Warum nicht eine Minderheitsregierung?

Ich habe gerade diesen interessanten Essay von Michael Koß gelesen, der für pragmatischere Regierungsmodelle, konkret eine Minderheitsregierung im Bund plädiert.
https://www.zeit.de/politik/deutschland/2021-09/koalitionsbildung-minderheitsregierung-bundestagswahl-mehrheitsbildung-wahlkampf/komplettansicht
In der Tat würde das ganz neue Optionen eröffnen: Wenn SPD und Grüne sich schon nicht zu einer Koalition mit der Linkspartei durchringen können, so könnten Sie auf diesem Wege zumindest zentrale sozialpolitische und klimapolitische Anliegen verwirklichen, die mit der FDP schlicht nicht zu machen sein werden. Die einzig realistische Alternative ist eine Ampelkoalition und ich weiß jetzt schon, was wir in vier Jahren zu hören bekommen werden, warum dieses und jenes leider nicht durchsetzbar war…

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Das klingt in der Tat nach einer attraktiven Alternative zu Rot-Grün-Rot. Insbesondere auch für die Linkspartei: sie hätte zwar keine Ministerposten, aber könnte

  • stets bequem alle Änderungen des Status Quo in Richtung linkes Wahlprogramm tolerieren (d.h. beim Wähler punkten, auch bei denen von SPD und Grünen) und gleichzeitig als Opposition die Regierung darin belehren, dass das natürlich nur ein erster Schritt gewesen sein kann (d.h. nochmal bei Wähler punkten)
  • und bei allen missliebigen Gesetzesvorhaben (also v.a. Außenpolitik) als Alternative zum Kurs der Regierung profilieren (d.h. schon wieder beim Wähler punkten)
  • und damit einerseits keinen Sympatisanten durch zu viel „Kuhhandel“ enttäuschen sowie andererseits dem gesamten Wahlvolk zeigen, ob sie generell (Mit-)Regierungsverantwortung übernehmen können.

Je länger ich darüber nachdenke, desto plausibler erscheint mir, dass die FDP sich lieber bedingungslos einer Ampel hingeben würde/sollte, als einen dieser beiden Praxisbeweise gegen die Regierungsunfähigkeit eines Linksbündnisses zuzulassen. Wird spannend!

PS: Und bei außenpolitischen Themen (d.h. wohl v.a. transatlantische Themen) wird die CDU es sich nicht leisten können Gesetzesvorhaben zu torpedieren.

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Weil „der Deutsche“ auf stabile Regierungen steht. Bei einer Minderheitsregierung hast Du immer das Problem, dass a) der nicht an der Regierung beteidigte Partner einfach mal so gegen Dich stimmt. Man also immer das Risiko hat, das wichtige Gesetzte nicht durchgehen. Da es keinen Vertrag gibt, und der nicht an der Regierung beteidigte Partner eben nichts hat, kann er einem ganz schnell unter Druck setzen. Oder b) man muss für jeden Sch*** eine Mehrheit finden, ein „Durchregieren“ ist also nicht möglich.
Im schlimmsten Fall wird eine Minderheitsregierung im Parlament blockiert und ist nicht handlungsfähig.

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Ich würde mir auch wünschen, dass es mal zu einer Minderheitsregierung kommt - und dass die Parteien erwachsen genug damit umgehen, dass es auch funktioniert.

Meine Befürchtung ist nur, dass gerade Letzteres nicht passieren wird. Was InDubioProReo hier anführt ist auch schon der Haupt-Grund, warum die SPD und die GRÜNEN vermutlich gegen eine Minderheitsregierung unter ihrer Führung wären. Eben weil sie damit langfristig, was die Wählergunst angeht, nur verlieren können. Alles, was die Regierung durchsetzen könnte, würde sich jeweils die Partei, welche die Regierung gestützt hat, auf die Fahne schreiben, während alle nicht an der Regierung beteiligten Parteien jede Chance nutzen würden, alles zu kritisieren, was mit den jeweils anderen Parteien abgestimmt wird.

Diese politischen Erwägungen würden dann dazu führen, dass das Ganze vor die Hunde geht…

Interessante Schlussfolgerung, ich sehe irgendwie das umgekehrte Szenario. Also wenn SPD und GRÜNE die Wahl zwischen „Linksgestützter Minderheitsregierung“ und „Ampel“ hätten, würden sie vermutlich in jedem Fall die Ampel wählen, selbst wenn das hieße, erhebliche Zugeständnisse gegenüber der FDP machen zu müssen. Einfach, um die Nachteile der Minderheitsregierung nicht zu haben.

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Der Professor aus Lüneburg möchte mit solchen Artikeln wohl sein Buch bewerben.
Leider beantwortet der Artikel nicht warum denn z.B. die FDP im zentralen Fragen Mehrheitsbeschaffer für SPD und/oder Grüne sein sollte, wenn sie dafür nicht mal einen Ministerposten stellen. Und dieselbe Koalition dann die Bürgerversicherung oder neue Steuern einführt. Nee, so etwas wird es nicht geben und das ist auch gut so.

Nach der letzten Bundestagswahl hätte ich eine Minderheitsregierung schon gefeiert. Die SPD hätte keine große Koalition eingehen sollen und wenn Merkel den Misstrauensantrag gestellt hätte, hätte sie sagen können „Ne mach du mal.“. Leider nicht so gekommen und aktuell sieht es ja leider so aus das die SPD auch noch für den Murks mit einer Regierungsbeteiligung belohnt wird. Einfach aus Mangel an Alternativen seufz

Ja das klingt auch plausibel! Was für absurde Zeiten…

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Bei allen Szenarien hier halte ich rot/schwarz/grün für die wahrscheinlichste Möglichkeit.
Ich befürworte eine Minderheitsregierung, das würde aber auch eine gewisse politische Reife und Kultur voraussetzen, die wir leider nicht haben.

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Hätte sich die SPD geweigert, wäre es eher zu Neuwahlen gekommen. Und dann wären FDP und SPD wahrscheinlich abgestraft worden. Wie schon geschrieben wurde, in Deutschland schätzt man stabile Verhältnisse.

Also frei nach Christian Lindner: „Lieber schlecht regieren als instabil regieren“ :wink:

Natürlich werden auch bei Minderheitenregierungen Vereinbarungen zwischen Parteien abgeschlossen (z.B. für die Wahl von Regierungschefs oder die Zustimmung zum Haushalt) - schließlich ist das in anderen Ländern ja alltägliche Praxis. Was hier als „unter Druck setzen“ und „Risiko“ bezeichnet wird, beschreibt im Übrigen genau die Rolle, die das Grundgesetz für den Bundestag vorsieht. Demnach hat nämlich das Parlament - und nicht die Regierung! - die Gesetzgebungskompetenz. Das impliziert, dass für jeden zu beschließende Gesetz im Parlament eine Mehrheit gefunden werden muss. Und um diese zu erreichen, müssen sich eben verschiedene Parteien ins Benehmen setzen und verhandeln. Das passiert ja auch so tagtäglich (etwa bisher mit den Grünen aufgrund ihrer Rolle im Bundesrat).
Dass dies inzwischen schon als Instabilität wahgenommen wird, ist m. E. schlimm genug. Ich halte das hier angepiresene „Durchgerieren“, bei dem u. a. Gesetzentwürfe häufiger von der Regierung kommen als vom Parlament, für weitaus demokratiegefährdender, als im Einzelfall mal nicht mehrere Monate im Voraus zu wissen, ob ein Gesetz durchkommt oder nicht.

Mag sein. Ist das jetzt ein Argument für oder gegen seine Aussagen?

Ich denke ja auch, dass das nicht passieren wird. Aber ich fände es schon spannen, zu lesen, warum Sie denken, dass das gut ist.

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In den aktuellen Umfragen würde es auch für Rot-Schwarz ohne Grüne reichen. Besser für das Land wäre eine Ampel, aber wenn sich die FDP querstellt und auch RRG nicht zustande kommt, bleiben nicht mehr viele Optionen. Die Aussicht auf das Kanzleramt und Ministerposten macht diese Koalition für SPD und CDU recht attraktiv. Jamaika kann ich mir nur ohne Laschet als Kanzler vorstellen.

Neuwahlen wären nur möglich gewesen wenn Merkel die Vertrauensfrage gestellt hätte oder Sie nicht zur Kanzler/in gewählt worden wäre. Aber bei beiden hätte sie SPD und die Grünen ja sagen können, nee, mach du Mal. Und dann hätte schon die CDU geschlossen gegen Merkel stimmen müssen. Insofern wäre es möglich gewesen die CDU in eine Minderheitsregierung zu zwingen oder ihre Position für die nächste Wahl extrem zu schwächen. Es war meiner Meinung nach ein großer Fehler das Sie das nicht getan hat.

Wenn ich mich in einen Anhänger der FDP oder auch der Linken versetze (diese beiden Parteien kämen ja theoretisch für eine Tolerierung einer rot-grünen Minderheitsregierung infrage) würde ich eine solche Zusammenarbeit ablehnen. Ich wähle doch eine Partei, weil ich sie in Regierungsverantwortung sehen möchte, wo sie möglichst viele ihre Inhalte umsetzen kann bzw. Inhalte verhindert, die ihren Zielen entgegen stehen. In einer Tolerierung ist dieser Einfluss einfach schwächer, allein schon weil man keine Ressorts führt. Und ich kann mir vorstellen, dass viele Wähler so oder ähnlich ticken.

Ich finde es durchaus fraglich, ob eine Partei per se in einer Koalition mehr durchsetzen kann als in einem Tolerierungsmodell - siehe die vielfältigen Erfahrungen in Skandinavien.

Meines Erachtens ist heute das wichtigste Argument gegen eine Minderheitsregierung die große Bedeutung, die Deutschland inzwischen in der EU hat. Wenn eine deutsche Regierung nicht sicherstellen kann, dass sie für Vereinbarungen auf EU-Ebene daheim auch eine Mehrheit im Parlament bekommt, ist das instabile Gebilde EU kaum mehr zu erhalten.

(Das ließe sich theoretisch reparieren, in dem zusätzliche Kompetenzen an die EU abgegeben wären, z. B. eigene EU-Finanzminister samt Mandat zur Schuldenaufnahme. Aber praktisch ist so eine tiefgreifende Reform nicht zu erwarten.)

Hat aber eine ganz andere politische Kultur wie wir z.Z.
Wenn Vorschläge abgelehnt werden nur weil sie aus der Opposition kommen und Fraktionstreue bei Abstimmungen obligatorisch sind, dann sind wir sehr weit von der politischen Reife die es für eine Minderheitsregierung bedarf entfernt.

Da stimme ich Dir absolut zu. Ich denke auch nicht, dass die „politische Kultur“ wie es so schön heißt, hierzulande bereit dazu ist. Ich habe den Artikel, mit dem ich den Thread eröffnet habe auch nie als einen konkreten Vorschlag für die nächste Legislaturperiode verstanden, sondern als Einladung, mal über den Tellerrand des bereits Bestehenden zu schauen. Ebenso wie bei der Diskussion über „Kleinstparteien“ vs. „taktisch wählen“ hier im Forum bin ich allerdings etwas erschrocken, wie wenig sich einige etwas vorstellen können, was es nicht schon gibt. Da entsteht dann schnell eine Kluft zwischen dem Pochen auf dem Bestehenden auf der einen Seite und (leider) völlig utopischen Forderungen auf der anderen Seite.

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Hier noch mal ein etwas populistischerer Blick auf die Option Tolerierungsmodell: Olaf Scholz' Optionen, Kanzler zu werden: Letzte Ausfahrt Magdeburg - Kolumne - DER SPIEGEL
Ich glaube ja trotzdem nicht dran…

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Auch in der aktuellen LdN-Folge 259 wird ja kurz auf die Möglichkeit einer Minderheitsregierung eingegangen - mit Verweis darauf wie unwahrscheinlich das ist. Das ist es wohl tatsächlich.

Gerade, dass dies von vornherein aber gar nicht erwogen wird, halte ich für ein Problem.
Natürlich ist eine Minderheitsregierung ‚anstrengender‘, wenn immer wieder neue Mehrheiten gefunden werden müssen. Wenn man aber bedenkt, dass wir das Parlament und nicht die Regierung wählen und das Parlament es ist, welches (zumindest laut Verfassung) Gesetze macht, könnte eine Minderheitsregierung eine Stärkung(!) der Demokratie sein.
Plötzlich wäre es wieder möglich, dass Abgeordnete verschiedener Fraktionen gemeinsame Vorlagen und Initiativen einbringen und diese auch tatsächlich diskutiert und nicht kategorisch abgelehnt würden. Diese Praxis und desen Folgen wurde ja vor kurzem nochmal in trauriger Weise bekannt, als ein Antrag der Grünen zur Aufnahme afghanischer Ortskräfte abgelehnt wurde - die Folgen sind bekannt - und Norbert Röttgen im Interview mit erschütternder Selbstverständlichkeit erklärte, dass das nunmal so Praxis sei.
Das Parlament und nicht die Regierung als Legislative würde gestärkt werden.

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Der Artikel von Herr Blome ist von vor der Wahl - und er geht davon aus das RGR eine Mehrheit hätte. Wie ich im Topic Rot Rot Grün Minderheitenregierung schon angepsrochen hatte wäre das glaube ich wirklich eine Option gewesen.

Mit den aktuellen Mehrheitsverhältnissen, wo Rot Grün dann ausschließlich entweder mit der FDP oder der CDU Mehrheiten bilden kann, sehe ich da nicht soviel Wumms (und nicht so viel mehr Freiheit als in einer Koalition).
Was sind die Projekte die Rot Grün mit der CDU umsetzen kann, wo sich die FDP aber nicht zu hergibt?

edit: Link zu dem anderen Faden modifiziert, ich wollte da nicht kaigallup’s Post speziell hervorheben :wink:

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