Armutsbestrafung in deutschen Gerichten (aktuelle Langzeitbeobachtung)

Im AK wurde gerade ein sehr interessanter Artikel zur Armutsbestrafung auf Basis einer Langzeitbeobachtung der Außenstelle des Amtsgerichts Tiergarten, wo zwei Richter:innen in beschleunigten Gerichtsverfahren arme Menschen für „crimes of desperation“ teilweise sehr hart im Minutentakt bestrafen.

https://www.akweb.de/ausgaben/705/alltagsbarbarei-in-gerichtssaelen-prozesse-gegen-arme-menschen-armutskriminalitaet-klassenjustiz/

Würde sich auch schön an eure Folge zur Klassenjustiz anknüpfen.

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Ergänzend sei auf Ronen Steinke + sein Buch „Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich“ nebst Lageinterview in der Folge 330 https://lagedernation.org/podcast/ldn330-klassenjustiz-in-deutschland-interview-ronen-steinke-sz/ und auf den Verein „Freiheitsfonds“ verwiesen, der Menschen, die für Fahren ohne Fahrschein zu Ersatzfreiheitsstrafen verurteilt wurden, aus dem Gefängnis freikauft https://www.freiheitsfonds.de/.

Genau an die Folge hatte ich gedacht, als ich den Artikel gelesen habe. Vielen Dank für den Link! Aber wenn ich mich Recht erinnere, ging es in der Folge mehr um allgemeinere strukturelle Probleme der Justiz wie fehlender kostenloser Rechtsbeistand oder Ersatzfreiheitsstrafen, statt um eine Beschäftigung mit der Kriminalisierung von Armut und den Umgang mit den Beschuldigten.

Also der Bericht ist natürlich erstmal erschütternd, aber es stellen sich beim Lesen schon einige Fragen.

In den meisten geschilderten Fällen ging es um x-fache Wiederholungstaten. Also dass jemand, der eine Flasche Alkohol stiehlt und bereits 20 Eintragungen im Strafregister hat, „nur“ 90 Tagessätze bekommt, kann man wohl objektiv als „sehr gnädige“ Rechtsprechung bezeichnen. Natürlich kann man es für Falsch halten, dass es in solchen Fällen überhaupt zu einem Prozess kommt und fordern, dass statt der Strafjustiz vor allem Sozialarbeit notwendig wäre - aber von einem „harten Urteil“ kann man hier beim besten Willen nicht sprechen.

Das gilt auch für die vielen anderen Schilderungen. Der einzige Fall, der tatsächlich ein Skandal ist, ist der Fall der älteren Dame, die Ersttäterin ist und deren Verfahren wegen der Weisung des Staatsanwalts an seine ihn vertretende Rechtsreferendarin, generell keinen Einstellungen zuzustimmen, nicht eingestellt werden kann. Eine derart pauschale Anweisung entspricht mMn nicht der Sorgfalt, die bei der Ausübung von Staatsgewalt an den Tag zu legen ist.

Dem würde ich durchaus zustimmen. Der Frust über die aktuelle Rechtslage sollte sich aber gegen den Gesetzgeber richten, der eben im StGB einzig Geld- und Haftstrafen vorsieht. Eine Einstellung bei der x-ten Wiederholung ist der Bevölkerung nur schwer vermittelbar, wenn man diese Einstellung nicht mit anderen (verpflichtenden) Hilfestellungen flankieren kann, die einer weiteren Straffälligkeit entgegen wirken.

Die Frage ist letztlich: Wie gehen wir als Gesellschaft mit armen Menschen, die i.d.R. auch psychische Probleme haben, um, wenn diese zahlreiche (im Einzelnen geringfügige, aber in der Masse problematische) Straftaten begehen? Beim Schwarzfahren bin ich tatsächlich für „Ignorieren“, da hier i.d.R. kein relevanter Schaden entsteht. Aber Diebstählen im Einzelhandel kann man alleine um des sozialen Friedens Willen nicht ignorieren, da die Einzelhändler auf die Barrikaden gehen würden (was verständlich ist, weil hier natürlich reale Schäden entstehen, die wohl auch deutlich steigen würden, wenn man es ignorieren würde).

Es ist wieder ein typisches Dilemma - dass in Berlin für diese - zumindest juristisch betrachtet - „einfachen Fälle“ mit i.d.R. geständigen Tätern ein Schnellverfahren etabliert wurde, sehe ich nicht als Wurzel, sondern als Symptom des Problems. Die Wurzel sind Defizite im Sozialsystem, denn die hier betroffenen Menschen brauchen in der Regel Hilfe in einer Intensität, die aktuell vom Sozialsystem nicht zu stemmen ist.

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Als Vater würde ich das nicht gut finden, denn dem Teenager dürfte es schwer vermittelbar sein warum jmd. mit Bürgergeld gegen Regeln verstoßen darf, das Teenagerlein jedoch nicht.

Wäre es nicht sinniger diesen Menschen generell eine ÖPNV-Fahrkarte als staatliche Leistung zur Verfügung zu stellen?

Und aus persönlichen Erleben: Wie gehen wir mit „Vandalismus“ um? Auf dem Weg zur Arbeit durfte ich diese Woche neben einem bemittleidenswert anzuschauenden Obdachlosen in der Berliner U-Bahn stehen, der sich auf seinem Platz sehr bewusst aus Provokation einnässte. Hat ihn nicht gestört, die Mitreisenden schon und die BVG bei Dienstende sicher auch.

Das halte ich für Augenwischerei. Zum einen müsste erstmal nachgewiesen werden, dass die aktuelle Verfolgung überhaupt abschreckend wirkt. Zum anderen ignorieren wir bereits sehr größere Umfänge von Diebstahl: Der Schaden durch Ladendiebstahl beläuft sich aktuell auf 3,7 Milliarden Euro (das sind etwa 0,5% des Gesamtumsatzes), also eine sehr überschaubare Größe. Dagegen beläuft sich der gesamte Lohndiebstahl in Deutschland auf über 20 Milliarden Euro.

Aber das kommt natürlich den Unternehmen zugute, deshalb wird das nicht kriminalisiert.

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Die Vermutung liegt nahe, dass es bei solchen Fällen weniger um kriminelle Energie, als um psychische Erkrankungen/Alkoholsucht/etc. geht. Das Strafrecht kann dafür überhaupt keine Lösung bieten, hat aber durchaus das Potenzial, die Situation für den Betroffenen zu verschlimmern.

Wir sollten uns als Gesellschaft bei solchen Sachen ehrlich machen und nicht der „billigen“ (aber in der Realität natürlich enorm ressourcenintensiven) Genugtuung der Bestrafung auf den Leim gehen. Bei solchen „Straftätern“ ist das nächste „Delikt“ doch schon vorprogrammiert, eine dauerhafte Kreis aus Delikt und Strafe wird nötig, um das Gefühl des „sozialen Friedens“ aufrechtzuerhalten.

Wenn man aber zum Beispiel auf den Fall des Obdachlosen die Perspektive und die Wortwahl verändert, wird schnell klar, was hier die eigentliche Aufgabe der Gesellschaft ist: „Ein älterer (?), geistig verwirrter Passagier im örtlichen ÖPNV hat die Kontrolle über seine Blasenfunktion verloren.“ Das ist auf einmal kein Fall für den Strafvollzug mehr, sondern für eine finanziell gut ausgestattete Sozialstation und eine darauf folgende intensive psychologische und medizinische Betreuung.

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Ich bin da ganz bei dir. Daher habe ich die Frage durchaus offen gestellt. Klar der Mann ist erstmal ein Fall für den Sozialdienst.

Was aber wenn er die Hilfe ablehnt? Was wenn er weiter aus Verachtung der Gesellschaft, die ihn hat hängen lassen als er noch erreichbar war, mutwillig so etwas tut?

Und wie erklären wir das sehr kleinen Kindern, die solche Situationen mit ansehen bzw. aushalten müssen (bspw. bei aggressiven Menschen). Klar kann ich ihnen erklären (und mache das auch), dass da jmd verwirrt ist, aber manch einer macht das auch ganz bewusst.

Oder vor zwei Wochen fuhr ich mit der S-Bahn nach Berlin rein und saß mit meinem Sohn in der Nähe eines ebenfalls mittellos wirkenden Typen, der offensichtlich durch wahr (Drogen) und aggressiv mit seinem Messer gespielt hat. Mein Sohn war anfangs interessiert, schnell aber eher ängstlich. Wir mussten uns dann durch die überfüllte S-Bahn drängen bis er sich wieder sicher fühlte.

Ich glaube nicht, dass hier Sozialarbeit helfen würde, ebenso wenig wie eine Geldstrafe natürlich.

Absolut!

Das ist leider Whataboutism. Natürlich gibt es größere Probleme, aber forderst du wirklich, Diebstähle zu ignorieren? Selbst wenn die aktuelle Situation nur begrenzt abschrecken sollte (der Aussage würde ich durchaus zustimmen!) ist es glaube ich nachvollziehbar, dass wenn sich im Obdachlosen-Milieu herum spricht, dass gegen Diebstähle gar nicht mehr eingeschritten wird, die Zahl der Diebstähle in diesem Bereich jedenfalls nicht sinken wird.

Also ich glaube schon, dass man sagen muss, dass man hier irgend etwas tun muss. Dass das Strafrecht hier nicht das richtige Mittel ist, dem stimme ich ja zu, aber gar nichts zu tun halte ich für ähnlich problematisch.

Absolute Zustimmung. Das macht die Sitaution eben zu dem Dilemma, die es ist: Es scheint keine wirklich praktikable Lösung zu geben.

Das zentrale Problem ist hier, dass solche Dienstleistungen alle auf Freiwilligkeit basieren. Die Behörden dürfen erst mit Zwang agieren, wenn eine akute und erhebliche Selbst- oder Fremdgefährdung vorliegt. Das bedeutet in der Praxis dann, dass selbst wenn man weiß, dass der Obdachlose jede Hilfeleistung aus Krankheitsgründen ablehnt, diesem nicht gegen seinen Willen geholfen werden kann. Das halte ich für ein riesiges Problem, welches letztlich ein Umschwenken in’s gegenteilige Extrem aus der NS-Zeit ist, als psychisch kranke Menschen gegen ihren Willen „behandelt“ (eher: misshandelt) wurden.

Das einzige, was hier helfen könnte, wäre tatsächlich das Strafrecht mit der Möglichkeit der Nebenstrafe einer zwangsweisen Einweisung in eine Drogenentzugseinrichtung („Therapie statt Strafe“). Aber auch damit tun wir uns weiterhin relativ schwer (und natürlich ist eine Therapie erfolgversprechender, wenn sie freiwillig aufgenommen wird, aber um die Leute dazu zu bekommen braucht es weit mehr Sozialarbeit, als wir aktuell leisten können).

Erstmal ist so eine Erfahrung natürlich erstmal nur bescheuert und bedauernswert. Das muss man glaube ich nicht schönreden.

Doch. Ich hatte vor einigen Jahren mal beruflich Anlass, die Resozialisierung von Bürgerkriegskämpfern (auch Kindersoldaten) in Westafrika zu recherchieren. Da gibt es sehr erfolgreiche Projekte, die „cognitive behavorial therapy“ koombiniert mit finanzieller Unterstützung eingesetzt haben, um diese jungen Männer (gegen deren Probleme und Historie die meisten „Problemfälle“ hier in Deutschland lächerlich sind) wieder gesellschaftlich zu integrieren: https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=2594868

Das braucht Zeit und finanziellen Einsatz, aber es ist praktisch allen Fällen absolut möglich, davon bin ich überzeugt.

Kinder müssen so oder so lernen, mit verwirrenden und scheinbar/real bedrohlichen Szenarien umzugehen – und zwischen diesen Szenarien zu unterscheiden. Mein Sohn ist geistig schwerbehindert und verhält sich im öffentlichen Raum oft nicht „normal“. Das hat nie die Gefährdung anderer Menschen zur Folge, aber insbesondere Kinder, die im privaten Umfeld keinen Umgang mit behinderten Menschen haben, reagieren darauf oft ängstlich/verstört. Ist darauf die richtige Reaktion die Entfernung meines Sohnes aus der Öffentlichkeit? Sicher nicht, vielmehr gibt es eine gesamtgesellschaftliche und darüber hinaus spezifisch die Eltern betreffende Pflicht, Kinder auf die Komplexität ihrer gesellschaftlichen Umwelt vorzubereiten und ihnen beizubringen, damit konstruktiv umzugehen. Darin schließe ich mich ausdrücklich ein, denn ich habe ein zweites („normales“) Kind, dem ich diese Komplexität auch vermitteln muss.

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Wenn Menschen in solchen Situationen landen haben sie meist schon Jahre, manchmal Jahrzehnte an „Geschichte“ hinter sich. Der Fehler liegt hier nicht darin, dass es rechtlich schwer möglich ist einem Menschen kurzfristig die Entscheidungsgewalt über seine Behandlung zu entziehen. Vielmehr leiden wir unter einem System in dem die durchaus möglichen Hilfs- und Begleitungsmaßnahmen aus Gründen der Überlastung und Unterfinanzierung der zuständigen Stellen oft einfach nicht umgesetzt werden – bis die Lage so weit eskaliert, dass die Mittel der (kurzfristigen) Sozialarbeit nicht mehr praktikabel sind und man die Rettung im Strafrecht sucht.

Zum Beispiel ist meine Schwester Grundschullehrerin in einem „anspruchsvollen“ Berliner Stadtteil. Wenn sie dort eine Anzeige an das Jugendamt wegen Kindeswohlgefährdung stellt, passiert in der Regel gar nichts, weil die Ämter weder die Motivation, noch die Ressourcen haben, um sich auf eine schwierige und langwierige Auseinandersetzung mit wenig kooperationsfähigen oder -willigen Eltern einzulassen. Die vorhandenen Möglichkeiten werden nicht ausgeschöpft, bis das Kind irgendwann vor dem Jugendrichter landet.

Ja, genau das fordere ich. Von mir aus können Einzelhandelsketten das selbst übernehmen, wenn sie der Meinung sind, dass es sich lohnt.

Wie wäre es dann, stattdessen Obdachlosigkeit zu bekämpfen? Und nicht Leute dafür zu bestrafen, dass sie arm sind.

Und zuletzt:

Es ist nicht alles Whataboutism. Du hast das Argument gebracht, dass man Diebstähle „um des sozialen Friedens willen“ nicht ignorieren kann. Da ist es angebracht, herauszustellen, dass vergleichbare Diebstähle bereits jetzt ignoriert werden, ohne dass der soziale Frieden davon zerstört wurde.

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Ich finde es schade, dass diese Diskussion auch wieder so aufgeladen wird, dass man das Gefühl hat, dass sich starke Lager im Sinne von Freund-Feind bilden. Wir sind doch alle der Meinung, dass es extrem problematisch ist, dass arme Menschen in Multi-Problem-Situationen mit dem ungeeigneten Mittel des Strafrechts behandelt werden. Uneinigkeit besteht eher darin, welche Mittel besser wären und welche Implikationen verschiedene Lösungen für die gesamte Gesellschaft haben.

Ich kann nur nochmals betonen, dass es sich mMn um ein Dilemma handelt, es daher gerade keine einfachen Lösungen gibt - und solche einfachen Lösungen zu beschwören („Obdachlosigkeit bekämpfen“, „Mehr Sozialarbeit löst alle Probleme“) ist nicht wirklich hilfreich, wenn diese einfachen Lösungen tatsächlich - zumindest aktuell - nicht umsetzbar sind.

Der Sinn des staatlichen Strafwesens ist gerade, dass es nicht den Bürgern (oder ihren Verkörperungen in Form von z.B. Unternehmen) überlassen bleibt, ihr Recht erkämpfen zu müssen, sondern dass der Staat hier das Monopol hat. Nur auf dieser Grundlage können wir Unternehmen z.B. dann auch verpflichten, Obdachlose (oder andere verwahrlost aussehende Menschen) nicht einfach den Zugang zu ihren Filialen zu verbieten. Und nur so verhindern wir Selbstjustiz. Was denkst du, wird passieren, wenn man dem Einzelhändler sagt: „Wir tun nichts gegen Diebstähle durch Obdachlose“. Welche Lösungen wird der Einzelhandel finden? Das endet damit, dass erwischte Obdachlose körperlich misshandelt werden - oder gar noch schlimmeres. Selbstjustiz eben. Oder eben Obdachlose schon am Eingang verscheucht werden. Das kann doch auch nicht das Ziel sein. Staatliche Untätigkeit ist hier meines Erachtens keine Option - nochmal: Ich stimme absolut zu, dass das Strafrecht kein geeignetes Instrument ist, aber der Staat muss irgendetwas wirkungsvolles tun, um solche gesellschaftlichen Konflikte wie zwischen Obdachlosen und Einzelhändlern zu lösen - er kann und darf sich da nicht rausziehen!

Das bisher in diesem Post geschriebene erläutert hoffentlich, was mit „sozialem Frieden“ gemeint ist. Damit ist gemeint, dass der Staat dadurch, dass er das Eigentum des Bürgers oder Unternehmens schützt, den Anspruch erheben kann, Selbstjustiz und Ausgrenzung zu verbieten.

So zu tun, als würden Lohndiebstähle oder Steuerhinterziehung gar nicht bekämpft, ist auch falsch. Auch in diesen Fällen ist glas klar, dass die Leute, wenn sie denn erwischt werden, strafrechtlich belangt werden. Nur ist es leider ungleich schwieriger, diese Menschen zu erwischen und in der Tat gibt es Fälle, in denen man das Gefühl haben kann, dass bestimmte Volksvertreter in Parteien oder hohen Ämtern die Verfolgung blockieren. Genau das macht es aber zum Whataboutism:

Wir können gerne darüber diskutieren, dass Lohndiebstahl / Steuerhinterziehung massive Probleme sind und dass diese Probleme bei weitem nicht stark genug verfolgt werden. Das kann aber kein Argument sein, in anderen Strafsachen ebenso falsch zu handeln. Es gibt gute Argumente, warum die Nutzung des Strafrechts gegen Armutsbetroffene problematisch ist, Verweise auf andere Problembereiche sind hier einfach nicht notwendig.

Ich finde gerade diese Denkweise eben enorm problematisch. „Es gibt keine einfachen Lösungen“ führt oft dazu, dass gar kein Lösungsversuch unternommen wird - auch wenn ich nicht sagen will, dass das immer die Intention hinter so einem Argument ist. Gleichzeitig sorgt es auch dafür, dass Lösungsvorschläge aus der Mitte der Gesellschaft abgeschmettert werden, um das Ganze dann im Expert:innengremium zu diskutieren. Am Ende schadet das der demokratischen Partizipation. Ich glaube, dass die angebliche „Komplexität“ oft nur ein Schutzschild ist und nicht den Tatsachen entspricht.

Naja, da hast du jetzt aber ganz schön viel aus meiner Aussage extrapoliert. Ist vielleicht auch meine Schuld, weil ich nicht präzise genug war. Ich will natürlich nicht, dass im Einzelhandel Obdachlose niedergeknüppelt werden. Das ist Körperverletzung und sollte strafbar bleiben. Meine Aussage zielt eher darauf ab, dass Einzelhändler:innen ja zivilrechtlich gegen Diebstahl vorgehen könnten.

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Niemand hat behauptet, dass mehr Sozialarbeit „alle Probleme löst“. Das ist eine ziemlich komische Verkürzung der Argumente, die hier vorgetragen wurden, vor allem wenn du dich über eine „aufgeladene“ Diskussion beschwerst.

Außerdem ist es meiner Ansicht nach ein zumindest unglückliches Missverständnis, wenn man die Forderung nach mehr Sozialarbeit oder der Bekämpfung von Obdachlosigkeit als „einfache Lösung“ versteht. Die Umsetzung solcher Maßnahmen ist komplex und ressourcenintensiv, das ist glaube ich jedem klar, der solche Vorschläge macht. Das ändert aber nichts daran, dass hier die tatsächlichen Lösungen liegen.

Und wenn wir nicht über Dinge diskutieren dürfen, die „aktuell nicht umsetzbar“ sind, warum diskutieren wir dann eigentlich? Weil Lindner sagt, er hat kein Geld für Sozialarbeiter oder die Bildzeitung sowas als links-grünen Blödsinn beschimpft darf ich nicht darauf hinweisen, dass das die richtige Lösung wäre? In Diskussionen über Politik geht es auch immer darum, die Bandbreite des Denkbaren zu erweitern.

Wir können uns gerne darüber unterhalten, wie die Details hinter den Schlagworten wie „Obdachlosigkeit abschaffen“ und „mehr Sozialarbeit“ aussehen würden. Aber diese (sinnvollen und in anderen Kontexten erfolgreich umgesetzten) Lösungsvorschläge einfach beiseite zu wischen weil man sie nicht auf Anhieb versteht oder ihnen zustimmt ist kein konstruktiver Beitrag zur Debatte.

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Aber es muss doch klar sein, dass der Einzelhandel das nicht akzeptieren wird, aus absolut nachvollziehbaren Gründen:

Bei Armutsbetroffenen, die stehlen, wird in 100% aller Fälle - ohne jede Ausnahme - zivilrechtlich „nichts zu holen“ sein, daher: Der Einzelhandel wird hier nicht nur auf ein unwirksames Mittel verwiesen, sondern auf ein Mittel, das ihm effektiv noch Schaden zufügt, da er die Prozesskosten tragen müsste, weil er auch diese nicht erfolgreich geltend machen kann.

Also du kannst den Einzelhandel nicht auf ein wirklich offensichtlich nicht wirksames Mittel verweisen und gleichzeitig erwarten, dass sich keine Selbstjustiz entwickeln wird. So funktioniert das leider einfach nicht.

Die Tatsache, dass du keinen Staat finden wirst, der diese Probleme zufriedenstellend löst, zeigt, wie komplex und schwierig das Problem ist. In allen Staaten gibt es Obdachlosigkeit und psychisch kranke Menschen. Gegen Obdachlosigkeit scheint ein „Housing First“-Programm wie in Finnland am erfolgversprechendsten, aber in Zeiten, in denen 800.000 Wohnungen in Deutschland fehlen, können wir uns wohl zumindest darauf einigen, dass das Problem nicht „über Nacht“ zu lösen ist, sondern mit weiteren, schwierig zu lösenden Problemen verknüpft ist.

Wir sind hier doch generell auf einer Seite, deshalb verstehe ich die Schärfe nicht, mit der diese Diskussion geführt wird. Ich bin selbst Diplom-Sozialarbeiter (wenn ich auch seit Jahren nicht mehr in dem Bereich arbeite, was auf ein weiteres Problem dieses Sektors hinweist!) und stimme doch absolut zu, dass Strafrecht nicht die Lösung ist. Ich sage nur, dass die Lösung ebenso wenig ist, einfach gar nichts zu tun, was z.B. ganz konkret Diebstähle im Einzelhandel betrifft - und ich denke, dass ich die Argumente dafür gut dargelegt habe.

Die Problematik bleibt, dass wir hier erhebliche Änderungen brauchen, die Jahrzehnte brauchen werden, bis sie wirken - wenn man sie heute starten würde, wozu aber sowohl das Geld (dank Lindners Festhalten an der Schuldenbremse) als auch das Personal fehlt. Wir haben schlicht zu wenig Wohnungen, Sozialarbeiter, Psychotherapeuten usw. um das Problem zu lösen und ich sehe nicht, wie sich diese Situation mit der aktuellen Regierung, geschweige denn in Anbetracht des aktuellen politischen Klimas in den nächsten Regierungen lösen lässt.

Exakt darum geht es mir. Ich bin doch nicht dagegen, dass wir mehr Sozialarbeiter einstellen und die Obdachlosigkeit abschaffen - du scheinst mich hier grundsätzlich misszuverstehen. Es geht mir darum, dass einfache Antworten wie „Der Staat soll halt einfach nichts gegen Diebstähle im Einzelhandel machen“ nicht funktionieren und allgemeine Floskeln wie „Mehr Sozialarbeit“ oder „Obdachlosigkeit abschaffen“ auch nicht weiterhelfen.

Supermärkte haben extrem kleine Gewinnmargen - Verluste durch Diebstahl sind also nicht marginal.

Supermärkte und Discounter in Deutschland - IBISWorld.

Genauso ist eine Privatisierung der Strafverfolgung durch Supermärkte wie in diesem thread gefordert nicht wünschenswert.

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Ja, aber es gibt enorme Unterschiede in der Prävalenz und den Effekten von Obdachlosigkeit und psychischer Erkrankung zwischen unterschiedlichen Gesellschaften und über relativ kurze Zeiträume hinweg: Homelessness - Our World in Data

Das demonstriert, dass es durchaus umsetzbare „best practices“ gibt, die zu einer deutlichen Verringerung dieser Phänomene führen können – so man sie mit Berücksichtigung des jeweiligen Kontextes auch umsetzt und konsequent an ihrer Verbesserung arbeitet.

„Über Nacht“ sicher nicht, aber mit den nötigen Ressourcen deutlich schneller, als das viele Menschen glauben wollen. In reichen Gesellschaften wie unseren ist die Existenz von Armut weitgehend eine Entscheidung, keine Notwendigkeit. Armut kann man abschaffen, weil Armut in fast allen Fällen die Folge von zu wenig Geld ist.

Dann gibt es sicher noch Fälle, in denen komplexe psychologische Notlagen, soziale und familiäre Umstände usw. eine Rolle spielen. Aber auch hier könnten die allermeisten Fälle durch eine rechtzeitige Intervention der sozialen Dienste Eskalationen verhindert werden – was wiederum auch nur durch die zur Verfügung stehenden Ressourcen begrenzt wird.

Mehr Sozialarbeiter auszubilden und einzustellen würde natürlich ein paar Jahre dauern, genauso wie die Zahl der Lehrer zu erhöhen, mehr Erzieher einzustellen, mehr Jugendzentren zu bauen, usw. Aber wir reden hier – den nötigen gesellschaftlichen und politischen Willen vorausgesetzt – über Jahre, nicht Jahrzehnte.

Und was den fehlenden Wohnraum angeht: Es gibt in Deutschland etwa 600.000 „Wohnungslose“, wobei davon etwa zwei Drittel Ausländer sind, die in dieser Statistik erfasst werden, weil sie in Sammelunterkünften leben (z.B. Asylbewerber). Der Bau von 200.000 Wohneinheiten durch die Kommunen würde meiner Schätzung nach ca. 30 Milliarden Euro kosten und ca. 2 Jahre dauern und wäre als Sondervermögen auch unter den Bedingungen der Schuldenbremse problemlos finanzierbar, da der Staat ja hier „in Beton“ investiert.

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Wie gesagt, das sind keine „einfachen Antworten“, weil sich sehr viele kompetente Menschen schon sehr viele Gedanken darüber gemacht haben, wie man diese Schlagworte mit Inhalt füllt. Zu vielen Aspekten haben ich und andere in diesem Thread und anderen Stellen hier im Forum schon was geschrieben. Wenn dich was konkretes interessiert, frag halt konkret nach.

Wie gesagt, ich stimme dir grundsätzlich in allen Punkten zu, auch wenn ich beim zeitlichen Horizont der Umsetzbarkeit etwas pessimistischer bin (wir reden halt immer noch von Deutschland; also selbst wenn der politische Wille und das Geld da wäre…).

Wir haben in diesen Dingen absolut keinen Dissens. Einen Dissens haben wir bei der Frage, was wir in der Zwischenzeit, bis etwaige Lösungen umgesetzt sind, tun sollten. Und hier, um beim Beispiel des Armutsdiebstahls zu bleiben, kann es eben keine Lösung sein, den Einzelhandel darauf zu verweisen, dass man ja plant, Obdachlosigkeit und Armut langfristig zu bekämpfen und deshalb nichts tun müsse. Selbst wenn wir Obdachlosigkeit und Armut besser bekämpfen, als das beste reale Land aktuell, bleibt immer noch ein Grundstock an Problemfällen vorhanden (wie gesagt, nicht jeder psychisch kranke Mensch, der auf der Straße lebt, wird sich von einer Behandlung überzeugen lassen). In diesen Fällen bleibt immer noch die Frage: Wie gehen wir mit diesen Menschen um?

Vielleicht ist es tatsächlich das, was mich an diesen „einfachen Lösungen“ stört: Es lenkt von der eigentlichen Frage ab. Stimmst du zu, dass es selbst in einem idealen realistischen System (also keiner kompletten Utopie, sondern einem realistisch zu unserer Lebenszeit erreichbaren Zustand) noch die oben genannten Problemfälle geben wird, wenn auch in kleinerer Zahl?

Falls ja, kann das Argument „Obdachlosigkeit bekämpfen“ und „Armut abschaffen“ keine Antwort auf die Frage sein, wie wir als Gesellschaft mit den Fällen umgehen, die sich nicht lösen lassen. In diesen Fällen stellt sich weiterhin die Frage, was zu tun ist:

  • Nichts? Das kann man wie gesagt den Betroffenen nicht abverlangen, ohne das es zu Selbstjustiz kommen wird, so realistisch müssen wir wirklich bleiben.
  • Behandlung gegen ihren Willen? Also Obdachlose / psychisch kranke Menschen, die eine Behandlung ablehnen, gegen ihren Willen geschlossen verwahren und medikamentös einstellen?
  • Oder wie aktuell das Strafrecht?

Alle drei Optionen sind auf ihre eigene Art extrem problematisch. Deshalb bleibt hier die Frage: Was sind die Alternativen? Und von dieser Frage sollte nicht abgelenkt werden.