Was ist das Völkerrecht noch wert heute?

Ich mache mir schon Gedanken, welchen Stellenwert das Völkerrecht international noch hat, auch hinsichtlich aktueller politischer Akteure und nationalistischer Strömungen.

Das sowas wie ein Völkerrecht als anerkannte internationale Normen für ein gleichberechtigtes friedliches Zusammenleben der Völker wichtig und moralisch wünschenswert ist, sei hier unbestritten.

Aber welchen Wert hat es in einer Welt mit unterschiedlichen militärischen Machtverhältnissen, wenn man es nicht unterschiedslos durchsetzen kann?

Wenn die Stärksten im Zweifelsfall nationale Interessen voranstellen und ihre militärische Macht zur Durchsetzung ihrer Interessen nutzen?

Unter Mißachtung des Völkerrechts?

Wie glaubhaft ist dann ein Völkerrecht und eine Organisation wie die UN noch für die kleineren Nationen, wenn sie hier im Ernstfall keine Hilfe erwarten können?

Wenn die Botschaft heute offenbar ist, das nur eigene militärische Macht schützt?

Was bedeutet das zukünftig?

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Dazu: „Schwanken zwischen Hoffnung und Verzweiflung“
Gesammelte Einschätzungen verschiedener Völkerrechtler zur Zukunft des Völkerrechts. Mein Favorit:
"Stimmt es wirklich, dass es zur Zeit besonders prekär um das Völkerrecht steht? Und dass – wie viele meinen – die Rolle der Bundesrepublik in der regelbasierten internationalen Ordnung im Wandel ist? Ich bin nicht sicher. ‚Doppelstandards‘ und Relativierungen völkerrechtlicher Bindungen sind ein prägendes Kennzeichen schon der vergangenen Jahrzehnte, und immer auch der deutschen Außenpolitik gewesen. Schon immer galten die Regeln der ‚regelbasierten Ordnung‘ mehr für die einen als für die anderen. Was – vielleicht – neu und anders ist, ist dass die Protagonisten sich oftmals nicht einmal mehr die Mühe machen, die genannten ‚Doppelstandards‘ zu verbergen (insofern parallel zur inzwischen bis ins bürgerliche Milieu hinein kaum noch camouflierten Fremdenfeindlichkeit – die es subkutan natürlich immer gab). Und schließlich (natürlich!): Ich beklage meine Sprachlosigkeit – viel öfter müsste ich öffentlich intervenieren, erklären, korrigieren, mahnen. Und das gilt nicht nur (aber auch) für Gaza.“

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Ich würde das Thema in einen größeren Rahmen setzen. Was sind internationale Normen wert? Wie kann man sie schützen und stärken? Sollte man das überhaupt oder sollte die nationale Souveränität immer das letzte Wort haben?
Wie kann eine globalisierte Welt in den heutigen Krisen noch bestehen?
Beispiele: Unterseekabel sind in öffentlichen Listen einsehbar, damit keiner aus Versehen einen Anker drauf fallen lässt. Was, wenn das „Aus Versehen“ zum neuen Standard wird?
Forschung erreicht vor allem großartige Ergebnisse, wenn sie über Grenzen hinweg erfolgt und das Rad nicht jedes Mal neu erfunden werden muss. Was, wenn nun einzelne Staaten die internationalen Errungenschaften gerne mitnehmen, aber selbst nichts teilen?
Open Source verändert gerade die Industrie und bietet großartige Möglichkeiten. Wenn man aber bei jedem eingereichten Code Angst haben muss, er könnte Schadcode von Geheimdiensten enthalten, kosten die Ressourcen für Prüfungen alle Vorteile.
Der Weltraum ist momentan regellos - genauso wie die Meere. Das funktioniert, solange man gegenseitig Rücksicht nimmt. Aber kann man sich noch darauf verlassen?

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Auch in der Vergangenheit war das „Gesetz des Stärkeren“ immer wieder sichtbar.
Daher ist es heute evtl. einfach ehrlicher - man versteckt sich nicht hinter diplomatischen Floskeln.

Für die Zukunft wird der Verteilungskampf in einer Gesellschaft noch schwieriger. Nicht mehr nur Menschen-Gruppe A gegen Gruppe B, sondern jetzt auch gegen Rüstungsausgaben C.

Vielleicht ist das der offensichtliche Faktor heute: Staaten sagen oder zeigen deutlicher und offener was sie vom Völkerrecht und einer regelbasierten internationalen Ordnung halten. Und vielleicht schon immer gehalten haben.

Ist man heute einfach nur ehrlicher?

Wenn dem Völkerrrecht offenbar aber sowenig Zustimmung bzw „Durchschlagskraft“ innewohnt, ist das nur noch eine moralische Instanz, hinter der man sich verstecken und Betroffenheit „äußern“ kann?

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Genau das ist der Punkt: Das gilt nicht nur für das Völkerrecht. Das gilt z.B. für das Welthandelsrecht [1] oder das internationale Strafrecht (dem sich die USA und, ich glaube, China und Russland nie unterworfen haben).

Weitere wichtige Rechtsgebiete des Multilateralismus (regelbasierter internationaler Ordnung) sind:

  • Seerecht
  • Umwelt und Klimaschutz
  • Flüchtlings- und Migrationsrecht
  • Abrüstungsverträge
  • Internationales Privatrecht (legt fest, welches nationale Recht bei grenzüberschreitenden Sachverhalten zur Anwendung k)

Wenn die mächtigen Staaten der Welt - USA, Russland, China - die multilateral vereinbarten Regeln regelmäßig ignorieren, ist der Multilaterialismus faktisch am Ende. Da können die kleineren Staaten oder sogar die EU als Gesamtes diese Regeln verzweifelt hochhalten … .das wird alles nichts bringen. Noch eine Zeitenwende …

Und: Diese internationale Vereinbarungen sind alle schon ziemlich in die Tage gekommen und müssten dringend an aktuelle Entwicklungen angepasst werden. Aber zwischen den maßgeblichen Parteien wird es immer schwieriger, einen Konsens zu finden, weil in allen drei Staaten „Make [America/Russia/China] great again“ - und in vielen großen, mittleren und kleinen Staaten (Indien, Polen, Ungarn, ) das durchgängige Narrativ geworden ist oder zu werden droht.

[1] Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen (GATT) für den Warenhandel, Allgemeines Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen (GATS) und das Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums (TRIPS), basierend auf dem Marrakesch-Abkommen von 1994. Diese Abkommen bilden gemeinsam das rechtliche Fundament des internationalen Handelssystems unter der Welthandelsorganisation WTO, das für alle WTO-Mitglieder verbindlich ist. Die USA sind seit 1995, China seit 2001 Mitglied der WTO, Russland wurde nach langen Verhandlungen im Jahr 2011 aufgenommen. Nach westlicher Einschätzung verstoßen China als auch (v.a. seit Beginn der Sanktionen) Russland in zentralen Bereichen gegen die WTO-Regeln, insbesondere durch staatliche Eingriffe, mangelnde Marktöffnung und Einschränkungen des Wettbewerbs.

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Das Problem bei allen internationalen Verträgen ist natürlich, dass es keine Weltpolizei gibt, die einen dazu zwingen könnte sich daran zu halten. Die größte Konsequenz wäre ein Reputationsverlust, der dazu führt, dass in Zukunft andere Staaten weniger gewillt sein könnten neue Verträge mit einem zu schließen.
Realistischerweise halten sich Staaten nur so lange ans Kriegsrecht, wie es für sie „bequem“ ist. Vor allem im Krieg ist dann oft leider anderes wichtiger.
Man schaue sich nur die ächtung von Streumunition an, der damit verbundenen Vertrag wurde fast ausschließlich von Staaten unterzeichnet, die nicht davon ausgingen, dass sie in naher Zukunft Kriege kämpfen zu müssen. Oder die Baltischen Staaten, die jetzt aus dem Ottawa-Abkommen ausgetreten sind, weil sie Dank Russland wieder Bedarf für Schützenmienen haben.
Mich würde es genauso wenig wundern, wenn die Bundesregierung, falls sie Situation extrem genug werden würde, eineige Details des 2+4 Vertrags ignorieren würde.

Aber wie weiter oben schon jemand angedeutet hat, ich glaube was wir sehen hat auch damit zu tun, dass die alte Weltordnung schone seit einger Zeit bröckelt und das leider eine der Konsequenzen ist.

Das ist ein weiterer Aspekt.

Solange man quasi an der Seitenlinie steht, ist das Völkerrecht eine feine Sache.

Ist man direkt betroffen (oder auch der Aggressor), hat es keine wirkliche Wirkung mehr (mangels „Weltpolizei“).
Und ist der Ruf erst ruiniert…

Zudem ist es auch eine Frage der Opportunitätskosten. Auch nach dem Einmarsch Russlands in der Ukraine stand (und steht) die Forderung nach billigem russischen Öl und Gas im Raum.
Also nationale (wirtschaftliche) Interessen stehen (heute?) im Zweifelsfall bei einigen Akteuren deutlich über Belangen des Völkerrechts.

Das System gemeinsamer Werte weicht offenbar wieder nationalegoistischen Präferenzen.

Aber mal konkret:

Russland greift 2022 militärisch die Ukraine an. Klarer Bruch des Völkerrechts.
Die Ukraine verteidigt sich, mit Unterstützung des Westens. Auch auf russischem Gebiet.
Soweit auch vom Völkerrecht gedeckt.

Israel greift vor gut 2 Wochen den souveränen Staat Iran an. Ohne das eine unmittelbare Angriffsgefahr bestanden hat. Weitgehend lautet die Einschätzung hier, das es formal ebenso ein Bruch des Völkerrechts darstellt.
Der Iran verteidigt sich und beschiesst Israel.
Soweit ja im Grunde auch vom Völkerrecht gedeckt. (Oder?)

Nun greifen die USA auch den Iran militärisch an, ohne konkret bedroht zu sein. Also auch ein Völkerrechtsbruch? Oder Bündnisverpflichtungen gegenüber Israel ? Wie Nordkorea zu Russland?

Darf Iran im Rahmen der Selbstverteidigung rein völkerrechtlich nun amerikanische Stützpunkte angreifen? 40.000 US-Soldaten in unmittelbarer Nähe sind schon als Bedrohung aufzufassen?

Also gilt das Völkerrecht gleichermaßen für alle oder hängt es stark von der Interpretation der beteiligten Parteien ab?

Finde das grad schwierig abzugrenzen

Nein, vermutlich nicht, da sie Zivilisten bombardiert haben. Israel hat wenigstens vordergründig militärische Ziele angegriffen (wenn im Ergebnis auch Zivilisten bombardiert haben). Iran ging es nur um Terror, bei Israel kann man das nicht sicher sagen. Zumindest vom Ergebnis her kann Israel einige militärische Erfolge vorweisen.

Edit: USA vermutlich auch nicht gedeckt. Die Gefahr war ja weiterhin abstrakt und nicht unmittelbar.

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Wie zielgenau sind die iranischen Raketen eigentlich?

Aber offenbar gibt es beim Völkerrecht einige „Grauzonen“ und natürlich die Frage, wer legt fest was rechtens ist.

Russland hat da viele sehr kreative Begründungen.
Trumps Rhetorik ist zumindest „speziell“

Edit: nehmen wir die deutsche Reaktion.

Hinsichtlich der Ukraine war sie völkerrechtlich eindeutig.

Beim Iran fand ich sie zumindest etwas mühsam erklärt, hinsichtlich des Völkerrechts

Die beiden Konflikte sind aber auch extrem unterschiedlich komplex. Bei Russland ist der Sachverhalt eben komplett eindeutig. Das ist im Nahen Osten viel vielschichtiger und komplexer.

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Erste Treffer schreiben von 30-50 Meter.
Das Völkerrecht selbst ist wohl sehr eindeutig. Es kollidiert halt immer wieder mit anderen Bewertungen, die Grund sein könnten, in diesem Fall dass Völkerrecht auszusetzen.

Fath 360 – Wikipedia
Iran greift Israel wohl mit "Sedschil"-Raketen an

Ghadr3 hat einen Streuradius von bis zu einem Kilometer. Meine mich auch zu erinnern, dass Israel warnte, dass Streumunition eingesetzt wird. Blindgänger könnten tagelang noch als unsichtbare Gefahr in den Zielgebieten rumliegen.

Unterscheidet das Völkerrecht hier nach unterschiedlichen Bewertungen? Wer bewertet das?

Ist hier glaube ich tatsächlich nicht relevant (und schwer zu sagen, weil man selten die Wahrheit nennt, die NATO untertreibt bei ihren Angaben gerne, im Osten wird oft übertrieben). Meines Wissens nach ist der Einsatz von Streumunition und das ziellose (wonach es zumindest aussah) in Städte so oder so völkerrechtswidrig. Da ist es dann ja auch egal, ob man jetzt das Wohnhaus in der Musternmann-Straße 7a treffen will, oder einfach wahllos in den Bezirk schießt und irgendwo schlägt sie schon ein, die selbe Diskussion gab es ja auch mal kurz um Russland.

Gibt da ja aber eh wieder ein dutzen Sonderfälle und Grauzonen, die man eigentlich alle Fall für Fall anschauen muss. Zum Beispiel ist es (meines Wissens nach) die Verpflichtung des Verteidigers, sicherzustellen, dass keine Zivilisten in der Nähe von legitimen Zielen sind. Siehe die ukrainische Rakete die letzten(?) sommer auf einen Strand auf der Krim in der Nähe einer Militärbasis eingeschlagen ist, eigentlich. Selbes für als Russland/ die russischen Proxies im Donbasskrieg Artilleriestellungen mitten in Donetsk Stadt hatten, ohne die Zivilisten zu evakuieren, mit den entsprechenden zivilen Opfern als Folge.
Gleichzeitig weiß ich nicht, wie das zB. beim Iran aussehen würde, wenn sie ohne vorwarnung angegriffen werden und gar keine Zeit haben Zivilisten zu evakuieren.

Was bei dem ganzen auch wichtig zu beachten ist: Selbst in einem völkerrechtswidrigen Krieg gibt es legitime und illegitime Ziele Ziele und Aktionen. Sonst hätte ein Staat, der das völkerrecht zu achten versucht nach dem ersten Bruch ja einen Freifahrtsschein.

Das iranische Volk ist völkerrechtlich geschützt gegen äußere Gewalt und gegen das eigene Regime. Das Mullah-Regime hingegen steht nicht unter einem automatischen Schutzschild. Wer das Völkerrecht ausschließlich als Bollwerk für Machthaber versteht, hat seinen humanitären Kern nicht begriffen.
Ein Regime, das systematisch Menschenrechte verletzt, Opposition unterdrückt und freie Wahlen verhindert, kann eher keinen völkerrechtlichen Schutz einfordern, als wäre es ein normaler Staat. Es ist ein Unrechtsregime und verliert damit moralisch wie rechtlich an Schutzwürdigkeit.

An dieser Stelle scheiden sich oft die Geister. Ich vertrete diese Ansicht, andere wiederum sehen das Völkerrecht als absolutes Recht, das auch die Mullahs als (aktuelle) iranische Herrscher schützt. Letzteres bei Paragraphenreiterei wahrscheinlich eher korrekt.

Das Völkerrecht sollte auf die aktuelle Bedrohungslage angepasst werden. Es ist kaum nachzuvollziehen, dass Israel den Iran nicht daran hindern darf, eine Atombombe zu entwickeln. Den übereifrigen Kommentatoren (und auch den beiden Moderatoren) sei ein Besuch Israels empfohlen. Wenn Israel eins gelernt hat, dann dass es Drohungen der Auslöschung durch Diktaturen ernst nehmen muss. Das bestehende Völkerrecht ist aber nicht in der Lage, diese Besonderheiten abzubilden, insbesondere asymmetrische Kriegsführung.

Israel könnte den Iran vollständig und umfassend auslöschen und tut es nicht - ein Umstand, der leider zu wenig beachtet wird.

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Angriffe auf zivile Ziele sind immer völkerrechtswidrig, keine Frage.

Aber grundsätzlich: dürfte sich der Iran grundsätzlich gegen einen formal völkerrechtswidrigen Angriff wehren? Auch gegen die USA aktuell? Also wenn der Iran einen US Militärstützpunkt angreift, ist das legitime Selbstverteidigung?

Hängt die Gültigkeit des Völkerrechts von der Herrschaftsform ab? Hat das Mullahregime nicht die gleichen Rechte wie eine Demokratie? Was wäre mit Russland und Nordkorea? Ungarn?

Also wer bestimmt das im Ernstfall, ob das Völkerrecht für alle erstmal vorbehaltlos gilt oder ob es Ausnahmen gibt?

Wie schon angedeutet von euch: ist das Völkerrecht in seiner jetzigen Form noch zeitgemäß?
Wie müsste es verändert werden?
Oder ist es quasi schon obsolet und ein Relikt des Kalten Krieges?

Aktuell:

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Ich würde es sehr, sehr begrüßen, wenn wir hier nicht nochmal den Diskussionsstrang wiederholen, der schon als Themenvorschlag und als Kommentar zu Podcast sehr umfangreich durchdekliniert wurde, sondern bei der allgemeineren, grundsätzlichen Ausgangsfrage bleiben, deswegen nur in ganz kurzer Form:
Russland hat die Ukraine ganz einfach völlig ohne legitime Begründung überfallen. Alles, was als Begründung aus Moskau kam und kommt, sind durch die Bank offensichtliche Lügen. Ganz gleich, wie man im Ergebnis zu den Ereignissen im Nahen Osten steht, ist - denke ich - leicht ersichtlich, dass bspw. mit der Nutzung von Proxy-Akteuren durch den Iran, die wechselseitigen Geheimdienstoperationen, die wechselseitigen Drohungen und Angriffe, die längere, vertrackte Vorgeschichte viele Themen mit auf dem Tisch liegen, die überwiegend Ermessensfragen sind und je nachdem, wie man die bewertet, kommt man zu unterschiedlichen Beurteilungen. Kann man gern auch ganz anders sehen, aber dann bitte in die dazu schon gelaufenen Diskussionen schauen und hier nicht alle Argumente von dort nochmal durchlaufen lassen.
https://talk.lagedernation.org/t/ldn-436-iran-kurz-vor-der-atombombe/29207/102
https://talk.lagedernation.org/t/israelisch-iranischer-krieg/29159/212

Um zum allgemeinen Teil zurück zu kommen: Recht ist notwendigerweise immer das Recht des Stärkeren, wenn es funktionieren soll. Verrechtlichung ist immer ein Prozess, in dem Stärkere in einem gewissen Umfang in bestimmten Kontexten darauf verzichten, ihre Stärke zu nutzen. Deswegen ist Recht immer auch etwas zugunsten der Stärkeren ausgestaltet (GATT, WTO, UN und andere internationale Institutionen wurden schon genannt, aber auch unser innerstaatliches Recht begünstigt Menschen mit mehr Geld und Einfluss deutlich). Warum kommt es dazu? Weil im Tausch gegen diesen Verzicht mehr Stabilität eintritt und der Aufwand, die eigene Position gegen gewaltsame Veränderungen zu schützen, abnehmen. Das bringt allen Beteiligten erheblich mehr Kooperationsmöglichkeiten und Gewinn, auch den Schwächeren, sodass alle einen Anreiz haben, eine Rechtsordnung im Großen und Ganzen zu akzeptieren und zu stützen. Jedes Mal, wenn jemand sich unsanktioniert nicht daran hält, reduziert das das Vertrauen in die Rechtsordnung ein bisschen und die Vorteile der Rechtsordnung erodieren. Das wird manche Politik formen, ohne dass das explizit gesagt wird. An anderer Stelle treten die Folgekosten von Völkerrechtsverstößen erst verzögert ein und sind nicht so präzise Zuzuordnen (etwa die wachsende Entschlossenheit des Irans als Folge der US-Interventionen in seiner Nachbarschaft, aber auch das fehlende politische Kapital, um aktuell Verbündete in Europa für die Angriffe zu gewinnen, weil hier viel Misstrauen für „Beweise“ für Massenvernichtungswaffen und deren Einsatz aus dieser Zeit übrig geblieben ist)
Wenn ich davon ausgehe, dass eine Nation wie Deutschland ganz entscheidend über Kooperationsgewinne zu Wohlstand kommt, haben wir in der langen, strategischen Perspektive ein erhebliches Interesse, an immer weitergehender und tieferer Integration und Verrechtlichung. Natürlich hilft es da, wenn wir an den richtigen Stellen verurteilen oder unterstützen und damit die diplomatischen Kostenkalkulation von anderen beeinflussen. Viel mehr helfen würde mMn aber etwas anderes:
In Europa sind wir das größte und stärkste Land. Hier können wir im Rahmen der EU viel dafür tun, einen gemeinsamen auch völkerrechtlichen Rechtsraum zu schaffen (falls wir mal aufhören würden, ständig aus kurzfristigen, innenpolitisch-taktischen Motiven nach Gutdünken Verstöße zu begehen und Verstöße anderer zu dulden). Der Erfolg eines solchen Projekts strahlt aus und verschafft dieser Idee Glaubwürdigkeit. Mindestens genauso wichtig: Einen Teil der Erträge daraus in eigene Stärke zu investieren. Damit man zumindest teilweise auch die Möglichkeit hat, Verstöße gegen bestimmte Normen gegenüber unseren Mitgliedsstaaten/Verbündeten zu sanktionieren. Militärisch, ökonomisch, diplomatisch. Und unabhängige Gerichte schaffen oder stützen und deren Urteilen durch unsere Macht Gewicht zu verleihen. Das wäre mMn eine sehr sinnvolle Strategie für die EU/Deutschland gegenüber dem Rückfall in den Imperialismus in China, Russland und den USA.

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Klare rechtliche Einordnung: Völkerrecht bezieht sich primär auf souveräne Staaten als Subjekte (Es gibt einige weitere Institutionen und Sonderfälle, etwa das Rote Kreuz oder auch die EU). Unabhängig von der Staatsform, unabhängig von der Qualität der Regierungsführung.
Das kannst du falsch finden, da scheiden sich aber unter Völkerrechtlern nicht die Geister, sondern höchstens diejenigen, die das Völkerrecht kennen, von denen, die sich nie die Mühe gemacht haben, mal in die Rechtstexte zu schauen. Klare rechtliche Sachverhalte als „Paragraphenreiterei“ abzutun, kommt aktuell zwar grade rechts wieder in Mode, ist aber eher Teil des Problems, als der Lösung.

Mit solch steilen Thesen wäre ich ohne gute Kenntnisse im Thema von daher etwas zurückhaltender.

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Ich denke da liegt ein Missverständnis vor. Gerade die Einhaltung des Völkerrechts sichert humanitäres Leben in Krisenregionen ab.

Solange Völkerrecht eingehalten wird haben weder der Schurkenstaat, noch die perfekte Demokratie viel zu befürchten. Die Rüstung bleibt im Rahmen. Wohlstand kann entstehen. Länder können im Idealfall in Frieden leben. Denn man hat durch Kriege nicht viel zu gewinnen.

Erodiert die Einhaltung des Völkerrechts aber, dann passiert so etwas wie aktuell im Nahen Osten. Die Staaten versuchen sich im Kampf mit dem verhassten Nachbarn durch immer größere und gefährlichere Waffen abzusichern. Und da die Militärs mit jeder zusätzlichen Rüstungswelle auf beiden Seiten nervöser werden, steigt auch die Gefahr für den großen Knall.

Die aktuellen Krisen zeugen davon, dass die Erosion des Völkerrechts enormes Leid verursacht. Vermutlich viel mehr noch als ein diktatorisches Regime es wird.

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