LdN 386 - Analyse der Ergebnisse der Europawahl

Ich höre gerade die Besprechung der Wahl und muss sagen, ich bin von der Analyse zur CDU enttäsucht. Selbstverständlich gibt es hier ein Für und Wider und man kann sicherlich auch (wie immer in der Lage) zu dem Schluss kommen, neue Inhalte/Themen für die CDU zu fordern.

Was ich aber kritisieren möchte, dass wenn man den Vergleich schon ganz maßgeblich an der letzten Bundestagswahl aufhängt man auch die Aspekte berücksichtigen muss, die bei dieser Europawahl im Unterschied dazu massiv ausgewirkt haben:

  1. Gab es mit dem BSW eine völlig neue Wahloption, die unzufriedene Ampelwähler eingesammelt hat. Ich sag nicht, dass die sonst alle zur Union gegangen wären, aber es ist nunmal Fakt, dass enttäuschte Ampelwähler, die bspw. die AfD für sich immer ausgeschlossen hatten, jetzt noch eine weiter Option hatten.
  2. Gehört denke ich zur Frage „Warum hat die Union nicht mehr profitiert“ eben auch zwingend der Punkt, dass es hier eben keine Bundestagswahl mit 5% Hürde war, sondern eine Europawahl, bei der Stimmen an Kleinstparteien weniger oft „verloren“ gehen. Bei den Neuwählern haben bspw ~27% andere Parteien gewählt, aber auch für andere Demographien gilt: Wer mit der Ampel unzufrieden ist, der konnte bei der Europawahl nicht nur BSW wählen, sondern von der PARTEI über VOLT bis Tierschutz eine ganze Reihe anderer Optionen, die alle Mandate erringen konnten. Diese Logik: Menschen sind von der Ampel enttäuscht, da bleibt als einzige vernünftige Option nur die CDU, greift bei der Europawahl halt nicht und der Aspekt fehlt mir im CDU-Block halt total.

Ich meine unterm Strich hat die Unionsparteien haben immerhin mit 30% fast genausoviele Stimmen bekommen wie die Ampel (31%), also so wie alle anderen etablierten Parteien der Mitte zusammen - und das trotz der oben erwähnten Punkte. Fast alle Landkreise in Westdeutschland haben mehrheitlich CDU gewählt (erwähnt ihr, aber im AfD-Teil nur als Kontrast). Das Ergebnis fast ausschließlich dennoch als negative Implikation für Merz, Wirtschaftspolitik etc. zu deuten, erscheint mir persönlich daher falsch gewichtet.

Noergel

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Vielen Dank für die schöne Folge zur Europawahl. Neben der von euch erwähnten Deutschlandkarte mit der stärksten Partei pro Landkreis ist auch ein Blick in die Tiefe sehr interessant - bei der zweistärksten Kraft ist die Stärke der AfD auch in Süddeutschland sehr gut sichtbar.

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Die Befürchtung von Ulf, das die Entscheidung von Macron für Neuwahlen aus Panik entstanden zu sein scheint, möchte ich ein wenig entschärfen. Ich wusste es bisher auch nicht besser, da ich mich mit der französischen Politik nicht wirklich befasse. Durch Zufall habe ich aber ein Interview der ZEIT-Korrespondentin Annika Joeres gehört, und diese nimmt auf die Entscheidung Macrons Bezug.

Beim Ausruf zu Neuwahlen handelt sich um Parlamentswahlen. Egal was oder wer ins Parlament gewählt wird, Marcon bleibt bis 2027 Präsident. Es würde einen neuen Ministerpräsidenten geben, falls die Stimmen für Le Pens Partei ausreichen. Le Pen selbst steht im Parlament nicht zur Wahl sondern ihr Ziehsohn Bardella. Aufgrund der zentralistischen Ausrichtung in Frankreich, hat der Ministerpräsident allerdings kaum Handlungsspielraum, ohne die Zusage des aktuellen Präsidenten Macron. Selbst wenn Le Pen die ausreichende Mehrheit erzielen würde, um Bardella als Ministerpräsidenten zu installieren, bedeutet dies für die politische Ausrichtung Frankreichs kaum etwas.

Der Hintergedanke bei Macron liegt wohl darin, Le Pens Partei in eine Position zu setzen, wo er im Nachhinein sagen kann, „seht her, die können überhaupt nichts“ und möchte die aufkommend starke Rechte von Le Pen quasi entzaubern. Natürlich ist das von aussen betrachtet hoch gepokert, intern allerdings, aufgrund des Wahlsystems in Frankreich, benötigt man jedoch eine starke Fraktion im Parlament und die hat Le Pen nicht. Man könnte auch von Personalproblemen sprechen. Denn in den zweiten und dritten Reihen hinter Le Pen befinden sich kaum noch Politiker, sondern Populisten, Halbstarke und faschistische Figuren. Die Plätze im Parlament für Le Pen gefüllt und besetzt zu bekommen ist ein großes Problem. Und da die Vorbereitungen auf die Neuwahlen nur ca. 3 Wochen betragen, spekuliert Macron genau darauf, das Le Pen kaum Zeit bleibt, um geeignetes Personal für das Parlament zu finden.

Habe heute einen Hinweis zu solchen Karten gelesen, den ich ganz spannend fand. Die Überschrift lautete „Menschen wählen, nicht Länder“. Gemeint ist, dass ein riesiger Landkreis, in dem vielleicht 100.000 Menschen wohnen, auf so einer Karte viel gewichtiger wirken kann als eine Stadt mit vielleicht 500.000 Einwohnern. Daher sei es eigentlich korrekter, bei der Darstellung solcher Karten die Bevölkerungszahl zu berücksichtigen. Demonstriert wurde das anhand der Europawahlergebnisse in Frankreich.

Quelle: https://www.reddit.com/r/MapPorn/comments/1ddzytk/land_doesnt_vote_people_do_french_edition_oc/

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Zu eurer Frage, warum die AfD in Ostdeutschland so erfolgreich ist, möchte ich auf die Arbeit von Wilhelm Heitmeyer hinweisen, welcher beispielweise vor kurzem ein langes Interview bei Jung & Naiv gegeben hat. Hier einmal seine wichtigsten Thesen mit AI zusammengefasst:

Aus Sicht von Wilhelm Heitmeyer lässt sich der Erfolg der AfD in Deutschland, insbesondere im Osten, durch eine Kombination sozialer, ökonomischer und historischer Faktoren erklären. Hier sind die Hauptgründe zusammengefasst:

  • Soziale Desintegration:

    • Die Gesellschaft im Osten Deutschlands hat nach der Wiedervereinigung starke Desintegrationserfahrungen gemacht.
    • Der Verlust traditioneller sozialer Strukturen und Gemeinschaften führte zu Unsicherheit und einem Gefühl der Orientierungslosigkeit.
  • Ökonomische Unsicherheit:

    • Hohe Arbeitslosigkeit und wirtschaftliche Instabilität sind in Ostdeutschland ausgeprägter als im Westen.
    • Ökonomische Unsicherheit und Perspektivlosigkeit verstärken Ängste und Ressentiments, die von populistischen Parteien wie der AfD ausgenutzt werden.
  • Politische Enttäuschung:

    • Viele Menschen im Osten fühlen sich von den etablierten Parteien und der Politik der Bundesrepublik enttäuscht und nicht ausreichend vertreten.
    • Die AfD wird als Alternative wahrgenommen, die den Protest gegen das politische Establishment kanalisiert.
  • Nostalgie und Identitätskrisen:

    • Es gibt eine gewisse Nostalgie nach der DDR, in der manche Menschen eine vermeintlich sichere und stabile Vergangenheit sehen.
    • Identitätskrisen nach dem Zusammenbruch der DDR tragen zu einer erhöhten Anfälligkeit für rechtspopulistische Botschaften bei.
  • Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit:

    • Die AfD nutzt gezielt gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, um Unterstützung zu gewinnen.
    • Vorurteile und Feindseligkeiten gegenüber Migranten, Muslimen und anderen Minderheiten werden verstärkt und instrumentalisiert.
  • Mediale und soziale Einflussfaktoren:

    • Soziale Medien und bestimmte Medienkanäle verbreiten und verstärken populistische und rechtsextreme Botschaften.
    • Die AfD versteht es, diese Medien effektiv zu nutzen, um ihre Anhängerschaft zu mobilisieren.
  • Empirische Unterstützung:

    • Empirische Studien zeigen, dass in Regionen mit höherer Desintegration und ökonomischer Unsicherheit die Unterstützung für die AfD besonders stark ist.
    • Heitmeyers Forschungen unterstützen diese Beobachtungen und betonen die Bedeutung sozioökonomischer Faktoren bei der Erklärung des Erfolgs der AfD.

Zusammengefasst sieht Wilhelm Heitmeyer den Erfolg der AfD in einer komplexen Mischung aus sozialen Desintegrationsprozessen, ökonomischer Unsicherheit, politischer Enttäuschung und gezielter Mobilisierung gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Diese Faktoren sind im Osten Deutschlands besonders ausgeprägt, was den dortigen Erfolg der AfD erklärt.

Hallo @vieuxrenard,

im Podcast weißt ihr darauf hin, dass die Union von der Migartionspolitik als Kernthema abrücken sollte, weil es nur der AFD nützt und stattdessen sich auf die Wirtschaftspolitik konzentrieren.

Ist bzw. kann den die Wirtschaftspolitik für die Union ein Gewinner Thema werden?
Meine Gadanken dazu sind, dass es eher ein Verlierer Thema für die Union wird.
Zur Begründung:

  • Wirtschaftpolitik mit Wirtschaftsförderung (Subventionen). Das möchte Habeck auch gerne machen, besonders bei der Stahl, Chemie und Automobil Industrie. Habeck hat nur keine finaziellen Mittel (Schuldenbremse)
  • Wirtschaftsförderung durch niedrige Energiepreis (bevorzug Strom). Stromsteuer auf EU Minimum und Stromdeckel. Das will Habeck auch, bekommt aber kein go von Lindner.
  • Wirtschaftsförderung durch Investitionsprogramme (z.B. 400 Mrd. € bis 2030 Forderung des BDI, der Gewerkschaften, der Wirtschaftsweisen). Würde Habeck auch gerne machen, Stichwort Klimatransformationsfonds. Keine Go von Lindner wegen Schuldenbremse
  • Bürokratieabbau will jede Partei
  • Digitalisierung, wollen auch alle Parteien, passiert nur nicht und die Union hat nun mal nicht die beste Historie bei dem Thema
  • Wirtschaftsförderung durch Steuer und Abgaben Reformen. Unterstützt auch Habeck, aber Lindner gibt kein Geld
    Also bei allen Punkten würde die Union offene Türen bei Habeck einlaufen. Es fehlt die Finanzierung.

Nun kommen wir mal zur Finanzierung. Schuldenbremse Reform oder Sondervermögen. Das wollen SPD und Grüne ebenfalls jetzt schon. Die Sperren heiße Scholz und Lindner und die FPD.
Nun stellen wir uns für einen Moment vor Merz tritt ans Rednerpult im Bundestag und sagt: „Wir wollen die Schuldenbremse reformieren (oder ein Sondervermögen), um damit die oben genannten Wirtschaftspolitischen Punkte anzugehen.“ Damit verliert Merz und die Union sofort alle Glaubwürdigkeit, weil bei der ersten Nachfrage er (oder die Union) zugeben müsste, dass die Grünen Recht haben und die FDP und W. Schäuble im Unrecht sind bzw. waren.
Ich kann mir auch keinen Spin vorstellen, wie die Union das verkaufen könnte ohne einen kompletten Glaubwürdigkeitsverlust.

Linnemann hatte vor einem Jahr bei Lanz sich schon mehrfach auf die Zunge beißen müssen, als er das damalige Wirtschaftsprogramm vorgestellt hat. Fragen der Finanzierung beantwortete er mit Wachstum, musste aber zugeben, dass mehr als 1,2 % nicht drin wären, obwohl bei dem Programm mindestens 2% nötig wären.

Und dann kommt noch ein heikels Thema auf die Union zu. Wirtschaftsförderung durch Zuwanderung wegen Fachkräftemangel. Denn wir können noch so viele Mrd. € an Förderung ins Schaufenster stellen, die werden aus Grund des Fachkräftemangels schon heute nicht komplett abgerufen. (Stichwort Handwerker für den Einbau einer WP)

Aus diesen Gründen glaube ich, wird Wirtschaftspolitik auch kein Selbstläufer für die Union.
Ehrlich gesagt, fällt mir aber auch gar kein Thema ein, womit die Union gewinnen könnte. Rente und Gesundheit sind hochgradig riskant, weil es dafür keine einfachen Lösungen gibt.

Darum würde ich mich freuen, wenn ihr beim nächsten Mal eure Gedanken zu Winner Themen weiter ausbreiten könntet.

Sonst war es eine 1A Analyse zur Europa Wahl

Ergänzend dazu:

  1. Ein offener Machtkampf in der CDU über die Kanzlerschaft wäre meines Erachtens fatal. Neben einer zerstrittenen Regierung auch noch eine zerstrittene Opposition? Das ist doch ein Konjunkturprogramm für die AfD.

  2. Wirtschaft als Zugpferd (OK!) aber mit eher „linkem“ Anstrich (Schuldenbremse, Steuererhöhungen)? Was soll das bringen, wenn die CDU plötzlich die SPD kopiert? Da verliert man dann doch am Ende Kontur und läuft Gefahr genauso viele Wähler zu verlieren, wie man gewinnt? Das war doch zumindest aus Sicht vieler Konservativer genau der Grund, weshalb die CDU zum Ende der Merkel-Zeit diesen Absturz erlebt hat.

  3. Natürlich muss es das Ziel der CDU sein die verwirrten Konservativen in der AfD zurückzuholen. Oder akzeptieren wir, dass dieser Teil der Wählerschaft jetzt verloren ist? Soll die CDU dann lieber SPD/FDP/Grüne marginalisieren?

Naja, bei der Europawahl hat die Union ungefähr so viele Wählys allein von den Grünen bekommen wie sie an die AfD verloren hat. Und etwa viermal so viele von SPD und FDP.

Die Union hat kein Problem die Schuldenbremse zu lockern, wenn es ihr nutzt und sie hat auch kein Problem dafür mit Olaf Scholz zusammenzuarbeiten.
Das Sondervermögen Bundeswehr hat Scholz mit Merz hinter dem Rücken seiner eigenen Leute auf den Weg gebracht.

Wie das Kräfteverhältnis zwischen den Parteien der Mitte ist, ist für mich aber aktuell eher zweitrangig.
Mir wäre eine CDU lieber die das konservative Spektrum abdeckt und die AfD damit wirklich auf den (hoffentlich kleinen) rechtsradikalen Kern beschränkt, als eine CDU, die sich nach links orientiert und dann eher bei grün/rot/gelb wildert.

In den letzten Jahren haben sich die politischen Parteien und ihre Anhänger in Deutschland zunehmend radikalisiert. Der politische Diskurs ist härter und unversöhnlicher geworden. Viele Politiker und ihre Anhänger halten an ihren Positionen fest, selbst wenn diese krude, realitätsfern oder wissenschaftlich widerlegt sind. Diese Verhärtung der Fronten hat dazu geführt, dass der langjährige Konsens, miteinander zu arbeiten und Kompromisse zu finden, weitgehend verloren gegangen ist. Stattdessen beobachten wir ein Auftreten, das von Frechheit und Lügen geprägt ist, insbesondere in öffentlichen Foren wie Talkshows. Begriffe wie Whataboutism, Framing und Dogwhistling sind an der Tagesordnung, und die Medien scheinen diesen gefährlichen Trends oft freien Lauf zu lassen, ohne sie kritisch zu hinterfragen oder zu kontrollieren.

Es ist bemerkenswert, dass die linken Parteien diesem destruktiven Trend zu widerstehen versuchen. Sie bemühen sich weiterhin, mit Vernunft und Verstand zu argumentieren, ohne ihre politischen Gegner zu beleidigen. Stattdessen versuchen sie, die Schwächen und die Überalterung der Ideen anderer Parteien aufzuzeigen. Leider scheint diese sachliche Art der Kommunikation in der heutigen Medienlandschaft nicht mehr anzukommen. Medien sind zunehmend auf Skandale und einfache, provokative Sprüche fokussiert, was die lauten und oft populistischen Stimmen bevorzugt. Hinzu kommt eine verstärkte Kampagnenführung gegen linke Positionen, die sachliche Debatten zusätzlich erschwert.

Eine fundierte Untersuchung darüber, wie das Verhalten der FDP in der Ampelkoalition zum Rechtsruck in Deutschland beigetragen hat, wäre dringend notwendig. Beispielsweise wäre es aufschlussreich zu analysieren, inwieweit die FDP durch das Leaken von Gesetzesentwürfen und das Blockieren von Klimaschutzmaßnahmen zur Stärkung rechter Narrative beigetragen hat. Aus dem Scheitern der vermutlich progressivsten Regierung, die Deutschland je hatte, machen Medien und rechte Parteien das Scheitern des Sozialen. Hier stellt sich die Frage: Welche Rolle spielt die FDP in diesem Narrativ?

Diese Untersuchung könnte von einer unabhängigen Institution, beispielsweise einer Universität, durchgeführt werden. Solche Analysen könnten zeigen, ob und wie die FDP durch ihre Handlungen und ihre Kommunikationsstrategie den politischen Diskurs weiter nach rechts verschoben hat. Insbesondere müsste beleuchtet werden, wie ihre Blockadehaltung in zentralen politischen Fragen wie dem Klimaschutz die Regierungsarbeit untergraben und den rechten Populismus gestärkt hat.

Der derzeitige mediale Fokus auf Skandale und einfache Slogans lenkt von den tiefgreifenden politischen und gesellschaftlichen Problemen ab. Es ist an der Zeit, dass wir uns wieder auf eine respektvolle und faktenbasierte Debattenkultur besinnen und den schädlichen Einfluss populistischer Strategien erkennen und benennen. Nur so können wir den fortschreitenden Rechtsruck aufhalten und eine konstruktive politische Kultur wiederherstellen.

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Bezüglich der Wahlergebnisse in der ehemaligen DDR kamen mir die Ausführungen von James Hawes in seinem Buch „die kürzeste Geschichte Deutschlands“ in Erinnerung, der darin immer wieder argumentiert, dass dieses Gebiet noch immer im Schatten Ostelbiens stünde und über den Verlauf der Geschichte stets anders agiert habe als Westdeutschland.

Moin, eine kleine Anmerkung zur Analyse der Wahlergebnisse.

@vieuxrenard sagt, dass die Grünen bei der Europawahl „fatal“ nur 11,9% geholt hätten und zieht den Vergleich zu den Ergebnissen der Europawahl 2019 und der Bundestagswahl 2021. Die 11,9% Prozent seien minus 3 Prozent gegenüber dem „schon schlechten“ Ergebnis 2021.
Die Europawahl 2019 mal einen Moment beiseite gelassen, muss man feststellen, dass es 2021 das historisch beste Ergebnis der Grünen bei einer Bundestagswahl gab: Wahlergebnisse – Bundestag (Bundestagswahl)

Ich kann vermuten, dass dieser Eindruck u.a. deshalb entsteht, weil 1. die vorhergehende Europawahl so außergewöhnlich gut für die Grünen ausgegangen war, 2. die Grünen 2021 Hoffnungen hatten, die Kanzlerin zu stellen und diese durch einen verkorksten Wahlkampf immer weiter schwanden und 3. man von linker Seite deutlich höhere Werte für wünschenswert/notwendig hielte.

Dennoch finde ich es bemerkenswert, an welchen Maßstäben die Grünen hier gemessen werden, wenn sogar die BTW 2021 als besonders schlecht dargestellt wird. Das ist ein etwas irreführendes Narrativ, das ggü. den Grünen mE etwas unfair ist. Ähnlich wie der häufig verbommene Eindruck (in dem Fall meist von Rechts), die Grünen dominierten seit Jahren oder Jahrzehnten die Politik, obwohl sie die meiste Zeit lediglich an ein paar LReg beteiligt waren und bei vielen Wahlen sogar die FDP und die AfD mehr Stimmen holten.

Deshalb der Hinweis und vielleicht die Frage, wie denn dieser Eindruck bei Euch entstanden ist?

Noch ein Aspekt zu dem verzerrten Eindruck den Kartendarstellungen von Wahlergebnissen haben vermitteln können: Die Aussage „die meisten AfD-Wähler sind aus dem Osten“ stimmt nur, wenn man sich die Anteile der Partei an allen Stimmen anschaut. In absoluten Zahlen kommen fast 2/3 der AfD-Wähler (gut 4,1 der insgesamt 6,3 Millionen) aus westlichen Bundesländern - und dabei ist Berlin schon dem Osten zugerechnet. Das nur als Hinweis, die AfD nicht mental auf ein reines „Ostproblem“ zu reduzieren.

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Also ich würde hiergegen Einwenden, dass die Abspaltung des BSW zeigt, dass sich auch die linken Parteien dem Trend zu weniger Sachdiskurs und mehr Geschrei nicht entziehen können. Es hat sich ja gerade der populistische „laute“ Flügel abgespalten und je nach Lesart des Europawahlergebnisses 50-75% der „die Linke“ Wähler abgesaugt.
Die medialste Linkenpolitikerin der letzten Jahre (SW) passt meiner Meinung nach eigentlich perfekt in die geäußerte Kritik im ersten Absatz deines Beitrags und deshalb würde ich denken, dass das Thema „politische Debattenverrohung“ (oder wie auch immer man das betiteln will) jetzt keine Thematik ist, wo man die „links-rechts Schablone“ auflegen sollte. Nach meinem Dafürhalten gibt es halt populistische und nicht-populistische Strömungen im gesamten politischen Spektrum. Die Populisten haben es halt geschafft (overton window und so), dass auch Nicht-Populisten („Wir müssen endlich in großem Stil abschieben“) sich an dem neuen Ton der Debatte beteiligen.

Ich glaube btw auch nicht, dass eine Rückkehr zur „geordneten Debattenkultur“ (falls es sie je gab) wie du in ja auch forderst je möglich sein wird. Das hat aus meiner Sicht wirklich nur in einer Zeit funktioniert, als alles, was auf der Welt passierte, in die Zeitung passte. Dieser zeitverzögerte Filter, die Entrückheit des eigentlichen Geschehens wird sich nicht wieder herstellen lassen. In der Aufmerksamkeitsökonomie dringt man mit nem inhaltlich tollen Plan nicht durch, sondern wenn man sich auf ner Landebahn festklebt oder dem Bundeskanzler „autistische Züge“ unterstellt. Die Echtzeit der Medien, der Erfolg der AfD in den sozialen Medien → der ja gerade daraus resultiert, dass hier nicht sachlich und inhaltlich fordernd Ideen vorgestellt werden, sondern diffamiert, desinformiert und gelogen wird ← wird auch nicht dazu beitragen, dass sich ruhiger Diskurs wieder durchsetzt. (Ruhe steht ohnehin grad nicht hoch im Kurs. Das Handeln von Olaf Scholz versucht die SPD ja auch immer mit dem Edel-Etikett „ruhige Hand“ zu kennzeichnen, aber dieses framing verfängt gerade nirgendwo).
Ich persönlich hasse es immer wenn Leute sagen „die Zeiten sind vorbei“, weshalb ich an dieser Stelle sage: Ich sehe nicht, wie eine Rückkehr zum inhaltlich geprägten, öffentlichen Diskurs geben kann, solange die Wähler jene mit Aufmerksamkeit und Stimmen belohnen, die sich nicht daran beteiligen.

Noergel

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Kannst du einmal ausführen welche Gesetzentwürfe die FDP nachweislich geleaked hat? Möglicherweise habe ich da was verpasst und würde mich gern aufschlauen.

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Ein CDU/FDP-Wähler schaut auf die gleiche Situation und kommt wahrscheinlich zu dem Schluss, dass der Rechtsruck eher auf SPD/Grüne zurückzuführen ist. Wer hat nun recht?

Dass der politische Diskurs härter, unversöhnlicher und „faktenloser“ geworden, den Befund würde ich teilen. Leider sehe ich diese Tendenz aber sowohl rechts als auch links. Themen werden verkürzt, vereinfacht, emotionalisiert… . Als Beobachter des politischen Geschehens finde ich das extrem frustrierend, wenn man sich scheinbar nicht einmal mehr auf eine gemeinsame Faktenbasis einigen kann (und damit meine ich nicht Themen wie den Klimawandel, bei dem es ein klares Meinungsbild gibt).
In der Politik ist dies vielleicht einfach Teil des Geschäfts (da jeder seine Idee „verkaufen“ will), kritisch finde ich diese Tendenz aber in der Presse. Hier ist mein subjektiver Eindruck, dass immer mehr verdeckter „Meinungsjournalismus“ betrieben wird. Jeder schreibt und kommuniziert nur noch in seine eigene Blase.

Vielen Dank für die interessante Folge und die Einordnung der Ergebnisse der Europawahl.
Ihr seid ja am Ende auch auf die Frage eingegangen, woher der Rechtsruck kommt und da hat mir neben den von euch genannten Erklärungen die Erwähnung des offensichtlich in Deutschland sehr tief sitzenden Rassismus gefehlt. Denn gäbe es den nicht, würden die Parolen der AfD auf nicht so fruchtbaren Boden stoßen. Ihr habt natürlich die Hetze gegen Migration genannt, aber ich finde man sollte auch dazusagen, dass die leider sehr häufig mit rassistischen Aussagen einhergeht und größtenteils so hingenommen werden, weil dieses Gedankengut in vielen Köpfen sehr festsitzt.
Die Wahlen könnten vielleicht auch Anlass dazu bieten, sich zu fragen, ob Deutschland es wirklich geschafft hat, seinen Bildungsauftrag hinsichtlich der NS-Zeit bisher ausreichend wahrzunehmen. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass in meiner Schulzeit mal ausführlich über Rassismus, Antisemitismus oder Queerfeindlichkeit in ihren heutigen Ausformungen gesprochen wurde, also z.B. darüber, wie man sie erkennt, wo die Gefahren liegen, wie sie instrumentalisiert werden, was man dagegen tun kann, etc. Neben den geschichtlichen Fakten zum Holocaust, wäre das doch eigentlich essentiell? Aber vielleicht gibt es dazu auch schon was in den Lehrplänen (ich bin Jahrgang 85). Mir wurde jedenfalls in der Schule nicht das nötige Rüstzeug mitgegeben, die eigenen Vorurteile oder die der anderen zu erkennen und zu hinterfragen. Sowas würde ich mir aber von einer Demokratie wünschen, die wehrhaft sein will.

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Erste Reaktionen:

Ich finde das Wahlergebnis auch nicht so schlecht. Glaube auch nicht, dass es so viele Menschen gibt, die zwischen CDU und AfD schwanken. Die AfD-Sympathisanten sind ja der Ansicht, dass die CDU 2015 die ganzen Migranten ins Land gelassen hat. Außerdem lehnen viele das System per se ab.

Die Christdemokraten/Konservativen in Frankreich können von Ergebnissen wie 30% nur träumen.

Das Thema Migration wird vor allen von den Medien immer wieder diskutiert. Das hat nicht die CDU in die Debatte gebracht.

Was stimmt ist, dass Merz kein Sympathieträger und Wahlgewinner ist. Für die Kanzlerkandidatur wäre wahrscheinlich jemand anderes besser geeignet. Insbesondere die Jugend fühlt sich von Merz gar nicht angesprochen. Der steht ja auch schon kurz vorm Rentenalter. Jemand Jüngeren wie Daniel Günther aufzustellen ist aber auch nicht ohne Risiko.

Meine größte Sorge ist, dass die CSU in der nächsten Regierung ähnlich wie aktuell die FDP alle progressiven Reformvorhaben blockieren wird.