Abtreibungsrecht: Zunahme und Abnahme der Rechte?

Als in der Lage 378 die Kommission über das Abtreibungsrecht besprochen wurde, kam mir komisch vor, dass die Argumentation über die Zu- und Abnahme der Grundrechte nicht hinterfragt wurde.

So soll das Recht auf Leben (Baby) mit dem Alter zunehmen, während das Recht auf Selbstbestimmung (Frau) mit der Dauer der Schwangerschaft abnimmt.

Auf den ersten Blick scheint diese Argumentation nachvollziehbar zu sein, doch Menschenrechte sind „unveräußerlich, unteilbar und unverzichtbar“. So können diese nicht zu- und/oder abnehmen.

Ich würde das nicht so kritisch sehen:

Zunächst einmal würde ich sagen, dass das Recht auf Leben und das Selbstbestimmungsrecht der Mutter nicht zu oder abnehmen können. Allein das Gewicht des jeweiligen Rechts im Rahmen der Rechtsgüterabwägung nimmt zu bzw. ab. Das ist im deutschen Grundrechtsdiskurs ein völlig normaler Vorgang (s. praktische Konkordanz).

Zum anderen stimmt es nicht, dass Menschenrechte - oder hier besser die Grundrechte im Sinne des GG - unveräußerlich und unverzichtbar sind. So kann ich z.B. selbstverständlich bis zur Grenze der guten Sitten auf mein Recht auf körperliche Unversehrtheit verzichten, ebenso auf den Schutz meiner Wohnung oder das Briefgeheimnis.

Und schließlich habe ich überhaupt Zweifel daran, ob man aus einer vermeintlichen Unteilbarkeit, Unveräußerlichkeit und Unverzichtbarkeit den Schluss ziehen kann, dass dieselbe Sache nicht zu- oder abnehmen kann. Ich halte diesen Schluss nicht für zwingend.

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Aber wie bei allen Rechten kann es dazu kommen, dass zwei Rechtsgüter miteinander in Konkurrenz treten. Dann muss abgewogen werden und diese Abwägung kann sich abhängig von Umständen und den Kriterien, die man anwendet, verändern. Hier eben: Je weniger der Embryo auf die Mutter angewiesen ist, um zu überleben umso eher muss man sein Recht auf Leben gegenüber den Rechten der Mutter berücksichtigen. Die Rechte wären dann nicht geteilt, sondern eben in unterschiedlicher Abwägung zueinander zu betrachten. So jedenfalls hatte ich das verstanden.

Dass hier zwei Menschenrechte in Konkurrenz stehen und abgewogen werden müssen, habe ich gar nicht in Frage gestellt.

Ich habe in Frage gestellt, dass die Ab- und Zunahme von Menschenrechten nicht möglich ist. Bei Menschenrechten gibt es nur einen Zustand: Man hat sie.

Somit nimmt das Recht auf Leben des Babys nicht mit dem Alter zu und das Recht auf Unversehrtheit der Frau mit Dauer der Schwangerschaft ab.

Auch Menschenrechte (oder im Kontext unseres Grundgesetzes Grundrechte) müssen regelmäßig miteinander abgewogen werden, wenn - wie auch beim Thema Schwangerschaftsabbruch - die Rechte zweier Rechtsträger kollidieren.

In solch einer Abwägung muss man immer auch das Gewicht der einzelnen Rechte betrachten, dabei kann es sowohl unterschiedliche Gewichtungen unterschiedlicher Rechte geben (z.B. ist das „Recht auf Leben“ i.d.R. höher zu bewerten als das „Recht auf Eigentum“), als auch zu unterschiedlich starken Ausprägungen eines Rechts (so halten die Amerikaner „Holocaustleugnung“ für Teil des Rechts auf freie Meinungsäußerungen, andere Staaten, darunter Deutschland, gewichten das Recht auf Meinungsäußerung in diesem Kontext aber geringer, sodass andere Interessen überwiegen können).

So ist es auch logisch, dass ein Recht auf Leben im Laufe der Entwicklung vom „Zellhaufen“ zum „Embryo“ bis zum „lebensfähigen Organismus“ stärker werden kann. Das allgemeine Recht besteht von Anfang an, aber wie stark ein kollidierendes Menschenrecht eines anderen Rechtsträgers (z.B. der Mutter) sein muss, um das Recht auf Leben zu überwiegen, kann dann durchaus vom Entwicklungsstadium des Fötus abhängig gemacht werden.

Die Alternative wäre ein binäres Ja/Nein-Modell, also entweder: „So lange das Kind noch nicht geboren wurde, hat es keinerlei Menschenrechte“ oder im entgegengesetzten Extremfall „Sobald Samen und Ei sich verbunden haben, hat der Nasciturus volle Menschenrechte“. Beides würde bei Abwägungen zu einigen massiv ungerechten Fällen führen, im ersten Fall wäre eine Abtreibung im Kreißsaal noch möglich (also eine Tötung des ungeborenen, aber lebensfähigen Kindes im Leib der Mutter), in letzterem Fall wäre Abtreibung nahezu vollständig unmöglich, da nur die konkrete Lebensgefahr der Mutter ein denkbarer Grund zumindest gleicher Größenordnung wäre.

Weil wir ein differenzierteres Modell wollen, gehen wir davon aus, dass das Recht auf Leben im Laufe der Entwicklung „mit dem Nasciturus wächst“.

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