Warum werden Gesetze nicht aktualisiert, wenn sie anders ausgelegt werden?

Wie in LdN 355 diskutiert und vom BVerfG im Urteil (Bundesverfassungsgericht - Entscheidungen - Die gesetzliche Regelung zur Wiederaufnahme des Strafverfahrens zuungunsten des Freigesprochenen in § 362 Nr. 5 StPO ist verfassungswidrig, Rn. 60ff.) ausführlich dargelegt, wird Art 103 Abs. 3 GG so ausgelegt, dass das auch für den Freispruch gilt.

Wenn man den Wortlaut betrachtet, ist ganz klar, dass diese Auslegung nicht möglich ist. Wenn Freispruch unter „für Tat bestraft werden“ fällt, so müsste das ja auch für Art 103 Abs. 2 GG gelten, und man könnte auch nicht freigesprochen werden, wenn die Strafbarkeit bestimmt wurde, nachdem die Tat begangen wurde.

Wie beispielsweise das BVerfG argumentiert, ist aber doch sehr klar, dass das anders intendiert war. Letztendlich ist also vor 75 Jahren ein Bug in der Formulierung entstanden. Warum wird das nicht gefixt?

Zum Beispiel könnte das BVerfG eine verbesserte Version des Grundgesetzes verwenden, in der solche Fehler behoben werden. Die Verbesserungen werden idealerweise demokratisch legitimiert. Wenn das nicht geschieht, hat das BVerfG besonders sorgfältig zu sein, wenn es Verbesserungen benutzt, die nicht demokratisch legitimiert sind.

Das Grundgesetzt verliert einfach an Wert, wenn stattdessen die intendierte Version des Grundgesetztes relevant ist, dieses aber nur implizit existiert.

Weil dazu eine Zwei-Drittel-Mehrheit in Bundestag und Bundesrat nötig wäre. Dazu müssten die Parteien das Problem für Behandlungsbedürftig genug halten, dafür eine überparteiliche Regelung anzustoßen. Damit Regierung und Opposition zusammen an einem Strang ziehen und das GG ändern muss schon etwas mehr passieren als „nur“ eine (möglicherweise) ungünstige Auslegung durch das BVerfG. Wenn Union und SPD sich einig sind, dass Art. 103 Abs. 3 GG anders interpretiert werden sollte, als das BVerfG dies aktuell tut, könnten sie jederzeit eine Änderung vornehmen. Es wäre natürlich möglich, dass das BVerfG eine solche Änderung als verfassungswidriges Verfassungsrecht betrachten würde, wenn es den „ne bis idem“-Grundsatz für einen derart elementaren Bestandteil der Rechtsstaatlichkeit hält, aber das wäre wohl eher unwahrscheinlich.

Nee, das BVerfG kann gerade das nicht. Die Diskussionen darüber, wie viel Gestaltungsmacht das BVerfG gegenüber dem Gesetzgeber haben sollte, gab es hier schon öfters. Dazu muss immer wieder ganz klar gesagt werden: Im Gegensatz zum Gesetzgeber ist das BVerfG gerade nicht direkt demokratisch legitimiert, sondern nur indirekt. Würde es anfangen, eigenwillige Interpretationen des Grundgesetzes zu verwenden, die vom Wortlaut des Grundgesetzes abweichen, stehen wir einen Schritt vor einer elementaren Staatskrise.

Der aktuelle Status Quo ist schon in Ordnung - das BVerfG entscheidet im Rahmen des Wortlautes des GG und wenn die Interpretationen dem Gesetzgeber absolut nicht gefallen, kann dieser - mit der nötigen 2/3 Mehrheit in Bundestag und Bundesrat - intervenieren. Der Gestaltungsspielraum des BVerfG muss dabei stets vom Wortlaut des GG klar begrenzt sein. Der (verfassungsgebende) Gesetzgeber sind Bundestag und Bundesrat, keinesfalls das BVerfG selbst.

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Es geht nicht darum, dass das GG geändert wird, sodass die Entscheidung des BVerfG dem entgegensteht, sondern das GG sollte so geändert werden, dass es auch der Rechtssprechung entspricht. An der Rechtssprechung würde sich dadurch nichts ändern.

Im konkreten Fall geht es also darum, dass das GG so geändert wird, dass die Mehrfachverfolgung auch explizit von Art 103 Abs. 3 GG ausgeschlossen wird.

Genau das hat das BVerfG doch in diesem Fall nicht getan.

Aber es tut halt gerade das, nur dass die andere Auslegung als die des Wortlautes nicht transparent gemacht wird. Das BVerfG handelt hier nicht nach dem GG, wie es geschrieben steht.

Doch, es verwendet eine wohl zulässige Interpretation. Vielleicht nicht die naheliegendste, aber eine zulässige. Die Schutzrichtung des Art. 103 Abs. 3 GG ist der Schutz des Bürgers vor mehrfacher strafrechtlicher Verfolgung. Im Rahmen dieser Schutzrichtung ist eine weite Auslegung des Merkmals „bestraft“ in dem Sinne, dass „bestraft“ auch den Freispruch nach einem langen, belastenden Prozess beinhaltet, zulässig. Der Staat verbraucht mit dem Freispruch seinen Strafanspruch.

Ein Überschreiten der Wortlautgrenze liegt daher nicht vor.

Grundsätzlich gilt, dass die richterliche Rechtsfortbildung das geschriebene Gesetz ausfüllt. Hier wird der interpretationsbedürftige Begriff des „Bestrafens“ durch die Rechtsprechung des BVerfG ausgefüllt - und das schon seit vielen Jahrzehnten. Das ist auch in Ordnung so, es funktioniert ja auch. Es ist immer eine Frage des Geschmacks, wie sehr das Gesetz selbst in’s Detail gehen sollte und wie viel Raum der Rechtsprechung zum Ausfüllen gelassen werden sollte. Die untere Grenze gibt (vor allem bei belastenden Gesetzen) das Bestimmtheitsgebot vor, aber grundsätzlich ist es durchaus gewollt, dass noch ein gewisser Interpretationsspielraum bleibt, um die Sache halbwegs flexibel zu halten. Gesetzesänderungen brauchen eben unheimlich lange, vor allem, wenn es Zustimmungsgesetze sind (der Bundesrat also blockieren kann). Gesetze dürfen daher auch nicht zu kleinteilig sein, weil sonst in der Rechtsprechung jede Flexibilität fehlt und Bundestag und Bundesrat den Großteil ihrer Sitzungszeit damit verbringen würden, hunderte Gesetze jede Legislaturperiode anzupassen, weil kleinste falsche Formulierungen die Rechtsprechung in einer Form lähmen, die tatsächlich zwingend eine Rechtsänderung erfordert. Das will man natürlich nicht.

In diesem Sinne bleibt es dabei:
Die Rechtsprechung zum Art. 103 Abs. 3 GG ist jetzt weiter gefestigt worden. Jeder Jurist, der sein Geld wert ist, wird dieses Urteil kennen, wann immer es um solche Fälle geht. Jeder Laie, der sich informieren will, kann dies mit einem Blick in einen aktuellen Kommentar zum GG tun, dass der Blick in’s Gesetz oft nicht reicht, um völlige Klarheit zu haben, ist einfach der Komplexität der Materie gefordert.

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Das wiederum wäre übrigens sehr problematisch, weil eine mehrfache Verfolgung durchaus zulässig ist und auch sein soll - aber eben nicht mehr nach einem rechtskräftigen Freispruch. Die Staatsanwaltschaft kann durchaus ermitteln, dann die Ermittlungen mangels Beweisen einstellen und später, wenn neue Beweise vorliegen, einen zweiten Anlauf wagen - und das ist auch gewollt. Eine zu restriktive Formulierung in Art. 103 Abs. 3 GG wäre hier tatsächlich problematisch, weil hier - zugunsten des Angeklagten - die Wortlautgrenze sehr, sehr eng wäre.

Würde also in Art. 103 Abs. 3 GG „mehrfach verfolgt“ statt „mehrmals bestraft“ stehen dürfte wegen der strikten Wortlautgrenze eine Wiederaufnahme des Ermittlungsverfahrens durch die Staatsanwaltschaft unzulässig sein, was definitiv nicht gewollt ist.

Ich will damit nur dafür sensibilisieren, dass die Dinge nicht so leicht sind, wie sie vielleicht scheinen - und es oft gute Gründe dafür gibt, warum Gesetze nicht „einfacher“ oder „deutlicher“ formuliert sind.

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Ich glaube, das ist ein kein Formulierungs- sondern ein Juristen- Nicht-Juristen Problem.

Da steht zwar bestraft, gemeint ist aber das gesamte Führen eines Strafprozesses. Denn im Kern geht es ja um Rechtssicherheit. Wenn ein Verfahren einmal rechtsgültig abgeschlossen ist, so muss sich eine als Gesellschaft als auch ein Individuum darauf verlassen können, dass dieses Urteil Gültigkeit besitzt. Das ist ein Rechtsstaatsprinzip.

Dass das im GG über Art 20 Abs. 3 Hinaus mit Art 103 Abs 3 sogar noch präzisiert wird, ist ein starker Beleg dafür, dass es hier keinerlei Auslegungsspielraum gibt.

Es wäre vor dem Hintergrund grob unlogisch zu sagen, ein Freispruch ist keine Bestrafung im Wortsinn, also darf der Staat hier so lange anklagen, bis er eine Verurteilung erreicht. Das wäre das Gegenteil von Rechtssicherheit und Rechtsstaatprinzip.

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Und meines Erachtens sollte man dann halt irgendwann auch mal hinschreiben, was eigentlich gemeint ist.

Das ist mir schon klar. Es geht ja auch nicht darum, die Rechtssprechung zu verändern, sondern nur, das GG auch an die Rechtssprechung anzupassen, zum Beispiel aus Transparenzgründen.

Es wird immer Auslegung von Gesetzen und entsprechende höchstrichterliche Rechtsprechung geben, denn Gesetze können nicht so kleinteilig formuliert werden, dass sie jeden Einzelfall ausdrücklich regeln können.

Außerdem sind die Hürden für Grundgesetzänderungen aus gutem Grund hoch.

Das BVerfG schreibt doch in seinem ersten Leitsatz

„1. Das grundrechtsgleiche Recht des Art. 103 Abs. 3 GG enthält kein bloßes Mehrfachbestrafungsverbot, sondern ein Mehrfachverfolgungsverbot, das Verurteilte wie Freigesprochene gleichermaßen schützt.“

Genau diese Intention sollte meines Erachtens auch im GG stehen. Wenn du jetzt meinst, dass Mehrfachverfolgung was anderes heißt, wenn es im GG steht oder wenn es das BVerfG in einen Leitsatz schreibt, hätten wir glaube ich ein großes Problem…

Also finden es Juristen vollkommen ok, wenn die gleiche Formulierung in zwei aufeinanderfolgenden Absätzen verschiedene Dinge bedeuten können? Ich finde das ehrlich gesagt absurd.

Deine Argumentation geht nicht über den Wortlaut, sondern über die Schutzrichtung und am Ende schlussfolgerst du, dass die Wortlautgrenze nicht überschritten ist. Heißt „Wortlaut“ etwas anderes, als man sich als Laie vorstellen würde?

Du kannst dir das in etwa so vorstellen:
Im Bereich des Strafrechts ist die Wortlautgrenze zum Nachteil des Beschuldigten absolut. Daher: Wenn z.B. in § 242 StGB (Diebstahl) von „fremden beweglichen Sachen“ die Rede ist, kann unter keinen Umständen eine Verurteilung wegen „Diebstahl“ erfolgen, wenn Geld vom Konto „gestohlen“ wird, weil Buchgeld unmöglich als „bewegliche Sache“ subsumiert werden kann. Diese strikte Wortlautgrenze gilt aber nur, wenn es um einen Nachteil des Beschuldigten geht.

So kann durchaus ein Strafgesetz zum Vorteil des Beschuldigten verfassungskonform ausgelegt werden, auch wenn dabei der Wortlaut im engeren Sinne überschritten wird (klassisches Beispiel: die lebenslange Freiheitsstrafe, die immer noch im Gesetz steht, obwohl sie in dieser Absolutheit nicht existiert, weil das BVerfG entschieden hat, dass jeder Mensch zumindest die Aussicht auf Wiedererlangen der Freiheit haben muss, sodass die weitere Verbüßung der Strafe nach i.d.R. 15 Jahren regelmäßig zu überprüfen ist…).

Der Grund ist, dass die Wortlautgrenze den Bürger vor dem Staat schützen soll, deshalb wirkt sie gegen den strafenden Staat wesentlich stärker als gegen den Bürger.

Deshalb ist es bei der Diskussion um die Wortlautgrenze relevant, in welche Schutzrichtung wir diskutieren. Ist die Schutzrichtung „die Effizienz der Strafverfolgung“ ist die Wortlautgrenze nicht so starr wie wenn die Schutzrichtung „der Schutz vor (mehrfacher) Verfolgung eventuell Unschuldiger“ ist.

Auch das BVerfG drückt sich manchmal ungeschickt aus. Sinnvoller wäre vermutlich eher, von einem „Mehrfachverurteilungsverbot“ zu sprechen. Fakt ist, dass eine mehrfache Verfolgung (dh. Einstellung und spätere Wiederaufnahme) bis zur ersten Anklageerhebung immer möglich war und sinnvollerweise auch möglich sein muss. Das BVerfG meint hier mit Mehrfachverfolgung aber etwas anderes als die Strafprozessordnung mit „Wiederaufnahme des Verfahrens“. Wenn das BVerfG hier von Mehrfachverfolgung spricht, meint es offensichtlich die erneute Strafverfolgung nach Eintritt der Rechtskraft in der gleichen Sache, also eine erneute Strafverfolgung trotz bestehendem rechtskräftigen Urteil / Strafbefehl.

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Noch eine Nachfrage: Müsste man nicht konsequenterweise den ersten Leitsatz des BVerfG jetzt nicht auch mit dem Prinzip der strikten Wortlautgrenze auslegen?

Ah, ok, danke für die Erklärung! Also kann die gleiche Formulierung unterschiedlich ausgelegt werden, abhängig davon, was der Kontext (zum Beispiel eben die Schutzrichtung) ist.

Man gibt hier denke ich schon ein recht wichtiges Prinzip (allgemein präzise definierte Begriffe) auf, aber vielleicht geht es auch einfach nicht wirklich anders, weil es grundsätzlich schwierig ist, Recht zu formalisieren, wie man dann wohl auch am Beispiel der unglücklichen Ausdrucksweise des BVerfG erkennen kann :smiley:

Insgesamt finde ich schon etwas unbefriedigend, beispielsweise schreibt das BVerfG relativ viel zu der Auslegung (Rn. 56-74), auch wenn es hier eigentlich keine Frage gibt, auch wenn SPD (Rn. 35) und CDU/CSU (Rn. 40) das nochmal aufgreifen. Hier werden aus meiner Sicht schon unnötig Ressourcen verbraucht.

Vielleicht könnte man Formulierungen anpassen (sofern das klar möglich ist) oder offizielle ergänzende Kommentare zu Gesetzen beschließen, z.B. von politischer Seite aus, die insbesondere den expliziten Vermerk beim Gesetzesentwurf haben, dass die Rechtssprechung durch die Änderung nicht verändert werden soll? Dann beeinflusst das die Rechtssprechung nicht (und macht im Zweifel Argumentationen kürzer), aber die Rechtssprechung wird transparenter.