Ich musste gerade beim Hören der Lage vom 01. Juni laut auflachen als ich hörte, wie ihr über die Karte gesprochen habt, die man sich noch einbehalten solle gegenüber der Türkei bzgl. eines potenziellen EU-Beitritts. In Wahrheit ist es doch so, dass die EU schon immer insgeheim die Türkei nie als echten Beitrittskandidaten betrachtet hat. Das habe ich mitunter von Europaparlamentariern direkt ins Gesicht gesagt bekommen, als ich selbst vor 2010 noch an den Beitritt geglaubt hatte.
Die Türken haben das auch schon vor vielen Jahren kapiert, an einen Beitritt glaubt schon längst niemand mehr. Er ist nicht unwahrscheinlich, sondern völlig undenkbar. Denn träte die Türkei bei, wäre sie sogleich das bevölkerungsreichste Land und hätte somit recht viel zu sagen. Und das von einem Land, wo der Islam weit verbreitet ist? So sehr ich das in einer demokratischeren künftigen Türkei begrüßen würde, so wird das in der stark christlich geprägten EU leider niemand zulassen.
Der EU-Beitritt ist also schon lange nur eine Farce. Keine Ahnung, warum es überhaupt noch Thema ist.
Ich denke, es herrscht weitestgehende Einigkeit, dass die Türkei nur nach extremen Veränderungen in die EU kommen könnte. Hier wäre mehr als nur eine Reform nötig.
Weitere Gründe, die gegen den EU-Beitritt sprechen:
Die Türkei grenzt an Syrien, den Irak und den Iran, eine Aufnahme der Türkei würde damit bedeuten, dass die EU plötzlich an mehrere sehr instabile bis feindliche Länder grenzt.
Die Problematik mit der kurdischen Bevölkerung müsste zuerst gelöst werden. So lange es ernsthafte Bestrebungen der Kurden gibt, einen eigenen Staat im Grenzgebiet Türkei/Syrien/Irak/Iran zu bilden und die Türkei darauf mit massiver Gewalt bis hin zur Invasion reagiert, ist eine Aufnahme in die EU nicht möglich.
Die wirtschaftliche Situation der Türkei ist katastrophal, die Mindeststandards, die von der EU gesetzt werden, können auf absehbare Zeit nicht erreicht werden.
Die politische Situation unter Erdogan muss denke ich nicht weiter kommentiert werden.
Die Feindseligkeiten zwischen Griechenland und der Türkei müssten beigelegt werden, insbesondere die Territorialkonflikte um die Dodekanes-Inseln.
Die Feindseligkeiten zwischen Zypern und der Republik Nordzypern (und damit der Türkei) müssten beigelegt werden
Kurzum:
Es gibt so viele Probleme und Baustellen, dass eigentlich absolut klar ist, dass ein EU-Beitritt der Türkei mindestens eine komplette Reform des politischen Systems und eine Aufgabe nahezu aller türkischen außenpolitischen Interessen bedeuten würde. Dazu wird die Türkei auch in vielen Jahrzehnten wohl nicht bereit sein.
Die Religion auf der anderen Seite halte ich für ein vorgeschobenes Argument. Ich hoffe zumindest, dass sich die EU nicht - z.B. gegenüber Albanien - wegen der Religion abschottet. Selbst Ungarn warb für eine Vergabe des Beitrittskandidaten-Status an Albanien… die Religion selbst sollte nicht das Problem sein, wenn wir uns Staaten wie Polen mit einem sehr dominanten Christentum leisten, können wir uns auch Staaten wie die die Türkei leisten, sie wären als Gegengewicht vielleicht sogar notwendig. Ich zumindest will die EU nicht als „christliches“ Gebilde sehen - und bis die Türkei bereit für die EU ist (also vermutlich um 2100…) spielt Religion in Europa hoffentlich keine große Rolle mehr
Die Religion ist wichtiger als du vielleicht annimmst, denn sie hat auch viele kulturelle Folgen. So wie der Islam in der Welt schlecht gemacht wird (zu Recht, wenn man bedenkt dass er nur durch veraltete Tradition gelebt wird und nicht als die moderne Religion, die sie ist – aber ein anderes Thema), kann ich mir nicht vorstellen dass auch in Abwesenheit all der genannten Probleme irgendeine Chance für einen Beitritt besteht.
Viele der genannten Themen waren in den 00er Jahren schon auf einem guten Wege, aber Aussicht auf einen Beitritt gab es auch damals nicht. Hätte es ihn gegeben, hätte die Türkei vermutlich tatsächlich einen anderen Weg eingeschlagen.
Vergleiche mit kleinen Ländern wie Albanien bringen jedenfalls nichts, denn diese hätten auf die gesamte Zusammensetzung der EU praktisch keine Auswirkungen. Die Türkei mit ihrer stetig wachsenden Zahl von aktuell 85 Mio Menschen ist einfach eine ganz andere Nummer.
Also ich sehe da wenig Unterschied zwischen negativen Ausprägungen des Islam und des Christentums (z.B. die LGBTQI-Feindlichkeit in Russland und Polen, vor allem aber in Afrika, z.B. Uganda, wo das Christentum die absolut dominante Religion ist und gerade mit Unterstützung der Kirchen ein Anti-Homosexualitäts-Gesetz erlassen hat, dass regelmäßig die Todesstrafe oder Kastration vorsieht…).
Meines Erachtens besteht eine strikte Proportionalität zwischen „Stellenwert der Religion in einer Gesellschaft“ und „Unterdrückung Andersdenkender und Minderheiten“. Desto stärker die Religion ist, desto problematischer wird es für Abweichler. Der einzige Grund, warum das Christentum im Westen so „zahm“ ist, ist, weil ihm durch die Aufklärung die Zähne gezogen wurde. Dort, wo die Aufklärung nicht angekommen ist (z.B. Uganda) ist das Christentum genau so schlimm wie in jedem islamischen Gottesstaat.
Meiner Meinung nach ist keine Religion besser oder schlechter als eine andere (als Atheist lehne ich alle Religionen gleichermaßen ab ). Der Islam ist per se nicht problematischer oder unproblematischer als das Christentum. Religion hat nur in vielen Gebieten, in denen der Islam herrscht, eine zu große Bedeutung. Die Religion ist austauschbar, das Problem ist die generelle Religiosität der Bevölkerung, daher die Willigkeit der Bevölkerung, sich religiösen Führern bedingungslos unterzuordnen. Ob der religiöse Führer dabei einen Turban oder eine Mitra trägt macht keinen Unterschied.
Ich denke nicht dass es die Leute dort klar ist was ein EU-Beitritt hier bedeuten würde. Kurdische Leute würden dann eine anerkannte Minderheit mit allen Rechte die dazu gehören. Die meisten Türken könnten sowas überhaupt nicht verdauen.
Aber was EU-Beitritt betrifft:
Alle EU-kompatibele türkische Leute versuchen jetzt alles um das Land zu verlassen. Es gibt dort keine Zukunft mehr. Deutschland und andere EU-Länder können sich freuen auf die best gebildete und meist ambitionierte Türkische Menschen.
Der Rest bleibt da im Nahost-Sumpf und vielleicht ist das auch eine Art EU-Beitritt.
Es gibt einen kategorischen Unterschied, der zu unterschiedlich hohen Hürden in bezug auf die pluralistische Demokratiefähigkeit führt: Im Katholizismus und dem überwiegenden Teil des Protestantismus ist die Bibel ein Menschenwerk. „Die offenbarte Wahrheit“[TM] ist die Person Jesus Christus allein, alles andere ist der menschliche Versuch, diese Wahrheit zu verstehen und zu interpretieren, und die Bibel hält dazu Erkenntnisse fest. Kirchliche Dogmen definieren Interpretationsgrenzen, damit diese Versuche nicht zu sehr „ausfransen“ und die weltweite Kohärenz der Lehre gefährden. Ausnahmen sind hier kleinere katholische Gruppierungen und die (gerade in den USA starke) evangelikale Strömung bei den Protestanten, die die Bibel tatsächlich wortwörtlich als Wahrheit betrachten. Im Islam hingegen ist der Koran unmittelbar göttliches Wort; wer sich dagegenstellt wendet sich also direkt von Gott ab. Im Ergebnis ist es für das Christentum leichter, strittige Bibelstellen mit Rechtsgarantien des Grundgesetzes zu vereinbaren (im Zweifel halt sogar indem letztere priorisiert werden können), während das im Islam schwerer fällt da man etwas Menschliches schwerlich gegenüber etwas Göttlichem priorisieren kann. Diese Vereinbarkeitsversuche gibt es im Islam zwar auch, sie sind aber eher Randerscheinungen und der verbleibende Weg ist weiter.
Das ist eine moderne Betrachtungsweise, die maßgeblich durch die Aufklärung erzeugt wurde.
Historisch hatte auch die Bibel ähnlichen „Gesetzescharakter“ wie der Koran und wurde als „die Wahrheit™“ gehandelt, die von hohen Würdenträgern (dh. dem Papst) ausgelegt wurde (bis die Protestanten kamen und die Auslegung selbst in die Hände nehmen wollten, wodurch auch der Inhalt der Bibel „verhandelbarer“ wurde).
Im Islam gibt es seit jeher ein mehrpoliges Auslegungssystem, das zu gänzlich unterschiedlichen Lesearten des Koran führte, ähnlich wie seit der Reformation bei der Bibel. Und genau wie die Bibel kann auch der Koran „demokratiefähig“ ausgelegt werden, aber das - und damit schließt sich der Kreis zu meinem Beitrag oben - wird grundsätzlich nur in einer Umgebung passieren können, in der Religion weniger Bedeutung für die Menschen hat. So lange „Religion“ für die Mehrheit der Menschen in einer Region über „Staat“ steht oder gar „Staat“ und „Recht“ definiert, wird eine Interpretation der religiösen Schrift, die diesen Status Quo ändern will, stets unterdrückt werden - ebenso wie die christlichen Kirchen im Mittelalter jede Veränderung des Status Quo mit Feuereifer unterdrückt hat. Das ist das Wesen der Religion (und der Grund, warum ich Religion grundsätzlich ablehne).
Die Auffassung, wie weit Interpretationen vom Wortlaut von Bibel und Koran entfernt liegen dürfen, gibt es in beiden Religionen gleichermaßen. Der Koran als „wörtliche Offenbarung“ mag da etwas höhere Grenzen setzen, aber das schließt eine Vereinbarkeit nicht aus, auch das alte Testament enthält zahlreiche „wörtliche Offenbarungen“ wie z.B. die 10 Gebote…
Gerade die Türkei war was die Auslegung des Koran angeht eigentlich auf einem recht guten Weg, da Atatürk ja gerade den Laizistischen Staat trotz Islam durchgesetzt hat, daher den Islam dem Staat untergeordnet hat.
Die Türkei driftet seit Jahren immer weiter in Richtung islamistische Autokratie. Daher ist eine Aufnahme in die EU zu Recht kein Thema. Wenn man sich die türkische Blockadehaltung gegenüber Schwedens NATO Beitritt anschaut, wäre es besser, sie auch aus diesem Bündnis zu entfernen.
Das erzählen Russlandfreunde auch über Putin, der sich nur so radikalisiert habe, weil ihm der Westen angeblich die kalte Schulter gezeigt hat. Nein, Erdogan hat wie Putin seine Maske fallen lassen und dahinter steckt ein antiliberaler, expansionstischer Autokrat.
Das haben Atheisten vor 30 Jahren wohl schon für das Jahr 2050 gehofft.
Das ist mir zu platt. In beiden Fällen gab es in den späten 90er Jahren bzw. in den 0er Jahren eine deutliche Annäherung an die EU bzw. den Westen, die der Westen nicht wirklich honorierte.
In einer machtorientierten Welt ist es ganz verständlich sich dann anderweitig seinen Einfluss zu sichern. Dazu kann gehören sich innenpolitisch zu festigen (Stichwort autokratische Tendenzen), ebenso wie sich anderen Mächten als potenzielle Verbündeten anzubiedern.
Ich würde daher unseren Teil der Verantwortung nicht völlig verneinen.
Eine Lesart bezogen auf die Türkei war/ist, dass Erdogan die EU-Angleichung unter anderem deshalb vorangetrieben hat, um die Macht des säkular orientierten Militärs zu neutralisieren und damit ein Hindernis für seine eigene Umgestaltung des Staates aus dem Weg zu räumen.
Während die einen in den bisherigen Reformbestrebungen den Beweis dafür sehen, dass sich die Mitglieder der AKP geändert haben und keine „geheime Agenda führen“, befürchten die Skeptiker, dass der EU-Beitritt genutzt wird, um die säkularen Militärs zurückzudrängen und den Weg für die Islamisierung des Landes zu ebnen.
Die Bedenken der türkischen Streitkräfte sind hier von doppelter Natur; sie sehen mit einem EU-Beitritt nicht „nur“ ihre eigene Machtposition, sondern durch die AKP auch die von ihnen bisher aufrechterhaltenen existenziellen Werte wie den Kemalismus und den Laizismus bedroht. Der negative Einfluss der türkischen Armee auf den EU-Beitrittsprozess der Türkei wird sich damit verstärken, da jetzt auch mit einer möglichen islamischen Unterwanderung gerechnet wird, gegen die die Armee seit der Republikgründung 1923 unter Atatürk als „Konterrevolution“ angeht.
Das leuchtet ein.
Erdogan hat aus dem kurzen Regime seines Vorgängers im Geiste, Necmettin Erbakan, der mit seiner islamisch-konservativen Wohlfahrtspartei Mitte der 90er kurzzeitig an der Macht war, aber dann von der damals noch kemalistischen Armee abgesetzt wurde, gelernt. Heute kann er selbst noch Wahlen gewinnen, wenn die Wirtschaft abstürzt und fast jede Opposition sich hinter seinem Gegenkandidaten versammelt. Seine islamistische und nationalistische Propaganda verfängt ja selbst in Deutschland bei nicht gerade wenigen.
Eine Türkei in der EU wäre ein treuer Verbündeter Orbans und anderer autokratischer, reaktionärer U-Boote.
Mit Putin hätte man sich sicher in den Nullerjahren einigen können. Sozusagen Land gegen Frieden+Gas. Wenn der Westen es zugelassen hätte, dass sich in der Ukraine eine Art Belarus 2.0 etabliert, gäbe es jetzt dort keinen Krieg. Und ohne den NATO Beitritt würde es in Estland, Lettland und Litauen eventuell aussehen wie in Moldawien oder Georgien, wo Teile des Staatsgebiets von pro-russischen Kräften besetzt sind und die Regierungen chronisch instabil sind.
Dem widerspreche auch nicht. Das mag eine Lesart sein, es ist aber alles andere als klar, ob das tatsächlich der alleinige Hintergrund war. Die Erfahrung zeigt, dass meist eine Vielzahl an Gründen zusammen kommt. Wenn man nun aber Erdogans Politik als von langer Hand geplant darstellt, dann dient das nur zur Verneinung der eigenen Verantwortung. Davon halte ich absolut nichts.
Mein Eindruck war nicht, dass Erdogan einen säkularen Staat von Anfang an angestrebt hat. Er war halt auf die Glaubensführer angewiesen und musste Zugeständnisse machen. Das wäre mit einer starken Bindung zur EU weniger nötig gewesen. Oder hätte die Hardliner noch mehr radikalisiert und das Ergebnis wäre vielleicht das gleiche gewesen.
Auch jetzt noch habe ich nicht das Gefühl mit Erdogan einen islamischen Fundamentalisten zu haben, sondern dass für ihn Religion Mittel zum Zweck ist.