Sehe ich ähnlich.
Das Problem fängt gerade im Falle der Ukraine aber eben auch damit an, dass man die eigenen Bürger aufgerufen hat, sich zu bewaffnen und Molotovcocktails herzustellen und gegen die Russen zu kämpfen. Das ist natürlich aus ukrainischer Sicht absolut nachvollziehbar, schließlich kämpft das Land um seine Existenz, aber das führt eben auch dazu, dass die Grenzen zwischen Zivilist und Kombattant verschwimmen.
Bei der Bundeswehr haben wir damals dieses klassische Bild der „Waage der Verhältnismäßigkeit“ vermittelt bekommen. Wenn aus einem Wohnblock heraus also ein paar Leute mit Gewehren und Molotovcocktails agieren, möglicherweise sogar Soldaten mit Panzerfäusten lauern, wird Russland diesen Wohnblock eben zum „militärischen Ziel“ deklarieren. Und das würde jedes andere Land ähnlich machen. Israel ist z.B. auch sehr „liberal“ darin, bei größeren Militäroperationen im Gaza-Streifen Ziele als „militärisch“ zu erklären, wenn sich ein paar Hamas-Kämpfer dort verschanzen.
Der Grundsatz der Waage der Verhältnismäßigkeit lautet eben nicht „Zivilisten dürfen auf gar keinen Fall getötet werden“ sondern „Es dürfen nicht unverhältnismäßig viele Zivilisten im Verhältnis zu Kombattanten getötet werden“. Und das ist natürlich wieder eine Grauzone, die von den unterschiedlichen Kriegsparteien gänzlich anders ausgelegt wird. Sind 5 bewaffnete Ukrainer in einem Wohnblock mit 50 Zivilisten genug, um einen Angriff zu rechtfertigen? 10? 20? Oder verbittet sich ein Angriff auf diesen Wohnblock vollständig? Es ist denke ich klar, welche Positionen Russland, die Ukraine und der Westen in diesem Fall jeweils vertreten würden.
Und natürlich wird Russland im Zweifel immer behaupten, das Krankenhaus/Theater/Wasauchimmer wurde in Wirklichkeit von Soldaten benutzt oder war ein Waffenlager oder eine Molotov-Werkstatt oder was auch immer.
Die Frage, ob die jeweils zuständigen Entscheidungsträger des russischen Militärs das wirklich glauben oder absichtlich zivile Ziele angreifen, kann natürlich aktuell kaum beantwortet werden und wird im Nachhinein möglicherweise noch Gerichte beschäftigen. Klar ist denke ich, dass Putin die einzelnen Angriffe nicht höchstpersönlich befielt, sondern in der Regel ein ranghoher Offizier vor Ort. Von Putin wird allerdings vermutlich eine allgemeine Anweisung kommen. Zu Beginn lautete sie vermutlich „Versucht zivile Opfer zu vermeiden“, weil man noch in dem Irrglauben war, die Ukrainer würden ihre russischen „Befreier“ wohlwollend empfangen. Durch den starken Widerstand der Ukraine wird die Anweisung vermutlich irgendwann auf „Tut was auch immer nötig ist, um den Widerstand zu brechen“ gewechselt worden sein. Und das führt eben dazu, dass „Verhältnismäßigkeit“ vor Ort im Zweifel sehr, sehr weit ausgelegt wird.
Grundsätzlich gilt hier aber noch zu sagen, dass Russland als Angreifer letztlich die alleinige Verantwortung für die zivilen Opfer trägt. Man kann es der Ukraine halt nicht vorwerfen, dass sie sich mit allen Mitteln gegen den russischen Angriffskrieg zu wehren versucht, auch wenn diese Mittel zu mehr zivilen Todesopfern führen. Russland hat diese Spirale in Gang gesetzt und wird sich hoffentlich irgendwann dafür verantworten müssen.