Aktuelle Corona-Lage: Die Politik und wir alle gefährden alles, was wir seit November erreicht haben

Auszüge aus dem Leit-Kommentar von Stefan Kornelius der Süddeutschen von heute, die die aktuelle Lage in unserer Gesellschaft und Politik sehr gut auf den Punkt bringt:

Meinung, 24.02.2021

Dritte Welle

Die Ab­ge­stumpf­ten

Von Stefan Kornelius

Öffnen oder schließen, lockern oder verschärfen, impfen oder dritte Welle - die Corona-Gegensätze stoßen sich nicht mehr ab, scheinbar vertragen sie sich auf einmal prächtig miteinander. Grenzen bleiben geschlossen, aber Flüge werden gebucht. Die Infektionszahlen steigen, aber Schulen werden geöffnet. Die Zahl der Impfungen steigt nur langsam, aber die Bundeskanzlerin spricht von einer Lockerungsstrategie.

Deutlich erkennbar gibt es jetzt für die Pandemie eine medizinische und eine politische Interpretation. Sie passen nicht mehr zusammen. Die Infektionszahlen sind zunächst gesunken, nun stagnieren sie, vermutlich werden sie wegen der Mutanten bald wieder deutlich steigen. Da muss das Urteil eigentlich leichtfallen: Es gibt keinen Anlass, das Ende des Schreckens zu beschwören.

Aber der politische Blick ruht nicht mehr auf den Zahlen, jedenfalls nicht den Infektionszahlen. Es sind die Umfragedaten, die Krisenmeldungen der Standesvertreter aus Handwerk und Gewerbe, aus Schulen und aus dem Konzertgraben, die vom Ende des Konsenses künden. …

Dies ist der gefährlichste Augenblick der Pandemie. In Zeiten wachsender Bedrohung steigt die Bereitschaft zur Selbstbeschränkung, Gefahr macht vorsichtig. In Zeiten absehbarer Entspannung wächst hingegen die Risikobereitschaft, die Ungeduld. Andere Probleme gewinnen an Gewicht: Wenn die Gesundheit sicher ist, wie steht es dann um das Auskommen, die wirtschaftliche Existenz?

Der Moment der Lockerung ist deswegen so gefährlich, weil er eine schwer kontrollierbare Dynamik entwickelt. Gefordert ist schnell, Widerspruch wird mühsam. Wer von den politischen Stimmungsbaronen jetzt schläft, könnte überrollt werden von der Woge der Euphorie und bei den Verlierern enden.

Angela Merkel, die sehr viel von der öffentlichen Stimmung versteht, spricht von einer Öffnungsstrategie - in der Hoffnung, die Kontrolle über den Zeitplan nicht zu verlieren. … Es beginnt also ein Wettlauf mit der Zeit. Wie lange lässt sich die Ruhe halten? Wann entgleitet der Politik die Kontrolle?

… Das Pandemie-Jahr hat müde gemacht und die Sensibilität zerstört. Deutschland vergisst bei aller inneren Erregung gerne, wie gut es durch die Krise gekommen ist. Es vergisst aber auch schnell die 70 000 Toten, um die zu trauern weitgehend den Angehörigen überlassen wird.

Doch die Stabilität ist trügerisch. Die Aussicht auf das Ende ist alles andere als klar. Die Impfstoffe gaukeln eine Scheinsicherheit vor, die es momentan noch nicht gibt. Das gute Wetter und die allgemeine Erschöpfung tun ihr Übriges. Der Eröffnungsdruck ist enorm, die Erwartungen wachsen mit jedem Frühlingstag.

Selbst wenn ein Ende der Pandemie erahnt werden kann: Es ist diese letzte Phase, die nun besonders beherzt gesteuert und über deren Gefahren in aller Klarheit kommuniziert werden muss. Bei der Öffnung werden dieselben Debatten geführt wie vor einem Jahr zu Beginn der Pandemie: Schutz des Lebens gegen Schutz der Wirtschaft; das Recht auf Unversehrtheit gegen die Freiheitsrechte. Dann die unselige Abwägung der Opferzahlen: Wie viele Insolvenzen wiegen ein Menschenleben auf?

All das sind Scheindebatten in einer Stimmungsgesellschaft, die sofort bereit sein wird, über ihre gewählten Vertreter herzufallen, wenn die Zahlen wieder nach oben schnellen. So wie zu Beginn der Pandemie eine klare Botschaft nötig war, so wird sie auch für die kommenden Monate nötig sein. Richtig ist, dass sie auch schwieriger zu vermitteln sein wird. Aber in der Abwägung zwischen Stimmung und medizinischer Erkenntnis sollte die Entscheidung leichtfallen …

Stefan Kornelius leitet seit 2021 das Politik-Ressort der Süddeutschen Zeitung. Von 2000 an war für die Außenpolitik verantwortlich. …

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