Kindergrundsicherung: Grundsatzdiskussion Staat & Bürger

Das Thema Kindergrundsicherung eignet sich dazu die grundsätzliche Relation zwischen Staat (bzw. staatlichen Leistungen und deren Inanspruchnahme und Verstetigung) und Leistungsempfänger zu betrachten. Der Kommentar im SPIEGEL von 8.4. bringt das Dilemma auf den Punkt.
Wir sollten die grundsätzliche Relation überdenken, in der staatliche Leistungen abgerufen werden. Der Staat hat die Verpflichtung gesetzlich zustehende Leistungen mit einem niederschwefligen Zugang abrufbar zu machen. Er hat nicht die Aufgabe Leistungen anzubieten, aktiv zu vermitteln oder „unter die Menschen zu bringen“.
Die Kindergrundsicherung folgt im Grundsatz dieser Idee. Leistungen bündeln und den Zugang erleichtern (also keine (künstlichen) Hürden aufbauen). Diesen vereinfachenden Grundgedanken dann mit dem Aufbau einer neuen (großen?) Behörde zu konterkarieren zeugt nicht nur von politischer Instinktlosigkeit sondern führt uns in die im SPIEGEL-Artikel angestossende Grundsatzdiskussion:
Sie staatliche Leistungen
a) eine Bringschuld des Staates oder
b) eine Holschuld der Bedürftigen?

In einer Zeit enger werdender Budgets müssen wir selbstverantwortliches Handeln fördern. Staatliche Institutionen haben die Zugänge massiv zu vereinfachen und so niederschweflig zu halten, dass diese gerechtfertigten Leistungen nicht als Almosen wahrgenommen werden. Das verhindert (im Gegenteil) aber keine neue Behörde, sondern nur ein verändertes Mind-Set in staatlichen Institutionen und eine Arbeit an vereinfachten Zugangsprozessen.

Hier müssen sollten wir eine sinnvolle Grundsatzdiskussion führen, die längst überfällig ist und mit der die FDP einen Punkt hat, wenn sie (zu populistisch und im Stile einer Oppositionspartei) diese Auseinandersetzung anmahnt.

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ich bin ja recht neu hier - wenn mein Kommentar unpassend ist, bitte ich um Entschuldigung. Die Fähigkeit, Leistungen vom Staat abzurufen, steht in einem inversen Verhältnis zur Bedürftigkeit. Die Anforderung, Leistungen nur zu gewähren, wenn sie abgerufen werden, ist tatsächlich sehr wenig inklusiv. Gilt gerade für die Kindergrundsicherung. Nicht jeder hat unbegrenzten Zugriff auf Google und ist der deutschen Sprache so mächtig, dass er gerade dem deutschen Behördendschungel gewachsen ist. Und gerade die Kinder sollten nicht für dieses Defizit der Eltern büßen.
Also aus meiner Perspektive ist das, wenn man es ernst nimmt mit der Verteilungsgerechtigkeit, eine Bringschuld des Staates. Darüber habe ich mir aber auch erst beim Hören des Interviews mit Fr. Paus Gedanken gemacht.

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Viele staatlichen Leistungen sind keine „Angebote“ an die Empfänger, sondern die Empfänger haben einen Rechtsanspruch. Da ist für mich schon ein Unterschied. Mein Wahlrecht muss ich ja auch nicht einfordern, der Staat schickt mir ohne Aufforderung meine Wahlunterlagen zu. Kinder haben ein Recht auf soziale Teilhabe, unabhängig von der wirtschaftlichen und kognitiven Kapazität bzw. dem Willen der Eltern, diese Teilhabe zu garantieren. Entsprechend sehe ich da durchaus den Staat in der Pflicht, dieses Recht gegenüber den betroffenen Kindern proaktiv umzusetzen.

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Wenn wir die Gesamtkosten auf Dauer im Fokus haben, dann ist es aber günstiger diese Kinder ausreichend zu Unterstützen als die nächste Generation von Leuten die mit der Gesellschaft überfordert sind zu schaffen.

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Ich frage mich aber trotzdem, wozu man - wenn man die Leistungen bündelt und vereinfacht - zusätzlich 5.500 Stellen braucht. Vor allem müsste doch woanders dann mehr als die benötigten Stellen frei werden, weil der Aufwand wegfällt. Stattdessen wird immer nur aufgebaut.

Grundsätzlich sollte es zumindest nicht daran scheitern, dass alles zu komplex ist. Idealerweise läuft das einfach über so etwas wie die Steuererklärung, sodass darüber alles verrechnet wird.

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Das denke ich auch. Deshalb verstehe ich auch die Diskussion nicht.

Allerdings darf man nicht vergessen, dass Familien Ansprüche aktuell nicht in Anspruch nehmen, weil die verschiedenen Ansprüche/Bedingungen/zuständigen Behörden nicht zu überblicken sind, sodass allein die Inanspruchnahme bereits bestehender Ansprüche bei Zusammenlegung/Vereinfachung für die Familien schon einen erheblichen Mehraufwand bedeuten wird.

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So ist es. Momentan ist das Thema ja auf Kommunen und Länder verteilt. Um das im Bund bündeln zu können, muss der Bund diese Stellen schaffen. Die Kommunen und Länder könnten diese dann abschaffen.
Der Bund würde also Kosten übernehmen, die die Kommunen und Länder wiederum einsparen würden.

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Das habe ich auch lange Zeit gedacht. Aber der Mehraufwand fällt wohl gar nicht für die Zusammenlegung an, sondern dafür, dass die Leistungen proaktiv an jene herangetragen werden, die einen Anspruch darauf haben. Zudem handelt es sich nach Angaben des Ministeriums um eine erste grobe Schätzung.

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Passt nicht ganz ins Thema, aber diesen Abschnitt möchte ich nicht so stehen lassen.

Es ist eine politische Entscheidung, keine anderen Wege zu suchen, um Budgets im ausreichendem Maße zur Verfügung zu stellen. Es ist nicht Gott gegeben, das nicht genügend Geld vorhanden ist (Steuererhöhungen, Streichung von Subvention etc.).

Und wie willst du das tun in Zeiten knapp werden der Budgets? :wink: Fördern kostet Geld, Personal und Zeit.

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Das sehe ich genau so. Deshalb wird es, wie ich gefordert haben, absolut notwendige Voraussetzung für eine Grundsatzdiskussion sein, dass die staatlichen Leistungsangebot „niedrigschwellig“ (ich würde es mit „niedrigsschwellig“ konkretisieren). Das ist aus meiner Sicht die Bringschuld des Staates - auch was den Nachweiszweifel bei einer Leistungsgewährung angeht (also im Zweifel für die Antragsteller:innen): Hier hat ‚der Staat‘ die Pflicht auf Basis geringer Nachweishürden eine Entscheidung zu treffen und nur bei massivem Zweifel nachzufordern.

Ich kann der Auffassung von JoeStrong nur zustimmen. Die Lösung muss doch lauten sukzessive den Behördendschungel abzubauen und nicht eine Heerschar von Dschungellotsen einzustellen, damit man sich im Dickicht nicht verliert. Das ist doch absurd.

Analog müsste man ja sonst auch fordern, das Personal der Finanzverwaltung massiv aufzustocken, damit diese den Bürger bei der Erstellung seiner Steuererklärung unterstützen kann. Soll ja niemand benachteiligt werden!

Es gibt aber einen erheblichen Teil der deutschen Politik und Bevölkerung, der dazu nicht bereit ist. Denn für viele ist es eben schlimmer, wenn ein Euro zu „unrecht“ an jemanden „unwürdigen“ geht, als dass der selbe Euro an einen Staatsbediensteten ausgezahlt wird um die rechtmäßige Vergabe zu kontrollieren. „The beaurocracy is the point“.

Fun fact: man kann als Bürger jederzeit beim Finanzamt anrufen und sich bei der Erstellung seiner Steuererklärung beraten lassen. Mache ich regelmäßig bei Unklarheiten und klappt gut.

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Das ist dann aber immer noch eine Holschuld. Ich möchte aktiv vom Finanzamt angeschrieben werden und dann von meinem Finanzbeamten über alle für mich zutreffenden „Steuersparmodelle“ informiert werden, damit ich nicht aus Ignoranz zu viele Steuern zahle.

Die Frage die da mit drinsteckt ist ja, wie sehen wie die Bürger, bzw. welche Rolle muten wir ihnen zu. Denken wir bei unserer Gesetzgebung an mündige Menschen, die ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen, oder an eine Horde Kindergartenkinder, denen man alles hinterhertragen muss und aufpassen muss, dass sie keine dummen Sachen machen.

Ich denke da eher an 1, weshalb eine gewisse “Holschuld” schon auch bei den Bürgern liegen darf. Sonst müssen wir ja für jede Leistung auch immer alle potenziell Berechtigten konsequent überprüfen.

Auf der anderen Seite sollte Holschuld aber auch nicht bedeuten, dass man sich 3 Tage durch einen Wust an Papierkram wülen muss, um 20€ zu bekommen. Das ist ja auch ein schwacher Stundenlohn. Stattdessen durch digitale Angebote alles einfach machen, siehe Estland. Dann können mehr Berechtigte ihre Leistungen bekommen, und trotzdem haben wir weniger Aufwand. Zudem auch inhaltlich an der ein oder anderen Stelle verschlanken - warum bspw. nicht einfach eine Wohngeld-Pauschale, wer zu teuer wohnt zieht dann um, und wer in bester Stadtlage wohnen will, kann sich das ja erarbeiten.

Das ein gerne genutztes und simples Bild, was aber der Komplexität der Realität nicht gerecht wird. Jemandem ohne Aufforderung Unterstützung anzubieten oder einer Person gegenüber Großzügigkeit und Zuwendung zu zeigen ist nicht das selbe, wie jemanden wie ein „Kindergartenkind“ zu behandeln. Kindern und deren Eltern ungefragt und unaufgefordert Geld zu überweisen bzw. ihnen Hilfe bei der Beantragung der ihnen zustehenden Unterstützungsleistungen anzubieten, weil ich einen Anhaltspunkt dafür habe, dass die Kinder sonst in Armut abrutschen ist nicht entmündigend. Es ist ein Zeichen gesellschaftlicher Stärke und Solidarität und darüber hinaus intelligente Politik.

Warum denn nicht? Die Bringschuld komplett auf die Berechtigten abzuladen steht oft im Widerspruch mit dem Sinn der Leistung. Beispiel Schulbegleitung für sozial-emotional förderbedürftige Kinder (gerne auch „Systemsprenger“ genannt): Da müssen die Eltern derzeit initiativ einen Antrag stellen, dafür diverse ärztliche, therapeutische und psychologische Gutachten machen lassen usw. Das dauert Monate und in der Zwischenzeit leiden das betroffene Kind, die Eltern und nebenbei die Mitschüler und Lehrer.

Warum sollte das Jugendamt nicht einfach auf der Grundlage einer Bedarfsfeststellung der Schulleitung und nach interner Rücksprache mit einem Schulpsychologen und den Klassenlehrern eine Schulbegleitung organisieren? Oder noch besser: Warum haben Schulen nicht einfach einen Pool an Schulbegleitern/Sozialarbeitern, die kurzfristig eingesetzt werden können, während das Jugendamt auf die Eltern zugeht und mit ihnen eine langfristige Förderstrategie ausarbeitet? Wer gewinnt in dem gegenwärtigen System?

Na dann CDU wählen. Aber das übersieht völlig, wie viele zusätzliche Probleme man betroffenen Menschen macht, wenn man sie neben dem Schicksalsschlag, in das Bürgergeld abzurutschen, auch noch zwingt ihre Wohnung und das damit oft verbundene soziale Umfeld (und z.B. Schule für die Kinder usw.) aufzugeben. Einfache Lösungen sind keine. Entweder man ist großzügig, oder man betrachtet jeden Einzelfall ausführlich, wenn man an einer Lösung wirklich interessiert ist.

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Wäre fair. Momentan ist es so, dass je geringer der Bildungsgrad und je geringer das Einkommen, desto weniger Steuererklärungen werden abgegeben.
Eine Holschuld bevorzugt immer die, die aufgrund höherer Intelligenz/Bildung die Aufgaben leichter bearbeiten oder aufgrund Einkommens leichter Beratungen in Anspruch nehmen können (da macht der Steuerberater halt den Kindergeldantrag schnell unentgeltlich mit für den Mandanten).

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Komplett andere Kommentar zum gleichen Thema: In der fundierten Diskussion zur Kindergrundsicherung in der LdN 377 heißt es, dass auch der Kinderfreibetrag (bei der Einkommensteuer) abgeschafft werden soll. Das ist aber aktuell nicht geplant. Was politisch diskutiert wurde und möglich ist, ist eine so starke Anhebung des Garantiebetrags bzw. des bisherigen Kindergelds, dass sich niemand mehr durch Inanspruchnahme des Kinderfreibetrags besser stellt. (Bis auf Ausnahmen bei Steuerpflichtigen, deren Kinder nicht kindergeldberechtigt sind.) Was auch rechtlich möglich aber politisch sehr unwahrscheinlich wäre, ist eine Abschaffung des BEA, des Teils des Kinderfreibetrags für Betreuungs-, Erziehungs- und Ausbildungsbedarfs. Beide Varianten sind aktuell nicht geplant. Die erste Variante wäre sehr teuer, die zweite wäre zwar sinnvoll, würde aber gut Verdienende gegenüber dem Status Quo schlechter stellen.

Da dieses full-service Modell offensichtlich nicht umsetzbar ist, bleibt doch nur die Option die Regelungen massiv zu vereinfachen bzw. zu automatisieren. Sonst wird immer die „Oberschicht“ bevorzugt.

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Warum soll es ein Wert an sich sein, gut verdienende schlechter zu stellen. Aus meiner Sicht muss ja nicht jedes Instrument auch eine Umverteilung bewirken.

Den Punkt gebe ich dir. In dem Fall würde ich es ebenfalls so sehen.

Ich meine in Dänemark gibt es das auch recht simpel, da trägt man das Kind im Internet ein und bekommt das Geld ab Geburt. Vielleicht für Kinder sogar noch ok, wenn man es ausreichend simplifiziert.

Was aus meiner Sicht aber nicht passieren sollte ist, dass ein Staatsverständnis entsteht, in dem den Leuten alle Sozialleistungen hinterhergetragen werden. Dann stellt sich schnell eine Anspruchshaltung ein, die man nicht mehr weg bekommt.

Vielleicht könnte man sagen, bei Anlass bezogenen Leistungen (Kind, Ehe, …, whatever) wird der Staat von selbst aktiv. Bei Sozialleistungen sehe ich es kritischer.