Lieber Philip, lieber Ulf,
super Interview mit Fuchs-Schündeln. Nur: Ihr lasst die neurobiologische Komponente weg. Die erklärt, warum populistische Parteien wie die AfD manche Bevölkerungsgruppen besonders ansprechen.
Ich studiere Cognitive Science mit Schwerpunkt Neurowissenschaften und beschäftige mich u.a. damit, wie das Gehirn unter Stress in Hierarchien funktioniert.
Meine Kern-These
Menschen unter Statusbedrohung reagieren nicht rational. Das Stresssystem ist seit
Millionen Jahren darauf kalibriert, Rangverlust als existenzielle Bedrohung zu verarbeiten. Sapolsky et al. zeigen das bei Primaten: Rangverlust = erhöhtes Kortisol, Blutdruck, Atherosklerose. Bei Menschen funktioniert der Mechanismus identisch. Der Clou: Stress entsteht nicht durch Armut selbst, sondern durch Wahrnehmung von Statusverlust. Steigende Mieten, stagnierende Löhne, Jobangst - alles Signal „du rutschst ab". Das Gehirn reagiert emotional, nicht rational.
Empirisch dokumentiert: Subjektive Statusbedrohung moduliert Kortisol-Reaktionen auf soziale Stressoren. Die Beziehung ist robust, aber nicht universell - sie hängt davon ab, wie stabil oder unsicher die Hierarchie ist (Sapolsky 2017, Lê-Scherban et al. 2018).
Die Downward Aggression Heuristic
Hobson et al. (2021): Bei 77% von 172 Gruppen über 85 Tierarten richten Tiere Aggression nach unten (risikoarm), nicht nach oben (tödlich). Menschen machen das kulturell: Wer sich ohnmächtig fühlt, greift nicht die Mächtigen an – zu abstrakt. Stattdessen: sichtbare Zielscheiben unten in der Hierarchie: Migrant:innen, Asylbewerbende. Populistische Rhetorik hackt genau da rein. Sie nutzt Statusangst für Downward-Targeting.
Warnung: Das ist Analogie (Tier → Mensch). Gestützt durch historische Muster und
Lab-Evidenz, aber keine direkten empirischen Studien von Statusangst → Wahlentscheidung → Minderheiten-Aggression. Aber die Neurobiologie schafft die Voraussetzung.
Die Extremfälle zeigen den Mechanismus
Weierstall & Elbert arbeiten mit ehemaligen Kindersoldaten zusammen und zeigen wie
Extremkontexte unter Trauma Aggression fördern können: Physische Gewalt oder Kontrolle über Schwächere reduziert den eigenen Stress über Dopamin. Das ist nicht 1:1 auf deutsche Wähler:innen übertragbar, aber die neurobiologische Logik hat Ähnlichkeiten.
Bei diesen Extremtraumata wird der Mechanismus sichtbar. Bei moderatem Stress funktioniert er subtiler: populistische (abwertende) Rhetorik, InGroup-OutGroup-Polarisierung und politische Sündenböcke. Das ist nicht direkt physische Gewalt, aber psychologische Kontrolle. Meine These hier ist spekulativ, aber wäre testbar, z.B. durch Korrelationen zwischen Stress-Level und Outgroup-Rhetorik.
Was kritisch bleibt
Wenn Neurobiologie AfD-Wähler erklärt, warum nicht Grüne oder Linke? Dieselbe ökonomische Unsicherheit, andere Wahl. Der Unterschied ist kulturell: Bubbles, Medien, Elternhaus. Ein gestresster akademischer Haushalt kanalisiert Angst über Klimapolitik, nicht Migrationsfurcht.
Also: Neurobiologie verstärkt bestehende kulturelle Frames, erzeugt sie nicht.
Was das bedeutet
Eure ökonomisch-soziologische Analyse bleibt essentiell. Meine Bio-Schicht sagt nur: Wer chronisch unter Statusbedrohung lebt, ist weniger zugänglich für abstrakte Argumente, stärker für emotionale hierarchische Narrative und kann Angst/Wut nach unten kanalisieren.
Rationale Gegenargumente bringen nichts. Moralisierung auch nicht. Was helfen könnte: echte lokale Kontrolle und Mitsprache statt Gruppen als Sündenböcke. Also mehr Bürger:innen-Beteiligung. Das adressiert die Statusbedrohung selbst, nicht nur das Symptom.
Laut MDR (2024) zeigen Regionen mit EU-Förderungen deutlich weniger rechtes Wahlverhalten. Vielleicht ein Wink mit dem Zaunpfahl.
Ich bin sicher, dass dieser Ansatz Mehrwert zur Frage bringt, warum populistische
Parteien derzeit dominieren.
Liebe Grüße,
Maxim Leopold
Student Cognitive Science, Universität Osnabrück
vollständige Quellen in den Kommentaren