Bürgerräte als Instrument zur Populismusverringerung

In der Podcastfolge LdN388 wurde von Ulf und Philip mal so nebenbei erwähnt, dass der Soziologe Steffen Mau („Ungleich vereint: Warum der Osten anders bleibt“, „Triggerpunkte“, „Lütten Klein“ usw.) Bürgerräte gleichsam als Instrument zum Zurückdrängen des Populismus im Osten der Republik empfiehlt.

Zum einen weiß vielleicht jemand von euch, warum Mau das für eine gute Idee hält. Habe dazu weder im Dlf-Interview noch in der aktuellen Lage überzeugende Antworten gehört.

Zum anderen kennt jemand aus der Community vielleicht Forschung dazu.

Der Idee Bürgerrat zunächst sehr positiv zugetan, sowas gibt’s ja auch auf kommunaler Ebene, stelle ich an mir zunehmende Skepsis fest.

Auf nationaler Ebene wurde mal der Bürgerrat Klima durchgespielt - mit, wie ich damals gedacht habe, durchaus ermutigenden Ergebnissen.

Der später durchgeführte institutionalisierte Bürgerrat Ernährung war dann schon sehr viel ernüchternder. Auf Banalitäten wie kostenloses Schulessen konnten sich alle einigen, aber nicht mal für eine in andern Ländern erfolgreich implementierte Zucker-Steuer gab es eine Mehrheit in dem Bürgergremium.

Das Prinzip von einer informierten Entscheidungsfindung aufgrund der Beratung durch Experten leuchtet mir ein.

Und bei einer klaren naturwissenschaftlichen Faktenlage wie der Klimakrise herrscht auch weitgehender Konsens aller seriöser Fachleute. Allerdings mutmaße ich inzwischen, dass ein gleichfalls repräsentativer Bürgerrat Klima heute womöglich andere Empfehlungen beschlossen hätte als noch vor einigen Jahren, als die Gefahren durch die Klimakrise noch das hot topic waren. Seinerzeit war einfach das gesellschaftliche ‚Klima‘ noch ein anderes.

Schwieriger wird es da noch, wenn die Expertise selbst schon unter Ideologieverdacht fällt. Das ist bei sozialwissenschaftlicher Expertise - auch die Ökonomie ist letztlich eine Sozialwissenschaft - doch sehr häufig der Fall.

Und selbst der Umgang mit der Pandemie, ich erinnere da nur an Sachsens überfüllte Krematorien und das Ausfliegen von Intensivpatienten in andere Bundesländer, gibt doch Anlass zu Skepsis, was bestimmte (Teil-)Populationen angeht.

Ein weiteres Beispiel wäre das durch boulevardeske Demagogie geschrottete Gebäude-Energie-Gesetz, das in der letzten Podcastfolge recht differenziert besprochen wurde, wobei ein Aspekt m. E. gefehlt hat, nämlich die Notwendigkeit sukzessiver Umstellung auf Wärmepumpen bei begrenzter Kapazität an fachkundigen Installateuren. Es ging immer bloß um langfristige Kostenbetrachtungen für den Einzelhaushalt, aber so gar nicht um Erfordernisse bzgl. des Erreichens von Klimazielen innerhalb eines Emissionsbudgets.

Weshalb ich diese kleinen Exkurse bemühe, ist, weil sie exemplarisch zeigen, wie anfällig Bürger - auch bei klarer wissenschaftlicher Evidenz - für (mithin gezielt angeheizte) Stimmungen in der Bevölkerung sein können.

Die Frage, ob Bürgerräte ‚populismusresilienter‘ machen können, weil sie unter bestimmten Bedingungen tendenziell politische Selbstwirksamkeitserfahrungen ermöglichen, steht und fällt m. E. mit der Frage, ob und inwieweit die beteiligten Bürger überhaupt bereit sind, sich auf Sachargumente einzulassen.

Die zweite Ebene möglicher Probleme will ich zumindest anreißen. Denn es spielen ja keineswegs nur faktenbasierte Argumente eine Rolle, sondern auch ethische Erwägungen. Wenn jemand der „Ideologie der Ungleichwertigkeit“ (u. a. Zick/Heitmeyer et al.) anhängt, obwohl unsere Verfassung das gewissermaßen anders sieht, kommt derjenige zu anderen Schlüssen, völlig unabhängig von Sachargumenten.

Klar kann man als Vorgabe setzen, dass alle Forderungen von Bürgerräten stets grundgesetzkonform sein müssen, aber auch unterhalb dieser Schwelle kann doch der gesellschaftliche Wertepluralismus in Untiefen führen, insb. dann, wenn in bestimmten Teilpopulationen reaktionäre Einstellungen vorherrschen, sorry, dass ich hier schon wieder das mehrheitlich ultrakonservative Sachsen - vielleicht ergänzt um Bayern mit ähnlicher Problematik - anführen muss.

Kurzum: Ich bin mir nicht mehr sicher, ob Bürgerräte tatsächlich einen ‚Mehrwert‘ haben.

Was denkt ihr?

Wie so oft handelt es sich eben um eine gute Idee, aber nicht um ein Allheilmittel, das ausnahmslos in jede Situation passt.

Ich halte Bürgerräte auch nicht für grundsätzlich besser oder schlechter als repräsentative Demokratie. Ich denke, das Konzept eignet sich am ehesten als Ergänzung – zum Beispiel als Möglichkeit einer parlamentarischen Minderheit zu einer gesellschaftlich strittigen Frage eine „neutrale Instanz“ zu schaffen, um Sachlichkeit und eine Anbindung an die gesellschaftliche Realität jenseits medialer Verzerrung herzustellen.

Hilfreich können Bürgerräte meiner Ansicht nach dann sein, wenn sie helfen das Narrativ der „politischen Elite“, die den „Volkswillen“ missachtet zu entkräften.

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Was genau unterscheidet im Hinblick auf die Entscheidungsfindung eigentlich konkret ein Bürgerrat von einem Parlament?

Mir fallen dazu folgende Stichworte ein

  • Repräsentativität: Ein Bürgerrat soll die Gesamtbevölkerung so gut wie möglich repräsentieren (wie gut das gelingt, steht auf einem anderen Blatt)

  • Keine Parteizugehörigkeit und Fraktionszwang

  • „Weißes Blatt Papier“ - die meisten Bürger haben vom Thema vorher wirklich Ahnung und müssen von Fachleuten ausführlich gebrieft werden. Auch die Parlamentarier haben Ausschüsse, die Expertenanhörungen machen. Aber ich denke, die Mitglieder von Bürgerraten werden erst einmal über Basics unterrichtet, die die Experten bei Parlamentsausschüssen voraussetzen (dürfe?).

  • Begrenzte Lebensdauer: Nach Abschluss löst sich der Bürgerrat wieder auf und die Mitglieder gehen ihrem bisherigen Leben nach. Das, was sie getan hat, wird kaum Auswirkung auf ihr weiters Leben haben. Parlamentarier müssen sich ihren Wählern und ihren Fraktionskollegen für ihren inhaltlichen Beitrag und ihr Abstimmungsverhalten verantworten.

  • Monothematik: Der Bürgerrat „entscheidet“ über ein einziges Thema / Themenkomplex

Und sonst?

Und dann: Welchen Mehrwert ergibt sich daraus beim Bürgerrat gegenüber einem Parlament?

Gibt es darüber Informationsquellen?

Der Bürgerrat hätte dann eine sehr gute Wirksam, wenn es gelänge, die nachträglich Dynamik der Konsensfindung im Bürgerrat in die öffentliche Diskussion zu dem jeweiligen Thema wirkmächtig einzubringen.