9 Euro-Ticket wird nun zum Nachteil von Menschen, welche ALG II beziehen?

Auf der einen Seite verkündet das zuständige Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV) über ihren Twitter-Account, dass das 9 EURO Ticket ein absoluter Erfolg ist (vgl. BMDV (@bmdv): "Das ist MEGA! 🚀 Die Nachfrage nach dem #9EuroTicket für den klimafreundlichen #ÖPNV ist riesig. Seit Verkaufsstart sind bis heute bundesweit bereits rund 21 Millionen Tickets verkauft worden. Und das Beste: Da sind die 10 Millionen Abos noch nicht einmal mit eingerechnet! 👏"|nitter ), auf der anderen Seite legt ein Bericht des SPIEGEL (vgl. https://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/9-euro-ticket-und-hartz-iv-warum-arme-familien-nun-geld-zurueckzahlen-muessen-a-4b5a8fe9-f978-4cda-b375-af8) nun nahe, dass Menschen in Deutschland, welche Arbeitslosengeld II (ALG II; ugs. „Hartz IV“) beziehen, wohl nun Gelder zurückzahlen müssen, weil es das 9 Euro Ticket gibt

Vor dem Hintergrund, dass nach Recherchen in Rahmen der ZDF Magazin Royale Folge vom 03. Dezember 2021 (vgl. Fahren ohne Fahrschein: Unnötigste Straftat seit 1935 | ZDF Magazin Royale - Invidious) etwa 2/3 aller Sozialtickets über dem in ALG II definierten Satz für verkehrsmittel i.H.v. 40,01 EUR, scheint mir der Schritt der Behörden, die je nach Bundesland abhängen, irgendwie kontraproduktiv, da so ein negatives Bild vom ÖPNV und von staatlichen Institutionen erzeugt wird.

Naja, definiere Nachteil. Ein Nachteil wäre, wenn die Betroffenen durch das 9-Euro-Ticket plötzlich weniger Geld hätten. Was viel mehr vorliegt, ist, dass manche Bundesländer scheinbar viele Arbeitsstunden (und damit Steuergelder) dafür investieren wollen, dafür zu sorgen, dass ALG II-Bezieher bloß nicht vom 9-Euro-Ticket profitieren können. Das ist auch doof - aber eben etwas anderes, als die Überschrift impliziert.

Es geht um Folgendes:
ALG II-Bezieher bekommen Fahrtkosten (z.B. für Schülertickets ihrer schulpflichtigen Kinder oder Tickets zur Fahrt zu Maßnahmen usw.) erstattet - und zwar in Höhe des günstigstes ÖPNV-Tarifs für die direkte Strecke. Diese Kosten werden i.d.R. einmalig bewilligt und dann regelmäßig - unabhängig von der Regelleistung - ausgezahlt. Wenn deshalb z.B. jemand ein Dauerticket (z.B. ein Sozialticket für seine Stadt) für 50 Euro im Monat bewilligt bekommen hat, wurden auch bisher weiterhin 50 Euro pro Monat ausgezahlt. Nun kommt natürlich manches Sozialministerium in manchem Bundesland auf die Idee zu sagen: „Aber mit dem 9 Euro Ticket könnten wir doch diese Fahrtkosten-Übernahmen grundsätzlich auf 9 Euro im Monat begrenzen und alles, was darüber hinaus ausgezahlt wurde, zurückfordern!“

Betriebswirtschaftlich macht das natürlich keinen Sinn - die Arbeit, die die Behörden hier investieren (zusammen mit dem Porto, den Kosten für etwaige Widerspruchs- und Gerichtsverfahren…) übersteigt die zurückforderbaren Beträge meines Erachtens relativ deutlich. Aber die Sozialministerien werden natürlich nun sagen: „Aber wir sind verpflichtet, das Gesetz zu befolgen - und nach strikter Auslegung des Gesetzes darf das Amt halt tatsächlich nur die real angefallenen Fahrtkosten übernehmen“. Und das ist, auch wenn mir das Ergebnis nicht gefällt, juristisch erst einmal korrekt.

Behörden müssen sich nun mal auch an schlechte Gesetze halten müssen - und das SGB II ist ein Paradebeispiel für ein wirklich schlechtes Gesetz, welches hoffentlich bald außer Kraft treten wird (und durch ein hoffentlich weniger unsoziales Bürgergeld ersetzt wird…). Ein freiwilliger Verzicht der Behörden, zu viel gezahlte Fahrtkostenübernahmen zurückzufordern, wäre natürlich möglich, aber dann würden sich - juristisch durchaus im Recht - die typischen FDP-Wähler beschweren, weil der Staat „ineffektiv“ sei und Steuergeld „verschwende“ - so widerwärtig es auch ist, wenn der typische Wohlstandsgewinner seinen Neid gegenüber den Ärmsten der Gesellschaft äußert…

Das ist letztlich ein ganz eigenes Problem. Bei der juristischen Betrachtung müssen wir halt die Rechtslage (daher wie Behörden nach dem Gesetz handeln müssen) und die moralische Meinung (daher wie der Gesetzgeber die Gesetze und Verordnungen ändern sollte) klar trennen. Dass die ALG-II-Sätze für Mobilität zu niedrig sind ist daher völlig unabhängig vom Verhalten der Sozialministerien und Jobcenter zu kritisieren, weil man von den Ministerien und Jobcentern einfach nicht verlangen kann, das (schlechte) Gesetz, auf dem ihre Arbeit beruht, einfach zu brechen.

Das Problem ist der frühere Gesetzgeber (und damit leider Rot-Grün) und der Gesetzgeber der letzten 16 Jahre, der das Problem nicht behoben hat (aber was anderes ist von der CDU auch nicht zu erwarten…), die Behörden (bis hoch zu den Ministerien) sind nur diejenigen, die diesen Unfug dann ausführen müssen, ob sie wollen oder nicht…

TL;DR:
Juristisch ist die Rückforderung von zu viel gezahlten Fahrtkostenübernahmen kaum zu beanstanden.
Moralisch ist die Rückforderung schlicht falsch, gerade weil die Lebenshaltungskosten für die Ärmsten aktuell explodieren und es keine angemessenen Entlastungen dafür gibt.
Wirtschaftlich macht die Rückforderung vermutlich keinen Sinn, weil die Kosten höher sind als der Nutzen - es sei denn natürlich, man möchte für eine bestimmte Wähler-Klientel ein Exempel statuieren.

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Bin kein Jurist und ich nehme an @Daniel_K hat mit seiner Analyse vermutlich Recht. Ich finde nur moralisch konsistent gäbe es ja eigentlich 2 Systeme, wie man sowas aufziehen könnte. Entweder man definiert, dass die ALG II Empfänger ein kostenloses Sozialticket bekommen, oder man definiert, dass sie einen Pauschalbetrag an Geld bekommen, um sich das Ticket zu kaufen. Im ersten Fall würden sie nicht finanziell profitieren, wenn das Ticket günstiger wird, aber auf der anderen Seite kann das Ticket dann auch nicht zu teuer werden. Im anderen Fall würden sie von der aktuellen Situation profitieren, würden aber benachteiligt sein, wenn das Ticket teurer wird, weil sie es sich dann nicht mehr leisten können und immer wieder auf die Gnade des Staates angewiesen sind, dass er die Pauschale erhöht.

Ich persönlich würde die erste Variante des kostenlosen Tickets besser finden. Aber so wie das aktuelle System designed zu sein scheint, kombiniert es das schlechteste von beiden Varianten. Man profitiert nicht von günstigeren Ticketpreisen und wird bei teureren Ticketpreisen benachteiligt.