Wird in der Politik zu oft (verfassungs-)rechtlich argumentiert?

Hallo, liebe Mitleser/innen und liebes Lage-Team,

ich bin ein inzwischen begeisterter Lage-Hörer und freue mich jede Woche über eure Analysen und Einordnungen (auch, wenn ich hier und da manchmal eine kritische Anmerkung hätte).

Ausgehend von der letzten „Lage der Nation“ (LdN231) möchte ich gern ein neues Thema einbringen bzw. es auf eine übergeordnete Ebene heben, welches mich seit einiger Zeit beschäftigt und sich auch durch die insb. juristischen Einschätzungen und Einordnungen in der „Lage“ – die ich oft sehr, sehr schätze, gut erklärt und überaus nachvollziehbar finde – verstärkt hat. Es geht um die ‚Juridifizierung (Verrechtlichung) von Politik‘ (weniger um die ‚Politisierung der Verfassungsgerichtsbarkeit‘).

In der vergangenen Folge wurde dies anhand der AfD und des Verfassungsschutzes (BfV) erläutert. Auch Matthias Quent hat es als „problematisch“ herausgestellt, dass die Einschätzung der Verfassungsmäßigkeit bzw. -feindlichkeit ein inländischer Geheimdienst vornehme (anders als etwa in den USA oder Frankreich). Auch @vieuxrenard hat gesagt, man müsse die AfD „politisch stellen“; eine Behörde solle diese Entscheidung nicht treffen. Allerdings geht es mir weniger um den konkreten Fall der AfD, sondern um eine generelle Auseinandersetzung mit ‚Verrechtlichung‘ innerhalb der Politik bzw. des politischen Diskurses.

Meine persönliche Wahrnehmung ist folgende: Ich habe bei politischen Debatten in Deutschland zunehmend den Eindruck, dass oft (nur) (verfassungs-)rechtlich, aber leider weniger politisch diskutiert/argumentiert wird. Es gibt eine Tendenz, Sachverhalte und politische Fragen eben nicht politisch zu lösen bzw. zu debattieren, sondern mit rechtlichen Aspekten, oft in Bezug auf das GG, zu argumentieren.
Nicht, dass ich falsch verstanden werde: Als Grundlage für gesellschaftliches Zusammenleben kommt der Verfassung natürlich eine überaus wichtige und prägende Aufgabe zu, Politik basiert auf Recht, aber natürlich findet auch so etwas wie sozialer Wandel statt. Gesellschaft verändert sich, und wird es auch immer tun – und damit auch das Recht, das als Fundament von gesellschaftlichem Leben gelten kann. ‚Recht‘ ist an dieser Stelle ohnehin nur etwas, was dynamisch ist und immer der Interpretation (oder besser: der Hermeneutik, also Auslegung) bedarf. Man ginge, glaube ich, nicht zu weit, wenn man sagt, dass ‚Recht‘ das ist, worauf sich alle einigen. Und in einer repräsentativen Demokratie mit parlamentarischen Regierungssystem ist „alle“ eben das Parlament. Das könnte theoretisch aber morgen schon ganz anders entscheiden.

Ein konkretes Beispiel: Von konservativer Seite wurde in der Debatte um die ‚Ehe für alle‘ bzw. Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften oft das Argument gebracht, dass dies mit dem GG (insb. Art 6 Abs. 1) nicht vereinbar sei. Die CSU erwägte etwa lange Zeit, vor das Bundesverfassungsgericht zu gehen. Aber warum? Es ist aus meiner Sicht eine Streitfrage, ein Sachverhalt, der zutiefst politisch (und damit gesellschaftlich relevant) ist, und daher auch einer politischen Antwort bzw. Entscheidung bedarf. Warum wird versucht, politische Streitfragen juristisch, aber nicht politisch zu lösen – und diese politische Entscheidung dann auch zu akzeptieren? Und nicht etwa, weil einem das Ergebnis nicht gefällt, rechtlich dagegen vorzugehen, als quasi letztes Mittel der (politischen) Auseinandersetzung?
An diesem Beispiel lässt sich auch sehr gut sehen, dass und wie Recht sich wandelt, denn das BVerfG hat seine Rechtsprechung im Jahr 2009 dahingehend grundlegend verändert.

In der Politikwissenschaft wird diese Wahrnehmung der Verrechtlichung häufig als Merkmal der ‚Politischen Kultur‘ in Deutschland genannt. Da wird bspw. von einem „legalistischen Stil“ gesprochen (Rudzio 2019: Das politische System der BRD, S. 484). Ein guter, schon etwas älterer Überblick/Einstieg findet sich hier: „Regiert Karlsruhe mit? Das Bundesverfassungsgericht zwischen Recht und Politik“.
Insbesondere würde mich hierzu mal ein juristische Meinung interessieren. Vielleicht schätzt man das Thema ganz anders ein, wenn man aus der Rechtswissenschaft kommt…

Eventuell wäre dies auch ein Thema für eine kommende Folge? Vielleicht habt ihr noch andere und weiterführende Beispiele? Teilt ihr diese Einschätzung insgesamt?

Ich bin gespannt auch auf die Diskussion hier im Forum! (Und bitte entschuldigt, falls das Thema so oder so ähnlich schon mal irgendwo hier oder in der LdN behandelt worden sein sollte, dann bin ich über jeden Hinweis dankbar…)

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Es ist sicher richtig, dass sich das Recht im Lauf der Zeit mit der Gesellschaft wandelt. Aber diese Wandlung muss dann das gesetzgebende Organ auch vollziehen. D.h. insbesondere, der Bundestag darf natürlich kein Gesetz beschließen, das im Widerspruch zur Verfassung steht. In einem Fall, in dem ein solches Gesetz erlassen werden soll, muss er dann auch den zweiten Schritt machen (oder eigentlich den ersten) und die Verfassung ändern. Hierfür sind aber die Hürden höher. Und dann ist es eben auch ein politisches Instrument, wenn eine Partei der Meinung ist, sie könnte ein neues Gesetz verhindern, indem sie juristisch durchsetzt, dass seine Einführung eine Zweidrittelmehrheit braucht.

Hast Du denn den Eindruck, das Mittel würde in der letzten Zeit häufiger eingesetzt als früher? Oder gibt es dazu eventuell Statistiken?

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Danke für deinen Beitrag, aber ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich auch alles verstehe. Mir geht es nicht um das parlamentarische Verfahren an sich (das hast du m. E. zutreffend beschrieben), sondern um die Art und Weise, wie in politischen Debatten (zu politischen Streitfragen) argumentiert (und entschieden) wird. Aber ja, es ist auch ein politisches Instrument und teilweise Strategie und mein Eindruck ist, dass das zugenommen hat (bspw. in der Auseinandersetzung mit der AfD). Die Frage ist allerdings: muss/sollte das immer so sein?

Allerdings noch eine Klarstellung: Nicht das Recht wandelt sich (einfach so), sondern Menschen ‚machen‘ Recht und verändern es, weil es bspw. gesellschaftliche Veränderungen gibt, neuen ‚Input‘, der geregelt werden muss (z. B. im Rahmen von Digitalisierung/Automatisierung usw.), es neue Rechtsprechung und damit Weiterentwicklungen gibt. ‚Recht‘ ist ja nichts Objektives, was vom Himmel fällt und einfach da ist.

Vielleicht habe ich mein Thema zu abstrakt dargestellt, daher noch ein anderes Beispiel:
In den USA gibt es seit Jahrzehnten die Bewegungen „Pro-Life“ und „Pro-Choice“ zum Thema Abtreibung/Schwangerschaftsabbruch bzw. freie Wahl/Selbstbestimmung. Auch in Deutschland haben wir diese Diskussion (vgl. § 219[a] StGB) schon länger. In den USA wird diese Frage aber ‚verrechtlicht‘, indem bspw. vor dem Supreme Court geklagt wird und eine höchstrichterliche Rechtsprechung erwartet wird, die diese Debatte dann endgültig beendet und die Streitfrage rechtlich klärt. Aus meiner Sicht handelt es sich aber um eine politische Streitfrage, zu der ich verschiedener Meinung und Einstellung sein kann. Es sollte das Ziel sein, diese Frage politisch zu lösen, aber nicht juristisch, indem ich bspw. mit dem Grundgesetz argumentiere (z. B. Würde des Menschen, also in diesem Fall: des ungeborenen Lebens/des Embryos).
Mein Eindruck ist, dass gerade verfassungsrechtliche Argumente dann ins Feld geführt werden, wenn man politisch mit dem Ergebnis nicht einverstanden ist (s. mein Beispiel zur ‚Ehe für alle‘).

Es ist gewissermaßen ein Teufelskreis, da sich ‚Politik‘ letztendlich immer in ‚Recht‘ (Gesetze, Verordnungen etc.) niederschlägt, aber ich hoffe, dass es jetzt evtl. verständlicher ist. Kurzum: Politische Sachverhalte und Streitfragen sollten auch politisch gelöst werden.

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Noch eine Überlegung, warum es sein könnte, dass solche Fälle heute häufiger eintreten als bisher: Das Grundgesetz gibt ja einen gewissen Rahmen vor, innerhalb dessen Gesetze die Einzelheiten regeln. Wenn sich die gesellschaftliche Entwicklung im Lauf der Zeit nun an vielen Stellen auf den Rand dieses Rahmens zubewegt, dann bieten neue Gesetze oder Vorlagen ganz natürlich den - im Wortsinn - konservativen Kräften häufiger eine Gelegenheit mit einem Konflikt zwischen Gesetz und Verfassung zu argumentieren.

Vielleicht brauchen wir einfach nach siebzig Jahren mal wieder eine neue Verfassung, bei der der heutige gesellschaftliche Konsens in der Mitte steht und nicht am Rand.

Zugegebenermaßen sind meine Gedanken dazu absolut laienhaft und von mir durch nichts zu belegen außer eine gewisse Plausibilität.

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Ja, das finde ich auch plausibel.

Dass wir eine „neue Verfassung“ brauchen, glaube ich allerdings nicht. Jedoch brauchen wir z. B. neue Grundrechte oder rechtliche Bestimmungen und Ziele, weil sich Gesellschaft und die Welt insgesamt verändern. Dazu gibt es ja aktuell auch die Diskussion um Kinderrechte, die ins GG aufgenommen werden sollen (z. B.: https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/kinderrechte-ins-grundgesetz-1840968; auch hier im Forum), wobei allerdings hier die genaue Formulierung ausschlaggebend sein dürfte, ob dieses Recht einklagbar ist und wie es genau anzuwenden sein soll. Die Forderungen gibt es auch für Umwelt- und Naturschutz (Stichwort etwa: Natur als Rechtssubjekt) oder Biodiversität und Artenschutz (vgl. die Forderungen von Dirk Steffens).
Das war 1949 natürlich alles noch nicht abzusehen, aber gerade deshalb sollte auf diese Veränderungen reagiert werden.

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