Assange - wieso gibt es keinen Appell der Medienhäuser?

Als ich hier gelesen habe, dass sich die 5 Zeitungen der ursprünglichen Enhüllungsveröffentlichungen zu einem Appell zusammengeschlossen haben hab ich mich gefragt, warum nur diese 5?

Klar aus Sicht der Zeitungen macht es irgendwie ein bisschen Sinn Werbung für sich zu machen und sich zu glorifizieren, aber eigentlich sollte man doch erwarten, dass sich die Medienhäuser bei so einem Thema globaler zusammenschalten und Proteste und Appelle verfassen. Assange selbst ist natürlich eine schwierige Person und seine und Wikileaks Verstrickungen in Kremlnahe Gefilde in den letzten Jahren total problematisch. Aber das wird man doch wohl noch schaffen entsprechend abgrenzend zu formulieren und einen Konsen zu finden, dass es nicht darum geht, sondern um den Umgang mit journalistischen Veröffentlichungen für die er ja angeklagt ist in den USA. Hier geht es ja nichtmal mehr um die Vergewaltigungsvorwürfe.

Also ich verstehe nicht, dass es da nicht mehr Aktivität gibt bei den Medien, hier für ihre ureigenen Interessen einzustehen

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Das Thema wurde hier im DLF Podcast „Nach Redaktionsschluss“ aufgegriffen. Verehrt und verteufelt - Medien und ihr schwieriges Verhältnis zu Assange | deutschlandfunk.de

Im Grunde kam man zum Ergebnis, dass verschiedene Gründe dafür verantwortlich sind, dass darüber nicht berichtet wird. Die zwei wichtigsten:

  • Aufmerksamkeitsökonomie, das heißt kaum einer interessiert sich heute mehr für den Fall Assange. Die wichtigsten Dinge sind einfach schon lange her.
  • Die spezielle Person Assange. Spätestens infolge der (politisch motivierten) Verfolgung eines angeblichen Sexualdelikts und sein allgemein polarisierendes Auftreten ist er bei vielen Journalisten zu einem heißen Eisen geworden, für das man sich nicht unbedingt einsetzen möchte. Berichtet man kämpferisch über ihn wird man sich dem Risiko von feministischen Shitstorms gegen sich aussetzen. Das wolle nicht jeder.

Das pauschalisiert nun über „die Medien“, als gäbe es nicht auch Medien, die schon seit 2010 penetrant auf die Verschwörung gegen Assange hinweisen. Ein Tick weniger pauschalisierend ist die Frage, warum sich die westlichen Leitmedien anscheinend geschlossen weder für die Verfolgung der enthüllten US-amerikanischen Kriegsverbrechen oder der vom mehreren UN-Sonderberichterstattern erhobenen Foltervorwürfe gegenüber Ecuador und dem Vereinigten Königreich, noch dem schwedischen Justizskandal noch dem anscheinend erfolgreichen Einschüchterungsversuch auf den investigativen Journalismus interessieren. Möglicherweise haben sie sich erfolgreich einschüchtern lassen oder aber sie haben schlichtweg andere Interessen als allgemeinhin angenommen.

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Das Problem sind tatsächlich vorwiegend die schwierigen Persönlichkeiten der Betroffenen.

Assange ist nicht zuletzt nach den Anti-Hillary-Leaks einfach bei allen Seiten relativ unbeliebt, die Sexualdelikt-Vorwürfe tun ihr übriges dazu. Snowden hat jetzt die russische Staatsbürgerschaft - das wird natürlich gerne als Beweis angeführt, dass er kein „Whistleblower“, sondern ein „Verräter“ sei. Manning hat es richtig gemacht, aber seit der Begnadigung durch Obama ist der Fall abgehakt.

Medien sind da nicht anders als Politiker und Parteien - sie sind auf ihren guten Ruf angewiesen - und desto stärker man sich für Menschen mit fragwürdigem Ruf einsetzt, desto größer die Gefahr, dass der eigene Ruf darunter leidet. Die vielleicht etwas übertriebene Schlussfolgerung ist: Desto populärer ein Opfer staatlicher Gewalt ist, desto stärker wird man es öffentlich verteidigen. Desto unpopulärer es hingegen ist, desto eher droht die Gefahr, dass der Fall im Rahmen der Aufmerksamkeitsökonomie schnell aus dem Fokus der Berichterstattung gerät.

Und natürlich hängt es auch vom Interesse der Zivilgesellschaft ab. Gäbe es z.B. große „Free Assange“-Demonstrationen, würden die Medien darüber auch mehr berichten. 2020 kamen noch 500 Leute zu den „Free Assange“-Demonstrationen (was schon nicht weltbewegend viel ist), 2022 hat auch hier die Aufmerksamkeitsökonomie ihren Tribut gefordert…

Wenn der EGMR über die Auslieferung entscheidet wird es vermutlich noch mal eine Welle der Berichterstattung geben, aber von wirklicher Solidarität der Leitmedien gehe ich auch hier leider nicht aus. Wobei die Mehrheit der Medienberichte im Hinblick auf Assange schon zumindest kritische Untertöne gegenüber dem Verfahren in den USA haben. Aber halt nicht mehr.

Ich glaube den Beitrag hab ich sogar gehört, allerdings ging meine Frage hier eher nicht in Richtung Berichterstattung sondern wirklich wie in dem oben genannten Fall, warum richten nicht 100 oder 1000 Zeitungen/Medienanstalten koordiniert einen offenen Brief an die US Regierung sondern nur 5?

Verstehe. Ich denke die Antwort bleibt aber die gleiche. Aufmerksamkeitsökonomie und Assange ist nicht gerade der Sympathiebolzen für den sich viele Medienschaffende in die Schusslinie werfen würden.

@Daniel_K hat das ja auch ausführlich ausgeführt.

Weil der Paragraf nach dem er angeklagt werden soll, dermaßen breit angelegt ist, dass keiner Lust hat der nächste zu sein?

Es wäre eine Gelegenheit für Journalismus, Ausgewogenheit zu zeigen. Einen offensichtlichen Missbrauch der Justiz nicht breit zu behandeln, weil das Opfer nicht sympathisch sein soll, ist doch eher journalistisches Versagen. Die Abgrenzung in der Formulierung (wie @karma fordert) wäre nicht nur eine gute Übung der Schreibenden sondern eine Lehrstunde in juristischem Denken im weitesten Sinn für die Lesenden, also ein kleiner Bruch mit der Aufmerksamkeitsökonomie zugunsten von Gerechtigkeit. Das würde schon Spuren im Denken für alle hinterlassen, die sich damit erneut beschäftigen würden.

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Naja, also behandelt wird der Fall ja durchaus - und ich habe auch kaum Artikel gesehen, die nicht zumindest kritische Untertöne gegenüber dem Verfahren (und dem Ansinnen der USA generell) haben.

Strittig ist nur, wie präsent diese Berichterstattung sein sollte. Letztlich ist es halt ein Thema zwischen Großbritannien, Schweden, Australien und den USA, Deutschland ist nur peripher dadurch betroffen, dass wir natürlich auch die Wikileaks-Dokumente publiziert haben und dadurch viele kritische Handlungen der USA in Deutschland aufgedeckt wurden.

Daher ist es doch eine Frage der Relevanzeinstufungen seitens der Medien, ob sie die Sache ins maximale Rampenlicht stellen oder nur einen kleinen Artikel darüber bringen. Und da wird man nie allen Lesern der Zeitungen gerecht werden.

Daneben sind natürlich ökonomische Faktoren auch relevant. Würde eine breite Berichterstattung über Assange zu höheren Absätzen und Klicks führen, gäbe es wohl auch mehr Berichterstattung. Leider muss man allerdings konstatieren, dass das Thema Assange außerhalb bestimmter Aktivisten-Kreise häufig auf wenig Interesse trifft. Doof gesagt: der typische Bild-Zeitungs-Leser kann mit dem Thema kaum erreicht werden.

Also natürlich können wir uns beklagen, dass ein Thema, welches wir - aus guten Gründen - für sehr, sehr wichtig erachten, aus unserer Sicht zu wenig Beachtung findet. Aber wir haben auch nicht das Monopol darauf gepachtet, die Relevanzkriterien aller Zeitungen zu definieren.

Mich erinnert das an die gescheiterte „Invasion“ Venezuelas durch US-Söldner 2020, nachdem das Pentagon ein Kopfgeld auf die Festnahme Maduros ausgesetzt hatte. Das ist ein ähnlich krasser Verstoß gegen tragende rechtliche Grundsätze - und hier wurde für mein Empfinden viel zu wenig darüber berichtet, die Aktion hatte deswegen auch international gar keine Konsequenzen für die USA und ihr Söldnerwesen.

Manche Dinge, die wir für wichtig halten, gehen leider im Nachrichtendschungel weitestgehend unter, weil u.U. die großen Medien nicht unsere Relevanzeinschätzungen teilen.

Ich hatte mich auf das hier angesprochene Motiv der Zurückhaltung WEGEN schwacher Sympathiewerte des Angeklagten bezogen. Ein Gericht darf so nicht werten, die Medien tun es, sollten es aber umso weniger, je höher ihr Anspruch auf gute Berichterstattung ist.

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Ich denke, dem wird niemand widersprechen.

Das Ideal der Medien ist natürlich ähnlich wie das Ideal der Rechtsprechung: Es soll anhand der Fakten im Sinne einer Gerechtigkeit ohne Ansehen der Person entschieden werden.

Aber während wir als Bürger einen grundgesetzlich garantierten Anspruch darauf haben, dass die Rechtsprechung genau so handelt, sieht es bei den Medien genau umgekehrt aus: Hier haben die Medien einen grundgesetzlich garantierten Anspruch darauf, „frei“ zu handeln, daher gibt es hier gerade keine grundgesetzlichen Vorgaben. Anders gesagt: Das Grundrecht der Pressefreiheit aus Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG ist ein Abwehrrecht der Presse und kein (Einforderungs-)Recht der Bürger auf eine bestimmte Art der Berichterstattung, auch wenn diese gewünschte Art das Ideal guter Medienarbeit ist. Es ist somit sogar ein Recht der Presse, die Forderungen der Bürger an die Presse abzuwehren (indirekte Wirkung von Grundrechten - dh. wenn einige Bürger versuchen, die Pressefreiheit einzuschränken, hat die Presse ein Recht darauf, dass der Staat sie schützt…).

Das erzeugt natürlich ein großes Spannungsfeld. Dadurch, dass die Medien maximal von staatlichem Einfluss frei sein sollen, besteht natürlich die Gefahr, dass sich die Medien maximal negativ positionieren könnten. In unserer Wirtschaftsordnung besteht natürlich auch die Gefahr, das die Medien ihr Wirken darauf ausrichten, innerhalb dieser Wirtschaftsordnung optimal zu funktionieren - um zu expandieren, um die Mitarbeiter gut bezahlen zu können, um gesellschaftlichen Einfluss zu gewinnen (wie es die BILD leider getan hat…). Der Idealismus bleibt da schnell auf der Strecke. Dadurch geraten dann Aspekte, die auf die Rechtsprechung explizit keinen Einfluss haben dürfen, in den Mittelpunkt (z.B. Popularitätswerte). Medien müssen leider ihre Absatzzahlen / Zuschauerzahlen / Click-Zahlen in ihrer Planung berücksichtigen - und möglicherweise sogar die Interessen der größten Anzeigenkunden. Das schafft zwangsläufig massive Spannungsfelder zum oben genannten Ideal.

Ich will das nicht rechtfertigen, es ist lediglich eine Erklärung, warum die Ansprüche an Medien und Rechtsprechung zwar ähnlich sein mögen, die rechtlichen Grundlagen und die tatsächlichen Handlungszwänge aber eben ganz andere sind.

Mal abgesehen von den Medien. Unsere ‚Werte basierte‘ Aussenpolitik interessiert sich offenbar auch nicht für den Fall Assange.