Verwendung von 'Gemeinwohl' in der "Lage"

In der aktuellen LdN 235 ist mir aufgefallen, dass im Kapitel „Politik in der Warteschleife“ – das ich ausgesprochen interessant und anregend fand, weil es noch einmal den Bogen zum Lobbyismus schlägt – der Begriff des Gemeinwohls sehr prominent genannt und benutzt wird (Ulf: „Wer macht eigentlich Lobbyarbeit für das Gemeinwohl?“, 39:51). Das war auch schon in vorhergehenden Folgen und einigen Kommentaren

der Fall, allerdings ist diese Verwendung m. E. zu undifferenziert und pauschal, weshalb ich hier meine 2 cents loswerden möchte.

In der Folge wird ‚Gemeinwohl‘ gleichgesetzt mit „Inzidenzen runter, Gesundheitsschutz“ (40:10) und als Gegenentwurf zu den Partikularinteressen der Wirtschaft ins Feld geführt. Das halte ich für zu kurz gegriffen, denn: Wer bestimmt eigentlich dieses Gemeinwohl – und wie? Woher leitet es sich ab, was sind seine Quellen? Ist eine Mehrheitsmeinung, sofern sie sich bestimmen lässt, automatisch dem Gemeinwohl verpflichtet und mit diesem gleichzusetzen (vgl. „Tyrannei der Mehrheit“; Rousseau-Konzeption: vo­lonté généra­le)? Und warum sind die Interessen der Wirtschaft bzw. von Arbeitgebern nicht dem Gemeinwohl verpflichtet oder an ihm orientiert? Haben wir nicht alle ein Interesse, dass ‚die Wirtschaft wieder läuft‘? Diese Fragen (ich erwarte darauf keine Antwort, sie sollen nur zur Illustration dienen und durchaus provokativ sein) sollten zeigen, dass es das Gemeinwohl nicht gibt, sondern man sich ihm z. B. über prozedurale Fragen nähern kann, die bestimmte Kriterien erfüllen sollen oder Werte anstreben (Gerechtigkeit etc.), die inhaltliche Dimension ist aber indes schwieriger zu bestimmen. Daher sollte, wenn überhaupt, sehr vorsichtig mit diesem Begriff argumentiert werden. Grundlegend lassen sich zwei Konzeptionen unterscheiden: Gemeinwohl a priori (normativ, im Vorhinein) und a posteriori (empirisch, nachträglich). Beim Hören und Lesen des Kommentars hatte ich den Eindruck, dass schon vorher, ganz objektiv klar ist, was dieses Gemeinwohl sein soll. Dass arbeitgebernahe bzw. laute Lobbys in der Politik eher auf fruchtbaren Boden treffen, der Zugang für andere, weniger gut organisierte Interessen schwieriger ist, ist ein wirkliches Problem, sollte aber nicht mit einer (v. a. inhaltlichen) Gemeinwohl-Diskussion vermengt werden.

Die Frage des Gemeinwohls ist, insb. in der aktuellen Corona-/Pandemie-Diskussion, immer mit den Zielen (und Werten) verbunden, die die Politik verfolgt und kommuniziert (oder nicht verfolgt und nicht kommuniziert); diese sind aber in einer pluralen Gesellschaft strittig. Da auch auf die Lanz-Sendung eingegangen wurde: Auch Melanie Brinkmann hatte das völlig zu Recht klar und deutlich thematisiert („Überlastung der Krankenhäuser? Durchseuchung?“). Die Antwort blieben die anwesenden Politiker schuldig, da selbst den meisten Landesregierungen offensichtlich nicht klar, was ihre Ziel- und Werteorientierung eigentlich ist.

Ich will hier keine Grundsatzdiskussion der Politischen Theorie (diese gibt es nämlich hierzu mind. seit der Antike) aufmachen, nur dazu anregen, dieses Hochwertwort mit Bedacht einzusetzen, analytisch zu differenzieren und nicht als abstrakte normative Begründung zu verwenden, weil es die eigene Position irgendwie unterstützt.
Wenn ich das richtig sehe, ist der Begriff auch in der Rechtswissenschaft als unbestimmter Rechtsbegriff auslegungsbedürftig. Ansonsten stimme ich mit den anderen Teilen der Analyse vollständig überein (Wirtschaft bisher zu sehr verschont etc.).

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