Vom politischen Hobbyismus (oder: Warum hören wir die Lage?)

Liebe Alle,

warum schauen/lesen manche Menschen jeden Tag stundenlang Nachrichten, ohne sich im Geringsten politisch zu engagieren?

Ich denke, wir alle kennen so jemand - oder würden uns sogar selbst damit identifizieren…

Laut Politikwissenschaftler Eitan Hersch konsumieren die Menschen Nachrichten im Rahmen eines politischen Hobbyismus. Dieser dient nicht, wie politisches Engagement, dazu, sich Macht zu verschaffen; sondern zur Unterhaltung, zum Ausdruck der eigenen Persönlichkeit - kurz gesagt, es gibt viele Parallelen zum Sport, wo man eine Mannschaft anfeuert und die Gegenseite anfeindet.

Politischer Hobbyismus wächst laut Untersuchungen. Das liegt zum einen an der Medienlandschaft, weil die Nachrichten bringt, die Klicks kriegen, also vor allem Polarisierendes auf der nationalen oder internationalen Ebene. Lokale Nachrichten sind langweilig, unterfinanziert, und werden immer weniger konsumiert - aber ein normaler Mensch kann eher auf der lokalen Ebene etwas bewegen, als auf der nationalen.

Wer neigt besonders zum politischen Hobbyismus? Laut Hersch betreiben ihn vor allem Menschen, die

  • männlich
  • weiß
  • und gebildet sind
    … also die, die ihren persönlichen Status Quo erträglich finden. Diese Menschen spüren vielleicht ehrlichen Wut über den Zustand der Welt, dass es anderen nicht so gut geht wie ihnen, aber der Druck, etwas dagegen zu unternehmen, ist nicht groß genug.

Politischer Hobbyismus hat verschiedene negative Konsequenzen:

  • es ist ein Hobby, das eigentlich oft eher wütend oder traurig macht
  • die Energie steht nicht mehr für echtes Engagement zur Verfügung
  • Politiker*innen und Medien provozieren absichtlich, um unterhaltsam (=profitabel) zu sein
  • lokale Probleme werden vernachlässigt

Mehr Details und vor allem wissenschaftliche Erkenntnise dazu, was kann man stattdessen tun kann (Spoiler: auf der lokalen Ebene für Menschen Gutes tun, dabei irgendwann über unsere politischen Ansichten reden) finden Interessierte in der Podcastfolge, von der ich diese ganzen Infos habe (auf Englisch, 50 min):

https://hiddenbrain.org/podcast/passion-isnt-enough/

Bin gespannt auf eure Reaktionen. :slight_smile:

Liebe Grüße
Nina

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Hallo Nina und restliche Community,

ich zieh mir gleich als ersten den Schuh an:
Ich bin weiß, männlich, (hoffentlich ausreichend) gebildet und wirtschaftlich geht es mir ausreichend gut. Und ich sehe bei mir auch genau das Verhalten, das hier als politischer Hobbyismus beschrieben wird und würde auch sagen, dass die Bezeichnung durchaus zutrifft.

Allerdings sehe ich die negativen Punkte etwas anders als du:

  1. Politik ist mMn der Versuch öffentliche Probleme zu lösen. Und sich mit Problemen zu beschäftigen macht zwangsläufig nicht immer Spaß, das sehen wir z.B. im jeweiligen Beruf. Außerdem gibt es ja auch humorvolle Arten sich mit Politik zu beschäftigen, beispielsweise politisches Kabarett.
  2. Das durch politischen Hobbyismus möglicherweise die Zeit und Energie für echte politische Arbeit fehlt, kann ich am Beispiel meiner Person schwer entkräften. Ich bin weder in einer Partei noch engagiere ich mich, bis auf Wahlen und gelegentliche Demobesuche, politisch. An diesem Punkt ist daher wohl wirklich etwas dran, danke für den Hinweis.
  3. Eine provokante Bild-Schlagzeile über einen Politiker zieht glaube ich bei jedem Leser. Entweder durch irgendeine Form der Ablehnung oder irgendeine Form der Zustimmung. Und das der politische Diskurs provokanter wird ist mMn eher ein Produkt des schnelllebigen Medienkonsums der heute vorherrscht.
  4. Diesen Punkt finde ich quasi deckungsgleich mit Punkt 2, nur halt auf lokal- statt bundespolitischer Ebene. Daher auch hier: Guter Punkt, man (und damit meine ich auch mich selbst) sollte wirklich von Zeit zu Zeit überlegen seine theoretische Beschäftigung mit Politik in konkretes Engagement umzuwandeln.

Mfg
Matder

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Ich habe früher sehr viel Zeit damit verbracht Online Artikel zu lesen. Das war für mich jedoch weniger Unterhaltung, sondern das war Interesse an den Dingen die in der Welt vor sich gehen. Das doofe dabei war, dass ich trotz großem Zeitaufwand nicht wirklich informiert war. Denn dazu sind die ganzen Internetartikel nicht da. Die verbreiten meist nur Schlagzeilen.
Seit ich die Lage höre lese ich wesentlich weniger, bin jedoch deutlich besser informiert. Von daher hat die Lage bei mir genau den gegenteiligen Effekt gehabt.

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Es mag allzu idealistisch und zu wenig kulturkritisch gedacht sein, aber ich würde doch gerne eine Lanze für den exzessiven Konsum politischer Nachrichten und politischer Bericherstattung insgesamt brechen. Ich würde dir erstmal zustimmen, dass die zunehmende Unterfinanzierung regionaler Medien ein Problem darstellt, ebenso das sehr ungleich verteilte Privileg, die Zeit und die Infrastruktur dafür zu haben, solche Formen ausufernden Politiknachrichtenkonsums betreiben zu können.

Widersprechen würde ich aber bei der harten Entgegensetzung von „echte[m] Engagement“ und bloßer, d.h. passiver Lektüre von Zeitungen oder dem Hören von Podcasts. Sicher gibt es im lokalen und persönlichen Umfeld immer Dinge, auf deren Verbesserung man hinwirken könnte und sollte, aber grundsätzlich vermitteln doch Zeitungslektüre oder das Hören politischer Podcasts überhaupt erst die Grundvoraussetzungen für sinnvolles oder erfolgreiches politisches Engagement. Sie erzeugen ein Bewusstsein dafür, dass Menschen von politischen Prozessen mitgemeint und in diese involviert sind. Sie machen es überhaupt erst plausibel, bspw. innerhalb der Ordnungseinheit „Nation“ oder „Europa“ zu denken und auf die Idee zu kommen, dass das Schicksal eines Menschen im Saarland oder im Iran irgendetwas mit mir selbst zu tun haben könnte, etc.

Oder anders: Wie sollen sich denn „politische[] Ansichten“ herausbilden und stabilisieren, wenn sie nicht an einen ständigen Nachrichtenstrom angeschlossen sind? Und ist es wirklich Klick-Journalismus, wenn über politische Korruption, Wirtschaftskorruption, rechtsextreme Gewalt, usw. in ausführlichen und aufwändigen Recherchen berichtet wird? Dass es immer auch schlechte Beispiele von Medienarbeit gibt ist ja klar, aber sollte man das Kind deshalb gleich mit dem Bade ausschütten? Ist der Typus des exzessiven Nachrichtenkonsumenten richtig beschrieben als jemand, der insbesondere Clickbait-Texte liest, Statements von Politiker:innen für bare Münze nimmt und sich für lokale Zusammenhänge nicht interessiert? Oder nochmal anders: Ich wäre eher skeptisch gegenüber politischem Engagement, das sich nicht auf den exzessiven Konsum politischer Geschehnisse und Realitäten stützt.

Und andererseits könnte man der relativen Kalmierung von Konflikten und Gemütslagen, die die Anteilnahme an politischen Prozessen durch Lektüre oder Podcast-Hören mit sich bringt, ja auch Positives abgewinnen. Es ist doch auch wiederum eine Errungenschaft, zu der nicht zuletzt eine diverse Medienlandschaft beträgt, dass wir uns nicht mehr bei jeder politischen Meinungsverschiedenheit auf der Straße die Köpfe einschlagen, sondern uns stattdessen über Zeitungsseiten gebeugt oder beim Abwasch mit dem Podcast auf den Ohren aufregen und uns vielleicht noch in Leser:innenbriefen oder Kommentarforen ‚bekriegen‘.

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Genau mein Gedanke! Soll man sich etwa politisch engagieren, ohne sich für das Thema zu interessieren? Daher ist die Gegenüberstellung

falsch. Ohne informiert zu sein, wird man sich nicht engagieren, weil der Antrieb fehlt, und andersherum braucht man, wenn man sich schon engagiert, die dazu nötige Information.

Überhaupt würde ich mir wünschen, dass alle, die sich einsetzen, das gerne machen, also sozusagen als Hobby betreiben.

Zugegeben: Mein politisches Engagement beschränkt sich auf ein paar lokale Kleinigkeiten und, wenn man das dazurechnen mag, auf Beiträge hier im Forum und an ähnlichen Stellen. Aber mit Sicherheit steht das Konsumieren politischer Medien nicht in Konkurrenz dazu sondern befördert es eher als es zu behindern.

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Als ich meinem Mann von der Theorie erzählt habe, war seine erste Frage auch: Gut, aber wo ist die Grenze zwischen Informieren und Hobbyismus? Und Engagierte müssen sich ja auch informieren. Das kam mir beim Interview mit dem Politikwissenschaftler auch ein bisschen zu wenig zur Sprache. Eigentlich ist klar, dass es sich hier um viele Graustufen handelt, die auch vom jeweiligen Kontext abhängen.

Ein einziges mediales Angebot kann also auch auf verschiedene Weise genutzt werden:

Es wird also bestimmt so sein, dass manche Menschen die Lage hören im Rahmen von Hobbyismus, andere im Rahmen des Informierens, andere wiederum befeuern damit aktives Engagement (Ulf und Philip haben irgendwann neulich ja auch gesagt, dass es für sie die größte Freude ist, wenn jemand ihnen sagt, dass er/sie sich wegen der Lage jetzt mehr engagiert).

Ich zähle mich bisher zu denen, die die Lage zum Informieren hören, weil ich wenig anderes konsumiere - aber mein an der Politik Interesse wächst durch die Lage erheblich, und ich spüre, dass ich bald entweder in den Hobbyismus oder ins Engagement rutsche. :slight_smile: Bin also am Überlegen, wie ich mich engagieren will.

Ja, da würde ich dir auf jeden Fall zustimmen! Angebote wie die Lage gehören für mich hingegen fast schon zum „slow journalism“.

Freut mich, dass du der Theorie was abnehmen konntest. :slight_smile: