Wert von Umfragen zu Waffenlieferungen

Ich möchte gerne als Diskussionsthema für die Lage einmal ganz grundsätzlich den Wert von Umfragen zum Thema Waffenlieferungen vorschlagen.
Nach meiner Beobachtung spielen die Umfragen eine große Rolle in der Diskussion. Die politischen Akteure haben in der Vergangenheit immer wieder Umfragen heran gezogen, um ihre Position zu belegen. So haben Scholz und die SPD vor Lieferung der Panzer immer wieder darauf verwiesen, dass eine Mehrheit der deutschen Bevölkerung Umfragen zufolge gegen Waffenlieferungen sei usw. Ähnlich ist es jüngst wieder im so genannten „Manifest für den Frieden“ von Schwarzer und Wagenknecht geschehen.
Anlass für meinen Themenvorschlag ist der aktuelle „Deutschlandtrend“ der ARD in der den Leuten folgende Frage gestellt wurde:

Sollte Deutschland Kampfflugzeuge an die Ukraine liefern?

Auf diese Frage antwortete eine Mehrheit der befragten, dass sie gegen eine Lieferung sei. Folge 1: Schlagzeile z.B. heute auf Zeit Online „Mehrheit der Deutschen würde der Ukraine keine Kampfjets liefern“.
Folge 2: Politische Akteure verwenden das, um zu behaupten: „Schaut mal, die Mehrheit ist doch dagegen.“

Meine Frage mit der ich gerne die Diskussion zum Thema eröffnen würde: Sind diese Umfragen nicht viel zu unterkomplex? Es werden ja keine Kontextfragen gestellt wie z.B.
„Fürchten Sie eine Eskalation des Krieges durch die Lieferung westlicher Kampfflugzeuge?“

Es fehlen auch Kontrollfragen wie z.B. „Wünschen Sie, dass es der Ukraine gelingt, die russischen Truppen von ihrem Staatsgebiet zu vertreiben?“

„Wenn es gelänge, mit Hilfe von Kampfflugzeugen den Krieg schneller zu beenden, wären sie dann für eine Lieferung?“

„Wenn die Ukraine sich mit Kampfflugzeugen besser vor russischen Luftangriffen schützen könnte, wären sie dann für eine Lieferung?“

„Wünschen Sie, dass die russischen Streitkräfte ihren eigenen Einsatz von Kampfflugzeugen beendet?“

Mein Eindruck ist, dass die Menschen, die an diesen Umfragen mitmachen, im Grunde genommen lediglich zu einer Gefühlsäußerung aufgefordert werden, sie aber keine Möglichkeit haben, sich differenziert zu äußern. Sie werden auch nicht mit den Konsequenzen ihrer Meinung konfrontiert. Auf diesen Fall bezogen: Ja, eine Mehrheit der Bevölkerung ist offenbar gegen die Lieferung von Kampfflugzeugen. Ich lehne mich jetzt aber auch nicht allzu weit aus dem Fenster, wenn ich mal behaupte, die deutliche Mehrheit der Bevölkerung wünscht sich, die russischen Soldaten würden aus der Ukraine wieder verschwinden.
Auf diesem simplen Level eignen sich solche Umfragen m.E. nicht wirklich, um die Meinung der Bevölkerung zu einer komplexen Sachfrage abzufragen, sondern allenfalls als grobes Feedback an die Politik im Sinne von „Ja, passt schon, was ihr macht“ oder „Ne, mag ich nicht, was ihr macht.“

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Das ist das Problem bei Umfragen (zu Unterkomplex) + gewaltiges Raten beim hochrechnen der Ergebnisse.

Dasselbe Problem gäbe es übrigens auch bei den so gerne geforderten Volksabstimmungen auf Bundesebene, denn da läuft es ja auch immer auf ja/nein hinaus.

Ich würde deiner These, dass einfache Ja/Nein-Fragen unterkomplex sind und niemals abbilden können, was Millionen von Menschen über ein Thema denken, sofort zustimmen!
Zum einen gibt es jede Menge methodische Kritik an dieser Form der „standardisierten Befragung“ wie es Sozialforscher:innen nennen. Beispielsweise, dass die Art der Fragestellung und die Festlegung der Antwortmöglichkeiten einen enormen Einfluss auf das Ergebnis haben können. Dazu kommt, dass wir nichts darüber wissen können, warum eine Person bei einer bestimmten Frage „ja“ oder „nein“ gesagt hat, „entschieden“ oder nur „tendenziell“ zustimmt oder für einen Politiker die Note 2 und nicht 3 vergibt. Kurzum: Umfragewerte suggerieren eine Objektivität, die sie eigentlich nicht haben.
Das Problem ist aber, dass sich kaum jemand daran stört, aber stattdessen viele nach genau dieser vermeintlichen Objektivität schreien - das ist in der Wissenschaft leider nicht anders als in der Politik. Wenn Du bei einem Vortrag auf einer wissenschaftlichen Fachkonferenz eine bunte Grafik mit Prozentzahlen präsentierst, wird Dich kaum jemand danach fragen, wie diese Zahlen eigentlich zustandegekommen sind - so zumindest meine persönliche Erfahrung.
Zum anderen sind solche Umfragewerte natürlich immer nur eine Momentaufnahme - sie können schon wenige Tage ganz anders aussehen.
Hinzu kommt, dass Umfrageergebnisse nicht nur als objektive Wahrheiten verstanden, sondern dann auch noch großzügig interpretiert und selektiv herangezogen werden - jeweils so, dass es zur eigenen Position passt. Das ist mir besonders stark aufgefallen bei der Diskussion um Panzerlieferungen: bestimmte Leute haben ständig immer mit einer Umfragemehrheit gegen Lieferungen argumentiert und sobald die Mehrheit dafür war, war bei ihnen von den Umfragen keine Rede mehr. Stattdessen kamen nun einige Befürworter und sagten: „Seht her, eine Mehrheit will es doch jetzt“. Dabei ist die einzig objektive Erkenntnis aus diesen Umfragen, dass die Meinungen der Befragten sehr unterschiedlich sind und es gerade keine klare Mehrheit für eine der beiden Positionen gibt. Das würde dann aber meiner Meinung nach gebieten, genauer nachzufragen, warum bzw. unter welchen Umständen Menschen sich denn dafür oder dagegen entscheiden.
TL/DR: Meiner Meinung nach sind Umfragewerte ein guter Ausgangspunkt, von dem aus man genauer nachschauen kann und sollte, aber nicht die definitive Wahrheit, als die sie leider oft missverstanden werden.

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Jenseits der Frage nach der angemessenen Formulierung und dem informierten Umgang mit Umfragen, ihren Vorraussetzungen und ihrer jeweiligen Aussagekraft, finde ich diesen Punkt besonders diskussionswürdig.

Die Umfrageergebnisse sind dem Handeln von politischen Akteuren ja nicht vorgängig und kommen nicht unabhängig von Umwelteinflüssen zustande. Die jetzigen Umfragen zu Kampfjets beispielsweise werden in einer Umgebung gemacht, in der führende Politiker:innen nahezu aller Parteien diese Lieferung öffentlichkeitswirksam ausgeschlossen oder zumindest in Zweifel gezogen haben. Es ist also eigentlich nicht verwunderlich, dass eine Mehrheit die Lieferungen ablehnt, weil sie von ihren gewählten Repräsentant:innen sehr deutliche Hinweise bekommen, wo die jeweiligen Parteien stehen. Dass politische Einstellungen und Haltungen in signifikantem Maße top/down vermittelt werden, also politische ‚Eliten‘ (mit-)verantwortlich sind für die Positionen ihrer Wähler:innen, ist politikwissenschaftlich ja immerhin eine verbreitete Annahme.

Kleiner Exkurs: Unter Wähler:innen der Demokraten in den USA wurde die Frage, ob Donald Trump des Amtes enthoben werden soll, lange Zeit mehrheitlich mit ‚Nein‘ beantwortet. Als sich dann (natürlich ausgelöst durch bestimmte Ereignisse) Nancy Pelosi u.a., mithin die gesamte Führungsriege der Partei, dafür ausgesprochen haben, sind die Umfragewerte sehr schnell zu einer Mehrheit für das Impeachment gestiegen.

Es ist deshalb in gewisser Weise unredlich, wenn Politiker:innen ihren eigenen Einfluss auf die öffentliche Meinung herunterspielen und so tun, als würden sie einer gewissermaßen im Vakuum existierenden Stimmung in der Bevölkerung folgen (natürlich nur, wie oben gesagt, so lange es ihnen in den Kram passt). Stattdessen wäre - auf politischer und medialer Ebene - eine stärkere Berücksichtigung dessen angebracht, dass politische ‚Eliten‘ die öffentliche Meinung mitformen und beeinflussen (können).

Einen ganz gruseligen Umgang mit Umfragen gibt es gerade bei der „Emma“ zu lesen. Irgendjemand hat bei INSA eine Umfrage zum „Manifest“ von Schwarzer & Wagenknecht in Auftrag gegeben. Dabei kam wohl heraus, dass es 39 Prozent der Befragten gut finden. Und wie lautet die Schlagzeile auf der „Emma-Website“? Richtig: „Mehrheit für Manifest!“. Im Teaser heißt es sogar explizit:

„Die Mehrheit der Deutschen ist für das von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer initiierte ‚Manifest für Frieden‘“

Darunter stehen dann die korrekten Zahlen. Ist das noch Dummheit oder schon dreiste Absicht?

Screenshot zur Dokumentation: