Wahlrechtsreform: Vorschlag des Mehr Demokratie e.V

Ich finde folgenden Vorschlag ganz sympathisch, der darauf hinausläuft, die Wahl mehr zu personalisieren, indem die Wählenden ähnlich wie bei vielen Kommunalwahlen die Reihenfolge der verschiedenen Kandidat:innen einer Partei beeinflussen können. Die klassische Erststimme würde dabei aber abgeschafft und es gäbe immer nur die festgelegte Anzahl von Abgeordneten.

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Die grobe Richtung, das Wahlrecht mehr zu personalisieren, unterstütze ich. Diesem spezifischen Vorschlag kann ich allerdings nicht so viel abgewinnen.

Zum einen erscheint er mir recht unausgegoren, genau genommen als hätte jemand bei Mehr Demokratie einen einfachen Vorschlag mit den Mehrmandatswahlkreisen unterbreitet, wäre dafür wegen ein paar ungewollten Seiteneffekten kritisiert worden, und hätte dann ad hoc ein paar Pflaster draufgeklebt, bspw. die Bundesliste oder die Fußnote 2.

Teilweise ist mir noch nicht einmal klar, was genau gemeint sein soll. Entweder hat man bspw. Mehrmandatswahlkreise mit fester Zahl an Mandaten, oder man macht Unterverteilungen top-down um die Sitze „insgesamt proportional auf die Parteien entsprechend ihrer Stimmenzahl“ zu verteilen. Beides widerspricht sich.

Und wie funktioniert die Bundesliste? Werden die 70 Mandate unabhängig von der Anzahl der Direktmandate nach der Gesamtstimmenzahl verteilt (Grabenwahlrecht)? Oder werden wie beim jetzigen System die Direktmandate verrechnet, um mit der Bundesliste einen proportionalen Ausgleich zu schaffen? Ich vermute mal ersteres, denn letzteres würde ziemlich sicher nicht ausreichen ohne doch wieder zu Überhangmandaten zu führen.

Auch verstehe ich die Sperrklausel so, dass sie sich nur auf die Bundesliste auswirkt. Wer also 3% der Stimmen bekommt, der bekommt dann noch 2 Sitze zusätzlich von der Bundesliste. Kann man machen, aber die jetzige Funktion einer Hürde, die praktisch dazu führt, dass Parteien nur in Fraktionsstärke in den Bundestag einziehen, wird damit aufgehoben, denn in den Mehrmandatswahlkreisen wird es viel einfacher für kleinere Parteien werden, sich hier und da mal ein paar Mandate zusammen zu sammeln, was man natürlich gut oder schlecht finden kann.

Prinzipiell finde ich das jetzige System mit Wahlkreisen allerdings antiquiert. Die Welt ist nicht mehr so groß, dass man mit dem D-Zug 1½ Tage nach Bonn und zurück braucht, um mit Abgeordneten zu sprechen, und Telefongespräche kosten auch kein Vermögen mehr, so dass man unbedingt in der Gegend einen oder mehrere persönliche Abgeordnete haben muss. Insbesondere wenn diese dann nicht mehr 45%+ der Bevölkerung vertreten, sondern teilweise nur noch 30%.

Durch Mehrmandatswahlkreise wird das natürlich etwas relativiert, indem man dann mehrere Ansprechpartner zur Auswahl hat, aber gleichzeitig werden diese Wahlkreise dann natürlich erheblich größer, und wenn ein Wahlkreis halb Schleswig-Holstein abdeckt, ist eine echte lokale Präsenz auch nicht mehr wirklich gegeben.

Gleichzeitig bringt so ein auf Wahlkreise fixiertes System einige meiner Meinung nach gravierende Nachteile, von denen Gerrymandering nur einer ist. Schon alleine die Entscheidung, ob ein Bundesland nun eher wenige größere oder mehr kleinere Wahlkreise einrichtet, wirkt sich extrem aus, weil die Anzahl der Mandate im Wahlkreis eine natürliche Sperrklausel errichtet, die teilweise sogar deutlich über 5% liegt, selbst bei einem kleine Parteien nicht benachteiligenden System wie Sainte-Laguë in einem 4er-Wahlkreis bspw. um die 12,5%. Flächendeckende 4-Mandats-Wahlkreise könnten daher dazu führen, dass Parteien deutlich über 5% viel weniger Mandate bekommen. In Spanien läuft das z.B. so.

Schleswig-Holstein wird dort explizit als Beispiel genannt, die entweder einen einzigen großen oder drei kleine Wahlkreise bilden könnten. Bei einem großen Wahlkreis mit 19 Mandaten würde eine Partei vermutlich schon bei etwa 3% eines dieser Mandate erhalten, das zweite dann vielleicht bei 7,5%. Bei drei Wahlkreisen würde dagegen unsere 3%-Partei bei einigermaßen gleicher Verteilung der Wähler auf die Wahlkreise ziemlich sicher kein Mandat bekommen, eine Partei etwas über 7,5% dagegen je nach Wählerverteilung 1, 2 oder 3 Mandate, je nachdem in welchem Wahlkreis es gerade eben so hinkommt. (7er Wahlkreis ~7,5%, 6er Wahlkreis ~8,5% nötig.)

Ich würde deshalb einen komplett entgegengesetzten Weg bevorzugen, nämlich die Wahlkreise abzuschaffen und nur noch Landeslisten zu haben, diese dann aber mit Personenstimmen. Das bisherige Zweistimmensystem könnte man dahingehend umwandeln, dass jeder 2 Stimmen bekommt, die er zwei verschiedenen Personen geben kann, auch von unterschiedlichen Parteien, aber nicht beide gemeinsam für dieselbe Person.

So könnten die Parteien dann weiter ihre Spitzenkandidaten (auf Landesebene) haben, während lokal die Kreisverbände „ihre“ Kandidaten zusätzlich bewerben. Kleinere Kreisverbände tun sich dazu dann vielleicht mit benachbarten zusammen, so wie sie ja jetzt in den Wahlkreisen ebenfalls zusammenarbeiten müssen.

Dadurch gibt es dann aber keine „sicheren“ Wahlkreise mehr. Ein Abgeordneter, der sich um seine Homebase nicht kümmert, und nur im Wahlkampf kurz auftaucht, erzielt vielleicht nicht soviele Stimmen, wie jemand, der seine Gegend besser vertritt. Wenn einer verhasst ist, oder korrupt, wie auch immer, wählen die Leute dort eben stattdessen jemanden aus dem Nachbarkreis, oder sie wählen Fachpolitiker, die sich in bestimmten Themengebieten hervorgetan haben. In kleineren Parteien kümmern sich die Abgeordneten um größere Gebiete, usw.

Die Verteilung müsste man natürlich noch regeln, damit bspw. niemand von ganz hinten auf der Liste mit einer Handvoll Stimmen gewählt wird, weil das Gros auf die Kandidaten 1 und 2 entfallen ist. Bspw. könnte man sagen, nur die Kandidaten auf der Liste sind per Personenstimmen gewählt, die ein gewisses Mindestquorum im Verhältnis zum nötigen Stimmenanteil für einen Sitz erhalten haben. Weitere Sitze werden auf der Liste von oben besetzt.

Wenn jemand nur ein Kreuz macht, zählt das als zwei Stimmen für die Partei, aber nur eine Stimme für die Person, damit Leute, die aus Gewohnheit nur ein Kreuz machen, nicht weniger Stimmgewicht haben.

In großen Bundesländern wäre eine Landesliste sehr lang und daher vielleicht unpraktikabel, da könnte man den Parteien vielleicht eröffnen, den hinteren Teil der Liste nach Regierungsbezirk zu differenzieren, so dass z.B. alle Wähler in NRW auf ihrer Liste dieselben Topplätze haben, aber je nach Partei dann ab Position 20, 30 oder 50 o.ä. verschiedene. (Die hätten dann natürlich schlechtere Chancen, aber das ist mit den bisherigen starren Listen ja noch extremer.)

Das einzige, was natürlich unter den Tisch fallen würde, sind Einzelkandidaten. Aber der letzte Einzelkandidat, der es in den Bundestag geschafft hat, war afaik bei der allerersten Bundestagswahl. Dürfte also ein zu verschmerzender Verlust sein.

Wird aber natürlich alles nicht passieren, denn die Parteien wollen eben keine erweiterte Personalisierung, sondern sie wollen weiter ihre „sicheren“ Wahlkreise und Listenplätze haben und am Wähler vorbei planen, wer in den Bundestag kommt, und wer nicht. Vor Jahren gab es da wohl mal Untersuchungen zu, dass weit über die Hälfte der Bundestagsabgeordneten praktisch schon vor der Wahl feststehen, und nur ein kleiner Anteil sich mit dem Wahlergebnis hin und her schiebt, und die Parteien wollen das gerne so beibehalten.