Wie viel Geld braucht es eigentlich, um uns vom russischen Gas frei zu kaufen?

Ja, sollte er vielleicht, aber: hat sich Putin bislang in diesem Krieg durch Weitsichtigkeit, Rationalität und klares Denken hervorgetan?

Ich denke, die Mär von der unglaublichen Genialität des vierdimensionales Schach spielenden Putin kann man inzwischen getrost ad acta legen. Zusammen mit den Märchen von der übermächtigen russischen Armee und der nahezu grenzenlosen Macht Russlands, über Social Media und Bot-Armeen die Narrative in westlichen Demokratien zu kontrollieren.

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Kurzfristig trifft dies auf jeden Fall zu. Einfach weil viele Produzierende ihr Gas schon anderweitig langfristig vermarktet haben. Das kann nicht einfach so in eine andere Region verkauft werden. Hier wird ja gerade z.B. im Rahmen von Habecks Reise nach Katar daran gearbeitet, dass auch die Produktion entsprechend angehoben wird.

Wie es längerfristig aussieht hängt sicherlich auch von den Preisen ab. Aber der Vergleich der aktuellen Export und Importkapazitäten auf der Welt zeigt, dass es aktuell annähernd die doppelte Importkapazität gibt, wie es Möglichkeiten des Exports gibt (https://globalenergymonitor.org/wp-content/uploads/2021/06/GEM_LNGTerminals2021_r7.pdf). Das sind ca. 450 Mio. t. pro Jahr gegenüber 910 Mio. t. pro Jahr. Die Exportterminals dürften auch bislang noch nicht ausgelastet sein. Nach Daten von BP sind 2021 global ca. 488 Mrd. Kubikmeter Erdgas als LNG importiert worden. Das entspricht etwa 256 Mio. t. Wenn die Produktion als gesteigert wird, und auch genügend LNG-Schiffe verfügbar sind, dann könnte es längerfristig gehen.

Das kritischere Problem sind in der Tat die europäischen Gastransportkapazitäten. Grundsätzlich kann zwar, wie auch in der groben Bilanzabschätzung der Leopoldina, mit vorhandenen LNG-Terminals das russische Gas weitgehend ersetzt werden. Allerdings ist das europäische Gastransportnetz nicht für den Transport z.B. von der iberischen Halbinsel nach Norden ausgelegt. Selbst im Optimalfall könnten so nur knapp 82% der vorhandenen LNG-Kapazitäten genutzt werden, um russisches Erdgas zu ersetzen (https://twitter.com/LionHirth/status/1509867814810972167).

Die Frage müsste also nicht unbedingt sein, ob wir weitere Terminals bauen (neben den ohnehin schon im Bau befindlichen). Es müsste viel eher darum gehen, diese Engpässe im Transportnetz zu beheben. Davon profitieren wir langfristig viel mehr, als von Überkapazitäten bei LNG-Importterminals. Im Gegensatz zu diesen können Pipelines viel einfacher in Zukunft für Wasserstoff genutzt werden, weil es bei der Auslegung besser mit berücksichtigt werden kann. Sollte dann mal Wasserstoff aus Spanien oder Nordafrika importiert werden müssen, dann hätte man die Leitungen schon.

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Eine Quelle für das Volumen des globalen LNG-Marktes? → Kriegst du z. B. hier: Snapshot of gas and LNG flows and market dynamics: Q3 2021 | McKinsey & Company
Dann noch Megatonnen in TWh umrechnen: Millionen Tonnen Flüssigerdgas in Megawattstunden umrechnen - Energie online konvertieren
Da landest du bei ca. 5300 TWh.

Dass sich das nicht innerhalb von Monaten oder auch weniger Jahre auf ~ 7000 TWh steigern läßt, um das russische Pipeline-Gas in Europa zu ersetzen, versteht sich von selbst.

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Ich denke, man könnte hier durchaus das folgende Argument machen: Wenn Putin den Gashahn abdreht, dann kommt das mit signifikanten Opportunitätskosten daher. Und zwar aus zwei Gründen:

  1. Fallen die Einnahmen von Devisen aus dem Ausland weg und würden wohl auch nicht mehr wiederkommen.
  2. Gerade weil Russland noch Gas liefert, kann Putin direkt und indirekt Druck auf die überaus risikoaverse Bundesregierung ausüben: Macht ihr X oder Y, dann wird der Gashahn abgedreht. Ich halte es durchaus für möglich, dass es gerade innerhalb der SPD (vermutlich auch in der FDP) Vorbehalte gibt, die Ukraine stärker zu unterstützen, weil Russland noch Gas liefert und man die deutsche Wirtschaft möglichst unbeschadet durch die Krise bekommen möchte. Wenn Putin jetzt selbst das Gas abdreht, dann fällt dieses Druckmittel weg.

In anderen Worten: Russland hätte viel zu verlieren, aber vermutlich wenig zu gewinnen.

Mit Weitsichtigkeit vielleicht nicht, aber mit Rationalität sicherlich. Er handelt rational aus seiner Perspektive. Wir im Westen machen immer den Fehler, unsere Maßstäbe der Rationalität an andere Akteure anzulegen.

Höre auch hier ab 17:50

Das ist tatsächlich ein wichtiger Punkt. Ich habe so die Theorie, dass Putin uns unter anderem deswegen den Gashahn nicht abdreht, weil er dadurch ein Druckmittel hat, mit dem er uns Hemmungen auferlegt, den Ölhahn abzudrehen. Und wir stoppen den Öl-Import nicht, weil wir dadurch ein Druckmittel haben, damit Putin den Gashahn nicht abdreht.

Russisches Öl ist aus unserer Sicht sehr viel entbehrlicher als russisches Gas - weil wir es viel leichter und schneller ersetzen können. Gleichzeitig ist das Geld fürs Gas für Putin entbehrlicher als das fürs Öl - weil Gas einen deutlich kleineren Teil seines Haushalts ausmacht als Öl. Man könnte also aus unserer Sicht auf die Idee kommen, für maximalen direkten Impact mit minimalen Schmerzen für uns den Öl-Import sofort zu beenden, aber Gas weiterlaufen zu lassen.

Wenn wir das aber täten, würden wir Putin einen Grund liefern, uns den Gashahn abzudrehen - denn die Kosten-Nutzen-Betrachtung verändert sich radikal, wenn Putin dann nur noch auf vergleichsweise wenig Geld verzichten müsste, um uns sehr stark zu schaden.

Es gibt also eine Art gegenseitige Bedrohungssituation: drehst du das Gas ab, drehe ich das Öl ab, drehst du das Öl ab, drehe ich das Gas ab. Im Resultat wird nun, zumindest derzeit, keines von beiden abgedreht. Ich würde aber was drauf wetten, dass es, sofern es im weiteren Verlauf der Auseinandersetzung zu einer schlagartigen Einstellung einer dieser beiden Rohstoffflüsse kommt, kurz darauf zur Einstellung des jeweils anderen kommt. Und zwar egal, welche Seite damit beginnt.

Das Öl wird Russland auch anderweitig auf dem Weltmarkt los. Da müssen die Tanker ja nur woanders hinfahren—der Westen steht mit seinen Sanktionen ja relativ alleine da, wenn man sich das global anschaut. Mit Gas geht das nicht, denn das kommt ja durch Pipelines. Und die müssten erst in ein anderes Land (etwa China) gebaut werden.

Das ist nur so halb richtig - nämlich, wenn das russische Öl auch jetzt schon per Tanker zu uns käme. Tut ein guter Teil davon aber nicht - der fließt durch die Druschba-Pipeline.

Will Putin dieses Öl auf dem Weltmarkt an irgendwen anders verkaufen, werden signifikant mehr Tankschiffe benötigt, um dieses Öl zu transportieren. Die gibt es aber nicht wie Sand am Meer, insbesondere will derzeit auch nicht jede Reederei mit Russland Geschäfte machen.

Also so komplett trivial mit dem Umleiten von ein paar Schiffen ist das nicht getan.

Das war mir tatsächlich entgangen, danke für die Information! Tendenziell lässt sich aber vermutlich doch sagen, dass sich das Öl leichter auf dem Markt verkaufen lassen dürfte als das Erdgas.

Die Qualität des Öls spielt vermutlich auch noch eine Rolle, denn das russische Crude Oil zählt zu den schwersten und sauersten Ölen weltweit. Raffinerien in den USA haben sich gerade auf diese Art von Öl spezialisiert und müssen nun ggf. mit einem weniger optimalen Mix arbeiten.

So ganz trifft es die Frage nicht. Aber auf Zeit Online gibt es eine aktualisierte Übersicht über unseren Energiemix und die Kosten der jeweiligen Energieträger. Mich hat z. B. die Höhe der Braunkohleverstromung verblüfft. Ich hatte gehofft, dass wir da schon weiter sind.

https://www.zeit.de/wirtschaft/2022-04/energiekosten-deutschland-gas-strom-benzin-energiemonitor

Hier ist noch ein interessanter Artikel, der die Folgen eines EU-Embargos für russisches Öl auf russischer Seite betrachtet: EU-Sanktionen: Wie ein Öl-Embargo Russland treffen würde - manager magazin

Wichtige Erkenntnisse, die zumindest für mich neu waren:

  • Die russischen Häfen können die ganz großen Tanker, die nötig wären, um die Menge des aktuell per Pipeline transportierten Öls effizient international zu verschiffen, aus bautechnischen Gründen gar nicht aufnehmen. Es muss stattdessen Öl per kleinem Tanker auf größere Tanker umgeladen werden. Dieser Extra-Schritt verzögert die Lieferung per Schiff und macht sie nochmals teurer als sie ohnehin schon aufgrund des Mangels an Tankerkapazitäten ist.
  • Die zusätzlichen Kosten werden vor allem Russlands Gewinn weiter schmälern, da Russland selbst jetzt, während die EU noch kauft, schon erhebliche Abschläge (35€ pro Barrel) auf sein Öl akzeptieren muss, um überhaupt Käufer zu finden bzw. zu halten. Russland hat also nahezu keine Preissetzungsmacht mehr und kann folglich zusätzliche Kosten nicht an Käufer weitergeben.
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Was bringt dieses Embargo überhaupt?

Meines Wissens ist der globale Energiemarkt gesättigt: es wird so viel verkauft, wie konsumiert wird. Wenn wir also von Arabien/Amerika kaufen statt von Russlang, kaufen Indien und China mehr von Russland als von Arabien/Amerika … ein großer Teil unserer Sanktionen verpufft also, nur ein kleiner Teil kommt an (weil Amerika nun mehr liefert und Indien/China für ihre Treue Rabatt bekommen). Wird die Diskussion nun nicht zu hoch gehangen??? Viele reden darüber so, als würde Russland sein Öl nur an uns verkaufen und dann nicht mehr loswerden :slight_smile:

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Naja, es kommt halt drauf an. Russland hat viel Infrastruktur zur Lieferung fossiler Brennstoffe nach Europa aufgebaut, die zauberst du nicht plötzlich nach Indien. Und Indien steht zwischen den Stühlen, denn Sie brauchen auch die USA. Wir sind ja hier nicht in einem Computerspiel, das ist alles nicht so einfach umzusetzen wie Russland vielleicht darstellen will.

Wenn der Energiebedarf eines Landes bereits gedeckt ist, wovon ich doch vor dem Krieg ausgehe, an wen will den Russland die frei werdenden Mengen verkaufen?
Nur weil mehr Angebot da ist, wird nicht magisch auch die Nachfrage wachsen.
Ich könnte mir auch vorstellen dass die anderen Länder sich genauso unabhängig machen wollen wie wir und hier und da in erneuerbare Energien investieren

Erdgas ist nicht nur für Wärmeprozesse oder Stromgewinnung (also als „Energielieferant“) notwendig, sondern auch als Rohstoff.
Selbst wenn die deutschen Chemiefabrikanten auf elektrische Energie umstellen brauchen diese dennoch den Rohstoff Methan bzw. Erdgas - und zwar in einem Ausmaß, wie es in Deutschland nicht aus dem Boden geholt werden kann. Und die sonstige Methanproduktion in Deutschland hat keine nennenswerte Größe.
Eine Methan-(bzw. Erdgas) Suffizienz wird Deutschland nur erreichen, wenn die chemische Industrie zu weiten Teilen abwandert. So wurde es auch in LdN287 von Bundesnetzagenturpräsident Klaus Müller dargestellt: Die Autarkie ist weder erstrebenswert noch realistisch.

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Inwieweit man den Rohstoff ersetzen kann weiss ich nicht, aber es is ein spannendes Thema.

Ich denke dass es vielleicht nicht möglich ist ganz darauf zu verzichten und autark zu werden aber der Weg ist das Ziel und je weniger man brauch desdo besser

Sprichst du dich für eine Abkehr der chemischen Industrie aus Deutschland oder für eine Abkehr vom Kapitalismus aus? Ein Deutschland, das nur aus Konsumenten besteht, ist keine besonders attraktive Utopie.

Belege bitte.

Im Grunde kann man fast alles ersetzen, es ist eben nur eine Frage des Preises. Wie hoch der wirklich sein würde, ist immer schwer zu sagen. Denn die Unternehmen, die jetzt wegen Erdgas Zeter und Mordio schreien, damit sie ja nicht einen Euro Gewinn verlieren, die kann man ja nicht ernst nehmen.

Das hat man ja auch sehr deutlich bei dem Interview mit Klaus Müller in LdN gehört, der sinngemäß sagte, dass die Unternehmen erst gar nichts von weniger Gaslieferungen hören wollten und dann langsam eins nach dem anderen kamen und meinten: „Naja, mit 60% könnten wir auch auskommen“ usw.

An der Stelle wäre unabhängige Expertise ganz schön, aber die sehe ich nirgendwo.

Tja, weiß keiner wie das ausgeht. In der SZ war ein Artikel darüber, dass wir ja längst zur Dienstleistungsgesellschaft geworden sind und die Industrie ziehen lassen sollten. Am nächsten Tag war ein Artikel mit genau gegenteiliger Aussage zu lesen.
Die Wahrheit ist wohl irgendwo in der Mitte.
Die Glas-, Stahl- und Chemie-Industrie wird jedenfalls langfristig den Gas- und Ölbedarf reduzieren müssen. Und wenn ihnen der Strom in Deutschland zu teuer ist, wird das langfristig auf ein Ende der Standorte rauslaufen. Reisende soll man nicht aufhalten. Man sieht bei der Kohleindustrie dass das langfristig nämlich teuer wird.

Dass Deutschland ohne Glas-, Stahl- und Chemie-Industrie (sowie alle vor und nachgeschalteten Industrien wie z.B. Pharmazie oder Rüstungsindustrie) seinen Wohlstand nur ansatzweise halten kann, darf bezweifelt werden. Die USA als Dienstleistungsgigant ist hier kein Vorbild und kein nachhaltiges Konzept.

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