Arm, Reich und irgendwo dazwischen – Wer lebt wie?

Beim Hören der Folge 346, Thema Erhöhung Bürgergeld ist mir aufgefallen, wie absurd mir das alles vorkam. Der Kommentar kurz vor Schluss „von 563€ willste nicht leben“ schien mir absurd, weil ich als Student seit Jahren damit lebe. Bafög Regelsatz sind 812€. Ich zahle in einer Kleinstadt für mein Zimmer knapp unter 300€. Und das ist günstig: Freunde von mir in der Großstadt zahlen auch mindestens das doppelt. Da kommt man auf Bürgergeld, bzw. in Berlin auch krass drunter. Ein bisschen nebenher noch arbeiten, dann geht’s wieder, aber dann leidet halt das Studium.
Mir kam das immer normal vor! Aber anscheinend lebe ich am Existenzminimum? Ich möchte das nicht gegen das Bürgergeld spielen, wahrscheinlich ist das objektiv einfach mies wenig.
Ausgehend von meiner eigenen Position scheint es mir, als würde eine große Unkenntnis innerhalb Deutschlands über die unterschiedlichen Lebensverhältnisse bestehen oder mindestens in den Kreisen, in denen ich mich bewege. Ich fände es spannend mehr zu verstehen, was eigentlich „normal“ ist. Ich kann mir gerade gar nicht so richtig vorstellen, was man dann mit dem Geld macht wenn man so viel mehr hat, aber da findet sich bestimmt was (und Kinder und Altersvorsorge kommen ja noch drauf). Eine Aufschlüsselung der verschiedenen Einkommensgruppen und was die so verdienen/sich Leisten können wäre spannend. Auch damit verbunden wo Ulf und Phillip sich einordnen und die Leute, die für sie arbeiten. Einkommen und damit Schicht/Klasse ändert ja auch den Blickwinkel auf Diskussionen. In Deutschland wird ja immer ungerne über den eigenen Geldbeutel gesprochen, aber das eigene Geld wirkt dann natürlich trotzdem auf die politischen Verhältnisse.

LG :wave:

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Studenten wenden im Schnitt 918€ für ihren Lebensunterhalt auf. (Zahlen des bpb aus 2020)
Die Zeit hat auch mal ein Tool veröffentlicht, wie viel Geld verschiedene Haushalte je Situation und Einkommen zur Verfügung haben (finde ich gerade nicht).
Ein entscheidender Unterschied ist: bei dir ist es voraussichtlich nur temporär, außerdem hast du vermutlich keine Familie, du musst also niemandem gegenüber ein schlechtes Gewissen haben. Diese beiden Punkte machen die prekäre Situation besonders belastend.

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Mir ist klar, dass meine Situation nicht dramatisch ist, es reicht ja zum Leben. Der Punkt den ich versuche zu machen ist, dass ich einen Überblick über die Gehaltsgefälle und Einkommenspannen interessant fände. Aus der Situation heraus, dass ich es selber bisher kaum Überblicken kann. Beziehungsweise ich die Zahlen zwar theoretisch seit Jahren kenne, aber die Auswirkungen (positiv und negativ) schlecht Fassen kann.

Der Paritätische Wohlfahrtverband sagt in einer aktuellen Stellungnahme, dass der Regelsatz beim „Bürgergeld“ mindestens 813 Euro monatlich betragen müsste.

Da ist vielleicht dieser im Forum schon häufig zitierte Datensatz vom IWD ganz hilfreich:

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Die Definition von Arm und Reich hängt wohl auch nicht nur von reinen Geldwerten ab.
Zum einen auch von regionalen Gegebenheiten. Mit Summe X kommst du auf dem platten Land gut klar, in der Großstadt keine Chance.
Zum anderen auch von Deinem Ansprüchen. Überspitzt: der Ölprinz, der nur 5 Ferraris besitzt statt der üblichen 15 in seinem Umfeld, wird sich möglicherweise als arm empfinden.
Will sagen, wenn du dich mit dem dir verfügbaren Einkommen arrangiert hast und keinen grundlegenden Mangel spürst, musst du nicht zwingend arm sein.
Verglichen mit einem Chefarzt oder Produktionsleiter würde man dich rein monetär sicher als arm bezeichnen.
Und wann ist man reich? Gibt es da eine Obergrenze?

Die Folge 346 fand ich sehr wichtig, da sich angesichts der Erhöhung des Bürgergeldes eine große medial-öffentliche Entrüstung entwickelt hatte. Auch durch die Berichterstattung in Qualitätsmedien war der Mechanismus hinter der Bürgergelderhöhung nicht zu verstehen. Viele Kurzmeldungen lasen sich so, als wäre die Steigerung der Regelbedarfe um ca. 12 % Ergebnis einer aktiven Entscheidung der aktuellen Regierung; tatsächlich ist es aber eine Art Automatismus, der aus der Inflationsrate und den Lohnsteigerungen ergibt. Vielen Dank an die beiden Lage-Autoren für diese prägnante Darstellung.

Was ich mir persönlich wünsche, ist eine differenzierte Berichterstattung zum Bürgergeld. Zumeist heißt es: Es gibt Regelleistungen, Miete (warm) und vielleicht noch Geld für „Bildung und Teilhabe“. Die gerade einmal ca. 25 Paragraphen, die für die Leistungsgewährung im Bürgergeld relevant sind, verlocken dazu, das Thema auf ein paar Stichpunkte herunterzubrechen. Bürgergeld kann komplex sein, wenn es ‚auf das richtige Leben‘ trifft, das zeigen die hunderttausenden Entscheidungen der Sozialgerichte.

Es gibt sehr viel zu lernen, wenn man mit Menschen zusammenarbeitet, die in den zweifelhaften Genuss des Bürgergeldes kommen. Ich schätze, dass ein Drittel der mir persönlich bekannten Leistungsbezieher*innen langfristig hilfebedürftig bleiben werden. Sprachdefizite, sekundärer Analphabetismus, seelische Erkrankungen und Süchte, Gewalterfahrungen und damit verbundene vollständige Resignation haben viele Menschen ‚aussteigen lassen‘. Auf der anderen Seite stehen eine Reihe an Leistungen, die medial selten erwähnt werden, z.B. Erstausstattung für die Wohnung, zinslose Darlehen für verschiedene Notlagen wie Stromschulden (nicht selten vierstellig), Erstausstattung und Mehrbedarfe für Schwangerschaft, Umzugsbeilhilfen usw. Die Integrationsleistungen können höher sein als der monatliche Regelbedarf (z.B. ein E-Bike für den Arbeitsweg für 2.500 EUR). Die Gefahr der Neiddebatte ist gegeben.

Die Arbeit für Leistungsbezieherinnen ist herausfordernd und lässt sich auf einige Zahlen verdichten. Zwischen gesundheitlich berufsunfähigen Menschen bis hin zur Vollzeitarbeitnehmerin mit drei Kindern, deren Einkommen in einer teuren Stadt nicht reicht, ist alles dabei. Wenn ich mir ein Thema für ein Podcast aussuchen könnte, dann wäre es eine Reportage, die über das übliche Hartz-IV-Trash-Format hinausgeht und auch nicht bei billigen Klischees (Der arme Leistungsempfänger, die Sozialschmarotzer, Jobcenter sind überflüssig) stehenbleibt. Es spricht immer eine Elite über und selten mit Leistungsempfängerinnen (Wirtschaftsvertreter, Sozialwissenschaftler*innen oder patriarchalisch-wohlwollende Sozialverbände). Eine eigene Stimme haben die Menschen an der Basis nicht.

Ich würde mich für eine Woche teilnehmende Beobachtung in der Leistungsabteilung eines Jobcenters einsetzen. Das wären wir den über 5 Mio. Leistungsempfänger*innen in Deutschland schuldig.

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Die Zahl ist sehr niedrig. Miete, Heizkosten, Krankenkasse wird soweit ich weiß beim Bürgergeld alles idr vom Amt übernommen. Da sind schon um die 400€ weg. Bleiben keine 563€ mehr übrig, die man im Bürgergeld bekommt. Und das bei einer größtenteils sehr unrealistischen angenommenen Miete von 300€ (warm).

Auf der anderen Seite bedeutet das Studium an sich schon soziale Teilhabe und Bildung. Das gesamte Umfeld muss idr eher Haushalten, entsprechend organisiert man sich die Freizeit und es gibt etliche Angebote der Uni die man wahrnehmen kann. Man investiert trotz der geringen Ausgaben in seine Zukunft.
Das klappt im Bürgergeld vermutlich nicht mehr wirklich.
Dazu ist es eine Übergangszeit und viele profitieren noch von der starken Anbindung zum Elternhaus.
Und letztes Argument: Auch Studenten stehen vermutlich oft nicht gut da. Von ihren Ausgaben darauf zu schließen was notwendig wäre klappt aus einer solchen Statistik nicht.

Da kommt dann der Erfahrungswert von @Quesadilla hinzu. Mit entsprechenden Einschränkungen. „Ein bisschen nebenher noch arbeiten“ geht im Bürgergeld schlecht. Als Student einen Minijob nebenbei machen bringt einem 520€ mehr für einen Monat. Auf die Summe kommt man im Bürgergeld mit Minijob erst in 2 1/2 Monaten, weil der Rest angerechnet wird. Dazu ist idr die Qualifikation des Studenten besser und somit stehen ihm im Schnitt vermutlich mehr Jobangebote zur Verfügung (ja, trotzdem nicht pralle, je nach Studium).

Es bleibt ein sehr schwerer Vergleich und die Einschätzung für den (Geld)Bedarf in anderen Lebensrealitäten ist immer sehr schwierig.

Der Regelbedarf ist unabhängig von der Miete. Bewilligt werden also z.B. für einen alleinstehenden Erwachsenen: 502,00 EUR Regelbedarf (davon ist z.B. auch Haushaltsstrom zu bezahlen), zzgl. Kaltmiete in einem angemessenen Rahmen (für die sogen. Mietobergrenze im teuren Stuttgart vgl. https://www.stuttgart.de/medien/ibs/infoblatt-zu-umzug-und-miethoehe.pdf), Nebenkosten und Heizung. Im Rahmen einer Mietobergrenze für eine Person zzgl. Neben- und Heizkosten zu je 100,00 EUR macht dies monatliche Gesamtleistungen für eine Einzelperson in Höhe von 1.268,00 EUR, insofern man die Mietobergrenze ausschöpfen würde.

Nun kommt der Minijob hinzu. Die ersten 100,00 EUR sind anrechnungsfrei, danach 20 % bis zu einer Höhe von 520,00 EUR. Das macht bei einem Minijob im Umfang von 520,00 EUR Brutto / Netto einen Freibetrag von 184,00 EUR, d.h. 336,00 EUR werden angerechnet und vom Bürgergeld abgezogen. In der Summe hätte man aber wegen des Freibetrags 184,00 EUR mehr. Dann käme man auf ein Einkommen (ges.) von 1.452,00 EUR, wobei 932,00 EUR vom Jobcenter kämen, 520,00 EUR vom Minijob.

Studierende können in vielen Fällen kein Bürgergeld beziehen und haben häufig einen Ausschluss; insofern die Studierenden im Haushalt der Eltern wohnen und grundsätzlich einen Anspruch auf BAföG haben, kann ein Anspruch auf Bürgergeld bestehen. Daneben gibt es noch eine Reihe weiterer undurchsichtiger Sonderregeln. Das fördert natürlich nicht gerade die Eigenständigkeit der/des Studierenden. Der Vergleich mit Studierenden ist daher schwierig und erübrigt sich in den meisten Fällen. Leistungen aus dem Paket „Bildung und Teilhabe“ im Sinne des SGB II steht Studierenden ebenfalls selten bis gar nicht zu.

Grundsätzlich lohnt sich jede Qualifikation, da der Umfang der Qualifikation mit dem zu erwartenden Lebenseinkommen korreliert. Das Hauptproblem in Deutschland besteht m.E. darin, dass es vom Elternhaushalt abhängig ist, ob man sich eine höhere Qualifikation leisten kann bzw. de facto auch erreicht. Von 100 Akademikerkindern (ab Grundschule) erreichen 43 einen Master-Degree (Nichtakademiker-Kinder: 11). Nicht Verdienst oder Leistung, sondern Herkunft entscheidet. Das ist aber nicht nur eine finanzielle Frage, sondern durch weitere gesellschaftliche und individuelle Rahmenbedingungen bestimmt (Kapitalformen im Bourdieuschen Sinne, Geschlechterdiskriminierung, Herkunft, Intersektionalität etc.).Streng genommen kann sich Deutschland das nicht leisten: Zum Einen brauchen wir Fachkräfte (ökonomisches Argument), zum anderen trägt Bildung dazu bei, dass Menschen ihre Interessen idealiter besser artikulieren können (gesellschaftspolitisches Argument).

Irgendwie müssen wir da besser werden; „Hartz IV“ sollte keine Mehrgenerationenveranstaltung sein.

Könntest du das erklären?

Bei Miethöchstsatz, korrekt?

Hier ein Link für alle, die ihn wie ich nicht kennen: https://de.wikipedia.org/wiki/Pierre_Bourdieu?wprov=sfla1

Hallo Frau Amelung,

vielen Dank für Ihre Rückfragen.

Im Bürgergeld gilt für die Miete: „Bedarfe für Unterkunft und Heizung werden in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen anerkannt, soweit diese angemessen sind“ (§ 20, Abs. 1 S. 1 SGB 2). Damit jedoch die Kaltmiete nicht in beliebige Höhe steigt („Angemessenheit“), wurde die sogenannte Mietobergrenze eingeführt, die sich nach Personenzahl der Bedarfsgemeinschaft und Quadratmeterzahl sowie Mietpreisen vor Ort bemisst. Neu beim Bürgergeld ist nun, dass die ersten 12 Monate die Miete in tatsächlicher Höhe übernommen wird (Karenzzeit). Danach kann das Jobcenter die Leistungsberechtigten auffordern, die Kaltmiete zu senken, auch durch Umzug (sechsmonatige Frist). Es können aber auch soziale oder andere Gründe vorliegen, um höhere Mieten zu akzeptieren, z.B. schulpflichtige Kinder mit der Schule in der Nähe, Arbeitsstelle und Kita in der Nähe bei alleinerziehendem Personen, gesundheitliche Gründe etc. Die oben genannten Werte gelten für Stuttgart und sehen auf dem Land sicher ganz anders aus.

Nebenkosten werden in der Regel voll übernommen. Für zu hohe Heizkosten gibt es ebenfalls ein selten durchgeführtes Senkungsverfahren.

Ja, meine Berechnung ist fiktiv unter der Annahme, dass die Kaltmiete in Höhe der Mietobergrenze berücksichtigt wurde. Die Beträge sind eher als Maximalwert zu sehen. Die Spanne geht sicherlich noch knapp 250,00 Euro nach unten. Es gibt auch in Stuttgart noch kleine Wohnungen für unter 400,00 Euro kalt, oft in sehr fragwürdiger Qualität.

Vielen Dank für die Verlinkung von Bourdieu.

Ich hoffe, dass ich jetzt nicht zu detailliert geschrieben habe; mein Anliegen war es, ein paar ‚Hausnummern‘ zu nennen, damit man im Vergleich mit der eigenen Situation eine bessere Vorstellung von Armut und Existenzminimum erhält. Abgesehen von der Miete bleibt der Regelbedarf (502,00 Euro für Alleinstehende) bundesweit gleich. Werden aber z.B. Rückforderungen aufgerechnet oder Leistungsminderungen verhängt, dann kann dieser Betrag um bis zu 30 % gemindert werden. Wie Herr Buermeyer in Folge 346 eindrücklich festhielt – ein Haustier ist da nicht mehr finanzierbar. Für viele Alleinstehende auch meiner Meinung nach ein hartes Los. In Stuttgart kann man sich im Bürgergeld-Bezug ironischer Weise aber von der Hundesteuer befreien lassen

Korrektur: Bei der Steuer gab es nur eine Ermäßigungsoption, und die wird mittlerweile auch durchaus abgelehnt.

Das kann ich aus eigener Erfahrung nicht bestätigen; die sieht so aus:
Supermärkte im Speckgürtel von Großstädten sind etwas günstiger als in der Großstadt. Supermärkte auf dem Land sind etwas günstiger als die im Speckgürtel.
Wie gesagt, eigene Erfahrung; kenne keine wissenschaftlichen Aussagen dazu.

„Regelbedarf“ ist hier vielleicht etwas missverständlich: Damit ist jener Betrag des Bürgergeldes gemeint, der gezahlt wird, um den alltäglichen Lebensbedarf zu decken. Dieser ist überall im Bundesgebiet gleich hoch – ob ich in Brandenburg auf dem Land oder in der Münchener Innenstadt wohne, sofern ich mir Letzteres mit Bürgergeld überhaupt leisten kann.

Den unterschiedlichen Preisen z.B. im Supermarkt wird damit leider keine Rechnung getragen. Bevor ich in die Region Stuttgart gezogen bin, lebte ich in Brandenburg, und die Preisunterschiede sind natürlich gegeben.

Der Begriff „Regelbedarf" ist in § 20 SGB II festgelegt und leider nicht gerade intuitiv, weswegen im Alltag auf öfters von „Regelleistungen“ gesprochen wird.