interesse an dieser Bewegung? eindeutig. Flossen Gelder von bestimmte Parteien/Menschen in dieser Bewegung? ziemlich sicher. Aber ob man deshalb davon reden kann, Moskau habe diese Bewegung „gepuscht“, also einen nennenswerten Einfluss gespielt? Aus meiner Sicht unklar.
Schon in den 1980er Jahren haben ja diverse Unions- aber auch SPD-Politiker die Haltung vertreten, dass eigentlich sämtliche Neuen Sozialen Bewegungen (ob nun Friedens-, Antiatom- oder Umweltbewegung) aus Moskau „gesteuert“ seien. Man darf einfach nicht vergessen, dass auch weite Teile der SPD Jahrzehntelang betonfest auf der Seite der Atomlobby standen. Das hat schon den von Trittin ausgehandelten Atomkompromiss (aka Ausstieg) geprägt.