Wehrhafte Demokratie neu beleben

Vor dem aktuellen Hintergrund von Übergriffen auf LGBTQIA+ -Veranstaltungen, dem Höchststand antimuslimischer Vorfälle und dem andauernden Anstieg rechtsextremistischer Straf- und Gewalttaten (in den USA gab es jüngst sogar ein politisch motiviertes Attentat mit zweifach tödlichem Ausgang, hierzulande sind in den letzten Jahren gehäuft rechtsterroristische Organisationen aufgeflogen) frage ich mich, ob sich unsere Gesellschaft noch als wehrhafte Demokratie versteht oder jemals als solche verstanden hat.

Ständig ist hierzulande davon die Rede, Spaltung zu überwinden, Brücken zu bauen, Menschen mitzunehmen.

Das Stichwort „wehrhafte Demokratie“ fällt vergleichsweise selten.

Daher stellt sich die Frage:

Was muss unsere Demokratie tun, um sich ihrer Feinde aktiv erwehren zu können?

Neulich las ich in einem per Bluesky verlinkten Artikel, dass es in der Weimarer Republik schon 1930 Gutachten über die Gefährlichkeit der NSDAP gab.

Der Umgang des neuen Innenministers mit dem AfD-Gutachten und den letzten Daten zu politischer Gewalt weist durchaus gewisse Ähnlichkeiten zur damaligen Zeit auf. Weitere Parallelen („Wirtschaftsaufschwung sollte NSDAP entzaubern“) sind erkennbar.

Ein Parteiverbot ist aber nur ein Baustein einer wehrhaften Demokratie.

Mir scheint, dass im Bemühen um Verständnis schon einige Brandmauern eingerissen wurden. Der sächsische Ministerpräsident ist zum Beispiel jahrelang durch Sachsen getourt und hat Gespräche geführt. Das Ergebnis waren gut 38,5 Prozent der Erststimmen und noch 37,3 Prozent der Zweitstimmen für die gesichert rechtsextremistische AfD, nebst neun Prozent für die Wagenknecht-Partei, bei der Bundestagswahl 2025.

Im Westen hat sich die AfD mehr als verdoppelt.

Wenn die demokratisch gesinnte Mehrheit jetzt nicht wehrhaft wird, steht meiner Meinung nach die Demokratie tatsächlich auf dem Spiel.

Was also tun?

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Das fällt schon öfter, aber in letzter Konsequenz muss die Politik auch wollen, dass die Demokratie „wehrhaft“ ist. In Deutschland gibt es ja - aus den Erfahrungen der Weimarer Republik - extra Regelungen auf Verfassungsebene, die dazu dienen, der Demokratie eine gewisse Wehrhaftigkeit zu verpassen. Es ist aktuell vor allem die Politik, besonders in Form der Union und auch Teilen der SPD, die hier als „Bedenkenträger“ auftritt. Das BVerfG hat eigentlich zwischen den Zeilen schon verdeutlicht, dass ein Verbotsverfahren gegen die AfD zumindest nicht völlig aussichtslos ist (ich denke, die Richter am BVerfG sind sich selbst noch nicht sicher, zu welchem Ergebnis sie bei einer genauen Prüfung kommen würden). Aber wenn die Politik sich nicht traut, zumindest mal das Verfahren einzuleiten, weil wir in einer „Medien-Demokratie“ leben, in der ein Scheitern des Verfahrens absurderweise als Scheitern der Regierung interpretiert wird, scheint die Politik sich nicht zu trauen.

Und das führt dann im schlimmsten Fall zu einem zweiten 1930, zu einer zweiten „verpassten Chance“, eine Nazi-Partei zu stoppen, als es noch ging. Nicht, weil man sich sicher sei, dass die Partei nicht verboten werden sollte, sondern weil man sich nicht sicher genug ist, dass das BVerfG das Verbot auch mittragen würde. So sollte das in einem Rechtsstaat aber nicht laufen - ob die AfD verboten werden kann wird immer eine offene Rechtsfrage sein, die nur das BVerfG beantworten kann. Niemand sollte es der Regierung vorwerfen, diese Frage dem BVerfG vorzulegen, auch dann nicht, wenn das BVerfG sich gegen das Verbot ausspricht. Es ist die Aufgabe des BVerfG, diese Dinge endgültig zu entscheiden.

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Zustimmung.

Doch meine Frage ist breiter angelegt. Zum einen muss eine Demokratie, die uns als Staatsbürger in die Pflicht nimmt, jedenfalls verstehe ich so den Begriff der Wehrhaftigkeit der Demokratie, auch dann wehrhaft sein, wenn Politiker versagen, zum anderen ist es mit einem selbstverständlich wünschenswerten AfD-Verbot allein noch nicht getan.

Was müssen/sollten staatliche Institutionen einerseits und die Zivilgesellschaft andererseits außerdem tun?

Zwar ist immer mal wieder schlagwortartig von wehrhafter Demokratie die Rede, doch was das im Einzelnen bedeutet, bleibt meistens nebulös.

Was bedeutet das also, wenn’s konkret wird (über ein AfD-Verbot hinausgehend)?

In einem aktualisierten Buch mit Blätter-Beiträgen geht es auch um Gegenstrategien.

Der schon vier Jahre alte Essay „Warum wir Nazis nicht entgegenkommen sollten“ von Rebecca Solnit ist jedenfalls ohne Abonnement zugänglich.

Die Autorin beleuchtet darin zwar die Situation in den USA, wir wissen heute, was später geschah, aber einiges erscheint mir nach wie vor beherzigenswert.

Müssen wir die Kluft zwischen Nazis und Nicht-Nazis überbrücken? Ein Teil des Problems besteht darin, dass wir in einer Appeasement-Ökonomie leben, einem System, dessen reibungsloses Funktionieren dadurch gewährleistet werden soll, dass wir nett zueinander sind.
Die Beschwichtigungspolitik hat in den 1930ern nicht funktioniert, und sie wird auch jetzt nicht funktionieren.

Nazi, White Supremacist, Frauenhasser, Transphober zu sein heißt, eine Haltung zu vertreten, bei der die Weigerung, jemanden verstehen zu wollen, Ausdruck der grundlegenden Weigerung ist, ihn oder sie zu respektieren. Es ist eine Minderheitsposition, aber indem wir sie gelten lassen, geben wir ihr wieder und wieder die Macht einer Mehrheitsposition.

Es herrscht die Vorstellung, man müsse bestimmten Leuten schmeicheln und sie mit Samthandschuhen anfassen – obwohl sie doch genau denen Schaden zufügen, die ihnen schmeicheln und sie mit Samthandschuhen anfassen sollen, obwohl sie eine Minderheit sind, obwohl sie Gesetze brechen oder die Wahl verloren haben.

Die dahinter liegende Frage lautet:

Mit welcher Art von Respekt muss man Leuten begegnen, die anderen demonstrativ ihren Respekt verweigern?

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Da sind wir dann wieder beim klassischen Toleranz-Paradoxon.

Die Diskussion ist daher keineswegs neu. Ich habe auch ein Problem damit, wenn Tim Walz in den USA nach politisch motivierten Terroranschlägen auf demokratische Abgeordnete sagt, man solle mit seinen Nachbarn reden, statt sich mit ihnen zu streiten. Einerseits richtig, aber andererseits führt das genau in dieses Toleranz-Paradoxon. Es gibt Meinungen, die sind nicht zu tolerieren - dazu sollte ganz klar jede Form von Rassismus und Antisemitismus, aber eigentlich sogar jede Form der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit zählen.

Das Problem ist, dass die soziale Ausgrenzung dieser nicht-tolerierbaren Sichtweisen nur so lange funktioniert, wie sie eine deutliche Minderheit sind. Aktuell ist das leider nicht mehr der Fall, diese Meinungen sind z.B. in den USA (siehe Trumpismus) so stark, dass sie auf „Ausgrenzung“ mit „Gegenfronten“ reagieren können - und das endet im schlimmsten Fall im Bürgerkrieg. Und das hat wieder das Problem, dass die intoleranten Menschen nahezu überall auf der Welt eher bereit sind, massive Gewalt einzusetzen und eher dazu neigen, Waffen zu besitzen, über Kampftraining und Kampferfahrung zu verfügen und bereit zu sein, Bürgerwehren zu bilden und für ihre Meinung mit Gewalt zu kämpfen.

Und wenn es erst so weit gekommen ist, ist die Demokratie schlicht am Ende.

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Sorry, aber deine Ausführungen laufen auf Kapitulation hinaus.

In der Konsequenz bedeutet das, dass die wehrhafte Demokratie auf die eine oder andere Weise scheitert oder schon gescheitert ist.

Zumindest in den USA, wenn man deiner Analyse folgt.

Gerade habe ich noch einen interessanten Artikel von Ronen Steinke gelesen, der den Themen-Komplex AfD-Verbot beleuchtet.

Wahlkampfstände unter ständiger Bewachung – theoretisch ebenfalls vorstellbar –. allerdings würde sich die politische Atmosphäre stark verändern, und zugleich würden viele, nicht der AfD zuneigende Menschen, die sich in früheren Jahren noch gern engagiert hätten, dauerhaft von einem politischen Engagement abgeschreckt. Auch ohne jeden Defätismus muss man wohl davon ausgehen, dass sie mit der Polizei nicht ganz zu besiegen sein wird, diese Angst. Und dass sich die Regeln der politischen Ökonomie, die Regeln der Wahlkämpfe weiter verschieben würden, in Richtung eines Rechts des Stärkeren, Skrupelloseren.

Zur Gewaltbereitschaft, von der du schriebst, noch zwei Artikel.

Wenn man sich davon einschüchtern ließe, hätte man aber bereits verloren.

Einfach einzuknicken ist keine Alternative.

In den USA geschieht allerdings mittlerweile tagtäglich Unfassbares.

„Our constitutional democracy is not fine.“

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Naja, es war erstmal nur eine Analyse. Das Ergebnis gefällt mir auch nicht, aber letztlich müsste man die Analyse inhaltlich angreifen. Einfach sagen: „Das Ergebnis gefällt mir nicht, deshalb darf es nicht wahr sein“ ist keine sinnvolle Reaktion.

Die Analyse kann man angreifen, indem man davon ausgeht, dass die Ausgrenzung einer hinreichend weit verbreiteten, intoleranten Meinung zu einem anderen Ergebnis führt als zu „Gegenwehr“. Die Frage ist: Können wir das? Also was werden die AfD-Wähler tun, wenn wir sie hart ausgrenzen? Reichsbürger können wir ausgrenzen, weil sie so eine kleine Minderheit sind, selbst wenn sie sich bewaffnen und aktiv gegen den Staat kämpfen, würden wir damit fertig werden. Aber die AfD-Wähler sind zu viele, vor allem auch im Sicherheitsapparat selbst.

Also was denkst du, passiert, wenn wir sie ausgrenzen, was - wie oben dargestellt - im Hinblick auf das Toleranz-Paradoxon ja eigentlich der richtige Weg sein sollte? Ich fürchte einfach, dass die Gruppe der AfD-Wähler groß genug ist, um sich hinreichend gegenseitig in ihren Ansichten zu stärken, sodass sich eher Fronten bilden, als dass eine Erziehungswirkung entstehen könnte. Aber vielleicht irre ich mich auch - ich würde es mir wünschen.

Mir scheint einfach, dass beide klassischen Rezepte („Überzeugen“ oder „Ausgrenzen“) in dieser Situation nicht zum Erfolg führen. Als weitere Optionen fallen mir nur „Parteiverbot“ und „Hoffen, dass der internationale Rechtsruck in immer mehr Ländern, in denen die Rechten an der Macht sind, scheitert, sodass auch mehr Deutsche diese Position hinterfragen, bevor die Rechten hier an die Macht kommen“ ein… denn wir wollen es ja gerade nicht darauf ankommen lassen, dass die AfD sich „in der Regierung entzaubert“.

Ich würde stark annehmen, dass die Opportunisten unter den Neo-Nazis sich dann in Teilen lieber bequem im verteidigten Mainstream einrichten und das die Bewegung entscheidend schwächen wird, wenn dieses Gesindel endlich angemessen behandelt würde. Also die Partei verboten und ihre Mitglieder soweit nachweisbar aus dem öffentlichen Dienst fliegen.
Wenn nicht, wenn es so käme, wie du befürchtest, dann muss das eben ausgekämpft werden. Und dann darf man im Kampf auch nicht zu früh bremsen, sonst bleibt etwas übrig, wie hier bei uns, wo man nach 1945 viel zu lasch war, wie in den USA, wo der Süden in Teilen bis heute stolz die Fahne der Sklaverei zeigt. Appeasement hat gegen solche Leute noch nie was genutzt.

Ergänzung: Wenn die AfD hier jemals an die Macht kommt, sehen wir in Abstufungen in den USA, Polen, Ungarn und in unseren Geschichtsbüchern, worauf das mindestens hinauslaufen wird. Von schwersten, kaum reparablen Schäden für unser politisches und juristisches System bis Weltkrieg und Massenvernichtung. Ist das das größere, weniger hinnehmbare Risiko, als die Folgen eines Parteienverbots und die ernsthafte Umsetzung der Lehren aus der Machtübergabe an die NSDAP? Viele behaupten ja weiter, sie wüssten nicht so genau, was sie wählen. „Kann ja keiner wissen, solange die Partei nicht verboten ist.“ Also wird es Zeit, diese durchsichtige Ausrede vom Tisch zu wischen. Meine Sorge ist allerdings, dass sich nicht nur die AfD-Anhänger, sondern auch sehr sehr viele Demokraten Illusionen über den Charakter der Partei und ihrer Anhänger machen wollen, um der nötigen Konsequenz nicht ins Auge sehen zu müssen.
Wehrhaft musste die Demokratie nie gegen irgendwelche sektiererischen Splitterparteien knapp über der 5% Hürde sein. Das konnte die Demokratie immer schon per Mehrheitsentscheidungen „wegregieren“. Sondern immer gegen das Ausbrechen eines hinreichenden Teils der Gesellschaft nach rechts. Deswegen sind die hohen Zustimmungswerte für die AfD grade kein Argument gegen ein Verbotsverfahren und mehr Härte, sondern im Gegenteil. Wehrhaftigkeit ist in dieser Hinsicht ein Versuch, dem eigenen Souverän eine Grenze zu setzen. Demokratiebegrenzung um sie zu schützen, gewissermaßen.

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Das sehe ich ganz ähnlich.

Was man in der Fachliteratur als Norm Enforcement kennt, sehe ich schon als aussichtsreich. Die sozialen Opportunitätskosten müssen hoch sein.

Christine Horne von der Washington State University hielt 2007 in einem häufig zitierten Paper („Explaining Norm Enforcement“) fest, dass die Sorge um soziale Beziehungen und nicht die Vorteile und Kosten von Sanktionen die Durchsetzung von Metanormen erkläre.

Was die Sache allerdings etwas verkompliziert, ist, dass hierbei durchaus kulturelle Unterschiede eine Rolle spielen.

Als hochgradig problematisch empfinde ich, dass hohe Vertreter der Bundesrepublik momentan Gerichtsurteile und selbst das Völkerrecht missachten. Sowohl Alexander Dobrindt als auch Friedrich Merz haben sich jüngst in der Weise geäußert oder im Fall der Zurückweisung an den Grenzen auch danach gehandelt. Solche bislang ungeahndeten Normverletzungen höhlen ehemals verbindliche Standards massiv aus.

Das hast du sehr gut auf den Punkt gebracht.

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Was Norm Enforcement anbelangt, ist auch ein Interview mit Professor Barbara Walter zum jüngsten Attentat in den USA und den Gewalt befürwortenden Äußerungen des republikanischen Senators Mike Lee sehr interessant.

Die relativierenden Einlassungen des CDU-Bürgermeisters im Hinblick auf den gewalttätigen Neonazi-Überfall auf das Fest für Vielfalt in Bad Freienwalde zeigen das Gegenteil von Norm Enforcement.

Die Frage ist nun, ob die Normalisierung des Rechtsextremismus hierzulande nicht schon viel zu weit fortgeschritten ist, um sie noch weitestgehend rückabwickeln zu können.

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Das Problem der Wehrhaftigkeit der Demokratie stellt sich angesichts solcher Richter-Aussagen und der darauffolgenden Aufhebung des Compact-Verbots mit zunehmender Brisanz.

Das Grundgesetz garantiert selbst den »Feinden der Freiheit« die Meinungs- und Pressefreiheit, begründete der Vorsitzende Richter Ingo Kraft die Entscheidung.

Die Anfälligkeit bestimmter Personen ist gegeben.

Zu den wichtigsten Faktoren, die viele junge Männer zu extrem frauenfeindlichen und rechten Ideologien treiben, zählen heute die sozialen Medien. Die Algorithmen, die die sozialen Medien steuern, sind so beschaffen, dass sie möglichst binär und emotional negativ sind, um die Angst, den Ekel und die Bedrohungsgefühle anzusprechen, für die die Amygdala zuständig ist. Durch die politische Neurobiologie verstehen wir, inwiefern bestimmte Denkmuster anfällig dafür sind und wie umgekehrt Inhalt und Form von Social Media bestimmte Denkweisen weiter verstärken.

Wir müssen darüber nachdenken, ob wir das weiter zulassen wollen und wie wir die digitalen Medien verbessern können.

Ein kleines ermutigendes Beispiel für Normverteidigung hat heute das Berliner Verwaltungsgericht gegeben.

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Jetzt wird doch noch bald der Leisefuchs weggeklagt🥴
Wir alle erinnern uns als die woke Community während Corona unsere Kinder indoktrinierte.
Die „heute-darf-man-ja-gar-nichts-mehr-sagen“-Community wird immer dreister.