"Zero Covid" - Vorbild Australien?

Eines der Argumente, mit denen Zero Covid wirbt, und dass auch in der LdN 225 kolportiert wurde ist ja die Aussicht auf ein baldiges Ende. Als Positivbesipiel hierfür wurde verschiedentlich Australien angeführt. Da bin ich nach der Lektüre dieses Artikels von der BBC [Link] etwas spektisch. Der Lockdown in Melbourne (mit der Provinz Victoria quasi der Hotspot Australiens) dauerte doch ziemlich lange.
Ich habe ich daraufhin mal die Historie der Maßnahmen angeschaut, aus dem Artikel und von [hier] und mich bei [dieser Quelle] mit den Infektionszahlen in der Provinz versorgt. Die Berechnungen zur Indizenz basieren auf einer Einwohner:innenzahl Victorias von 6.629.999 (Stand Ende 2019).
Nachstehend ein paar Eckpunkte aus Infektionszahlen und Maßnahmen. Um das Ganze etwas anschaulicher zu machen, habe ich in eckigen Klammern die Tage seit Beginn des Lockdowns in Melbourne dazugeschrieben.
07.07.20: Neuinfektionen pro 7 Tage pro 100.000 (im Folgenden NI7) erstmals zweistellig (10). Beginn des Lockdowns [1]
06.08.20: Peak der Neuinfektionen mit NI7 bei 51(!) [31]
04.09.20: NI7 erstmals wieder unter 10 [60]
19.10.20: NI7 rechnerisch unter 1 [105]
28.10.20: NI7 weiter unter 1; Jetzt erst Ende des Lockdowns, d.h. Geschäfte öffnen wieder, Leute dürfen wieder unbegrenzt raus, Treffen drinnen und draußen aber nur bis 10 Personen [114]
30.10.20 Fallzahl erstmal bei 0 (Zero Covid) [116]
08.11.20 Reisebeschränkung (25 km vom Wohnort) fällt. Leute aus Melbourne können erstmals wieder aufs Land fahren. Fitnessstudios öffnen wieder [125]
12.12.20 erstmals wieder einzelne Fälle, NI7 bleibt bei 0 [159]
17.01.21 NI7 weiter bei 0, seit Ende des Lockdowns im Schnitt 1 Fall pro Tag. Jetzt darf man sich erstmals 30 statt 15 Leute nach Hause einladen. Treffen draußen beschränkt auf 100 Personen, Abstand und Masken sind weiterhin vielerorts Pflicht. [195]

Fazit: Der Lockdown fing bei einer Inzidenz von 10(!) an, höher als 51 war die Inzidenz nie. Dennoch dauerte es über 100 Tage bis Ende des Lockdowns und auch heute, fast 200 Tage nach Beginn des Lockdowns gibt es immer noch etliche Einschränkungen.

Zur weiteren Veranschaulichung: Setzt man Tag [1] am 1. Februar 2021 an (was natürlich aus mehreren Gründen unwahrscheinlich ist) und überträgt das Vorbild Victoria 1:1 auf Deutschland (was m. E. noch unrealistischer ist), so wäre das Ende des Lockdowns am 25. Mai. Die Reisebeschränkungen fielen am 5. Juni, Geburtstage mit mehr als 15 Leuten drinnen können ab 14. August wieder gefeiert werden.

Das zeigt aus meiner Sicht, dass „Zero Covid“ dreierlei ganz sicher nicht bedeutet:

  • einfach nur die bisherigen Maßnahmen beibehalten, nur mit mehr Motivation (LdN 225)
  • Aussicht auf ein schnelles Ende der Maßnahmen
  • eine baldige Rückkehr zur „Normalität“ (wie wir sie bis 2019 kannten)
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volle Zustimmung. Ich würde ergäzend noch anmerken dass die Effektivität von Maßnahmen leider drastisch abnehmen dürfte je höher die Inzidenz ist.

Sprich: wenn wir die Maßnahmen aus Australien am 1.2. einführen würden, und wir vielleicht in einer Woche unter ignoranz der Dunkelziffer auf eine Inzidenz von ca 100 kommen, dann ist die Inzidenz zu dem Zeitpunkt immernoch um den Faktor 10 höher als in Australien. Es ist also selbt FALLS man es schaffen SOLLTE die gleiche Maßnahen umzusetzen, davon auszugehen dass die Reduktion der Fallzahlen deutlich länger brauchen würde als in Australien.

Erstmals überschritten wurde in Deutschland die 10er Inzidenz übrigens Ende August.

Ich erinnere mich noch gut an den Aufschrei als es im Oktober darum ging auch nur Restaurants und Kneipen zu schließen. Das wäre von der Bevölkerung schlichtweg nicht mitgetragen worden.

Teil der Zero-Covid- Initiative sind übrigens auch solche Forderungen:

4. Impfstoffe sind globales Gemeingut: Eine globale Pandemie lässt sich nur global besiegen. Öffentliche und private Unternehmen müssen umgehend die erforderliche Produktion von Impfstoffen vorbereiten und durchführen. Impfstoffe sollten der privaten Profiterzielung entzogen werden. Sie sind ein Ergebnis der kreativen Zusammenarbeit vieler Menschen, sie müssen der gesamten Menschheit gehören.

5. Solidarische Finanzierung: Die notwendigen Maßnahmen kosten viel Geld. Die Gesellschaften in Europa haben enormen Reichtum angehäuft, den sich allerdings einige wenige Vermögende angeeignet haben. Mit diesem Reichtum sind die umfassende Arbeitspause und alle solidarischen Maßnahmen problemlos finanzierbar. Darum verlangen wir die Einführung einer europaweiten Covid-Solidaritätsabgabe auf hohe Vermögen, Unternehmensgewinne, Finanztransaktionen und die höchsten Einkommen.

Quelle: https://zero-covid.org/

Ich kann und will mich der positiven Bewertung dieser Initiative einfach nicht anschließen, egal wie sehr ein gemeinsames europäisches Vorgehen natürlich wünschenswert wäre.

Diese beiden Punkte finde ich das Beste an „Zero Covid“, zusammen mit den Forderungen nach einem bedarfsorientierten öffentlichen Gesundheitssystem und nach einer solidarischen Gesellschaft. Nur finde ich, dass solche im weitesten Sinne humanistischen oder sozialistischen Forderungen im realexistierenden Kapitalismus nicht besonders realistisch sind. Und deshalb passen sie nicht zu der schon arg realpolitischen Forderung nach einem „Mega-Lockdown“ - denn dazu, wie der auf einmal europäisch und solidarisch werden soll, sagen sie leider nichts.

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Update: Victoria geht gerade mal wieder für 5 Tage in den Lockdown - bei 21 aktiven Fällen in der gesamten Provinz und einer Indizenz von rechnerisch 0.

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Sehr gut Analyse in der #228
Ein Aspekt wird oft übersehen:
Viele Menschen haben etwas mehr Budget als für den Grundbedarf und deren Ekel vor Ansteckung im Kaufhaus, Shoppingmall, Flugzeug, Kreuzfahrtschiff, Reisebus, Restaurant, Fitnesscenter und Kulturveranstaltungen wächst durch das von Populisten und Lobbyisten erzwungene Jojo langfristig. Je länger wir nicht unter die Inszidenz von 10 kommen desto mehr Geld wird in Wohnmobile, Aktien, Cryptowährungen und anderes investiert und ändert das Konsumverhalten dauerhaft zu Lasten vieler, die eben nur nach schnelle Lockerungen rufen.

Diesen Thread leider erst gesehen, nachdem ich diesen Beitrag in dem Zero Covid unrealistisch? Thread gepostet habe. Passt hier auch/besser:

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Eine weitere Meldung aus der Kategorie „Vorbild Australien - really?“

Mal wieder ein Update zu No Covid in der Praxis: In Sydney gibt es mal wieder eine Woche Lockdown. Grund dafür: In der gesamten Region New South Wales gibt es gerade 54 aktive Fälle, was einer Inzidenz von 0,7 pro 100.000 entspricht. Dazu seit 16 Monaten praktisch geschlossene Grenzen.