LdN 395 @ Migration: Andersdenkende mit Fakten überzeugen zu wollen, geht eher nach hinten los (Maren Urner)

„Lasst uns versuchen, populistischen Menschen mit rationalen, gut begründeten Argumenten entgegen zu treten“ (Minute 1:55).

Es ist super ehrenwert, wenn die Macher der LdN mithelfen wollen, potentielle rechte Wähler auf rationalem Weg zum umdenken bringen zu wollen. Unglücklicherweise hat man da die Neurobiologie gegen sich, wie die Neurowissenschaftlerin Maren Urner immer wieder betont (s.u.). Schlimmer noch, das kann dazu führen, dass sich Menschen in ihren Positionen noch tiefer einmauern. Der Grund ist:

  • die vorgebrachten Fakten wiedersprechen ja dem bisher behaupteten Narrativ (z.B. Migration ist gefährlich für unser Land). Man müsste also von jetzt auf gleich einräumen, in einer so polarisierten Frage falsch gelegen zu haben. Zudem fühlt man sich unterlegen, da man den vorgebrachten Fakten nicht gleich welche entgegenstellen kann, die die rechte Positionierung stützen. Ein doppelter Gesichtsverlust also, den man nach Kräften vermeidet.

  • das belehrende Verhalten von oben herab („du hast deine Haltung nur, weil du die Fakten nicht kanntest - aber von mir erfährst du sie nun“) bestätigt aber ein anderes Narrativ, das viele Rechten-Freunde teilen: ich werde hier nicht ernst genommen - auch das begünstigt nur die Zuflucht in den Diskursraum der Rechten, wo man sich sicher fühlt.

Über das Buch „Radikal emotional“ von Maren Urner wird ja gerade häufiger gesprochen. In dem Interview „Wie politisch sind Gefühle, Maren Urner?“ erläutert sie, was daraus für politische Kommunikation folgt: https://www.youtube.com/watch?v=oue6zdCxH30

Einige Thesen:

  • Allen menschlichen Entscheidungen liegen Gefühle zugrunde, Fakten nur sekundär.
  • Fordern Menschen Freiheit, Wohlstand usw., geht es vor allem darum, was sie fühlen möchten und welche Werte sie daraus ableiten. Sehr häufig geht es um Sicherheit.
    
  • Um gut über Politik zu diskutieren, braucht es als Türöffner zunächst ein Finden des emotionalen „kleinsten gemeinsamen Nenners“. Bekommen Menschen dagegen ohne solch gemeinsame Basis Fakten präsentiert, die den eigenen Wertvorstellungen wiedersprechen, führt das eher zu noch vehementerem Vertreten der bisherigen Position.
    
  • Auf einer gemeinsamen emotionalen Basis sind Menschen am ehesten bereit, zuzuhören und sich auf Neues einzulassen und man kann darüber sprechen, wofür man ist (anstatt dagegen – was eher Verhärtung bewirkt) und so nach gemeinsam tragfähigen Lösungen suchen.
    
  • Der heutige Journalismus begünstigt Gefühle von Kontrollverlust und Ohnmacht und führt damit zu Aggression. Konstruktiver Journalismus berichtet nicht einfach darüber, was gut läuft in der Welt, sondern fragt vor allem, was getan werden kann (z.B. „Was müsste passieren, damit die Waffen nicht eingesetzt werden?“), um die Vorstellungskraft für eine gemeinsame Zukunft zu wecken.
    
  • Menschen sind bereit zu enormer Veränderung, wenn sie als selbstbestimmt und nicht aufgezwungen empfunden wird.
    

Also: Nicht Fakten überzeugen, sondern plausible Narrative, die an die eigene Weltsicht anschließen.

Und anstatt darüber zu streiten, ob es ok ist, Migration kritisch zu sehen, Maren Urners zweite häufige Aufforderung: lasst uns darüber reden, wofür wir sind! Da finden wir womöglich viel schneller Gemeinsamkeiten.

Deshalb ist die Sammlung von Argumenten gegen Migrationsfeindlichkeit aber dennoch sinnvoll. Nur braucht es vor ihrer Nutzung einen zweiten Schritt: Das finden des emotionalen kleinsten gemeinsamen Nenners.

Ich schlage vor, mal mit Maren Urner ein Interview darüber zu führen, wie so etwas konkret aussehen kann, mit vielen, vielen Beispielen…

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Auch neuropsychologisches Wissen zu nutzen halte ich für richtig.

Die Frage ist nur, mit welcher Erzählung man gegen solche Dopaminschübe ankommt:

Entscheidend dafür ist, dass die AfD nicht bloß Szenarien vom drohenden Untergang verbreitet, sondern sich zugleich selbst als Aufhalterin der Apokalypse bzw. als letzte Retterin ins Spiel bringt. Was gemeinhin als bloße Angstpolitik gilt, wirkt demnach auch als eine Politik der Hoffnung. An Orten, an denen die AfD auf breite Zustimmung aus der Bevölkerung stößt, ist das rechte Projekt gar mit Euphorie und Optimismus aufgeladen.

Die Untersuchung zeigt […], wie sich rassistische und anti-klimapolitische Untergangsszenarien zu einer selbst bestätigenden Gefühlswelt verdichten. Außerdem interpretiert Spissinger das kollektive Schimpfen und spöttische Gelächter bei AfD-Veranstaltungen als ein neurechtes Identitäts- und Gefühlstraining. Nicht zuletzt wird deutlich, wie AfD-Unterstützer*innen Kritik abwehren und daraus die Bestätigung ziehen, ‚die Wahrheit‘ zu vertreten und ‚frei‘ zu denken. Wer es sich in der neurechten Gefühlsgemeinschaft erst einmal bequem gemacht hat, lässt sich daher nur noch schwer zur Umkehr bewegen.

Die Neigung, Fremdgruppen abzuwerten, wurde kulturübergreifend gefunden, so daß biologisch begründete Mechanismen angenommen werden können (Gruppenaggression, Gruppennormen, Gruppensolidarität). Die für den frühen Menschen, der in kleinen, geschlossenen Sozialverbänden lebte, durchaus existentielle Anpassung bedarf unter den Lebensbedingungen des heutigen Menschen einer in der Sozialisation erlernten kognitiven Kontrolle, da sie ihre ursprünglich biologisch sinnvolle Basis verloren hat.

Daran anschließend stellt sich noch die Frage, wie die kognitive Kontrolle über xenophobe Neigungen ‚induziert‘ werden kann.

Mit netten Narrativen ist es also keineswegs getan.

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Meiner Erfahrung nach ist es schwierig bis unmöglich Andersdenkende zu überzeugen, je emotionaler das jeweilige Thema beim Gegenüber bereits „belastet“ ist.

Für (öffentliche) Debatten fänd ich es aber gar nicht so wichtig eine oder einen Andersdenkenden zu überzeugen. Wenn ich mit einer Debatte auf Faktenbasis die Zuhörer und Zuschauerinnen erreiche, die sich dann selbst ein Bild machen können, wäre mir persönlich in der Zuschauer-/Zuhörerrolle am meisten geholfen.
Hier fand ich Ulfs Vorschlag im aktuellen Lage-Spezial (LdN 396), in (TV-)Debatten einen kurzen Faktencheck durchzuführen und einzuspielen, echt gut. Das wäre dann auch oder gerade bei Live-Veranstaltungen wirklich super. Damit kann sich jede und jeder selbst ein Bild über den (populistischen) Verbohrtheitsgrad der andersdenkenden Person machen :slight_smile:

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Danke für den Beitrag, ich bin schon gespannt auf das Video. Ich habe generell die Einschätzung, dass die affektive Dimension von politischen Diskursen häufig zu wenig beachtet wird bzw. dass es vor allem populistische Akteure wie Trump, Putin, Johnson, AfD oder BSW sind, die das sehr viel besser verstehen und sehr viel besser für ihre Zwecke zu nutzen wissen.
Auf der Seite der Guten - um jetzt mal ein ganz plattes Label zu benutzen - habe ich dagegen ob den Eindruck, dass Leute denken, dass das bessere Argument tatsächlich das schlechtere „schlägt“.

Was konkrete Diskussionen angeht, habe ich selbst auch die Erfahrung gemacht, dass eine „emotionaler kleinster gemeinsamer Nenner“ (etwa dass beide sich um einen Garten oder um Kinder kümmern) einen Raum erföffnen kann. Das bedeutet natürlich nicht, dass man sämtliche politischen Differenzen überwinden oder das Gegenüber auf einmal mit guten Argumenten „bekehren“ kann. Aber es hat schon in einigen Fällen dazu geführt, dass Menschen meinen Argumenten zumindest zugehört und darüber nachgedacht haben. Und es kann m. E. auch dazu beitragen, dass Menschen wieder aus einer „Gefühlsgemeinschaft“ herausfinden, wie sie das von @Bent erwähnte Buch beschreibt.
Voraussetzung dafür ist allerdings, dass die Menschen sich als Person respektiert und ernst genommen fühlen, auch wenn sie wissen, dass man ihre politischen Positionen zu bestimmten Fragen klar ablehnt. Und diesen Respekt beizubehalten ist natürlich nicht immer einfach. Aber es kann sich lohnen - so zumindest meine anekdotische Evidenz.

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