Verfassungsklage im Eilverfahren wg. halbherziger Pandemiebekämpfung

Diese Idee richtet sich vor allem an die Juristen unter Euch im Forum, allen voran an @vieux

Angeregt vom Erfolg der Klimaaktivisten bei ihrer Klage gegen die halbherzige Klimapolitik:

Was spricht eigentlich dagegen, eine entsprechende Klage - idealer Weise angesichts der Dringlichkeit im Eilverfahren - gegen die Untätigkeit der der Politik bei der Pandemie-Bekämpfung?

Ausgangspunkt ist Artikel 2, Absatz 2 GG: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.“

Zweiter Ausgangspunkt ist die (zu beweisende) Annahme, dass mit geeigneten Maßnahmen (s.u.) es möglich gewesen wäre und immer noch ist, die Inzidens massiv abzusenken und auf einem sehr niedrigen Niveau zu halten.

Bevor hier (wie das auf Twitter fast immer sofort der Fall ist) jemand schreit: „Das ist unmöglich / unrealistisch / naiv / …“: Beschäftigt Euch mit NoCovid und entsprechenden Erfolgen in anderen Ländern:

Wahrscheinlich gibt es noch viele weitere Grundrechte, die hier unnötig beschränkt werden. Ich denke hier z.B. an die Gastronomen, Hoteliers, Künstler, Veranstalter, etc., die der Ausübung ihres Berufs massiv behindert werden, weil der halbherzige „Lock Down“ viel länger anhält, als es mit angemessenen staatlichen Maßnahmen notwendig gewesen wäre. Ähnliche Argumentation auch für Kinder, Schüler und eigentlich alle Menschen, deren Grundrechte eben länger eingeschränkt werden als notwendig. Vielleicht finden wir auch noch unangemessene Grundrechtseinschränkungen für Intensivärzte und -pfleger. etc.

Dagegen scheinen die Bundes- und Landesregierungen und -Parlamente offenbar das Ziel, die Inzidens massiv abzusenken, aufgegeben zu haben: Die haben schlicht angesichts ihres eigenen Versagens und dem vermeintlichen Gegenwind (der aber keineswegs von den Umfragen bestätigt wird) das letzte bisschen Mut, dass sie vielleicht noch hatten, verloren, haben kapituliert und hoffen, sich bei einer Inzidenz von 100 noch irgendwie bis zum erhofften Licht am Ende des Tunnels durchmogeln zu können.

Mit gravierenden Folgen:

  • Die hohe Inzidens führt zu entsprechend hohen Todesjahren und Langzeit-Folgen, v.a… LongCovid
  • Die Intensivstationen bleiben massiv überlastet. Ich warte darauf, dass vermehrt Ärzte und Pfleger hinschmeißen, während die Politik das Verantwortungsgefühl der Bleibenden missbraucht
  • Restaurants, Hotels, Kultur-Veranstaltungen u.v.m. bleibt mehr oder weniger geschlossen, die Corona-Hilfen fließen langsam, z.T. gar nicht (v.a. bei Solo-Selbstständigen), eine Massen-Insolvenz der Kleinunternehmer und Solo-Selbstständigen steht uns bevor. Der Verlust für die Gesellschaft ist gar nicht zu überschätzen.
  • Die sog „Kollateralschäden“ (ich hasse diesen Begriff) bei v.a. Kinder und Jugendlichen und beim „Rest of us“, die uns alle mürbe und wund macht - @MarionH hat das hier mal sehr schön auf den Punkt gebracht - zieht sich viel, viel länger hin, als das nötig gewesen wäre

Und mit massiven Risiken: Die Wahrscheinlichkeit, dass irgendwann eine Mutation auftaucht, die einen so signifikanten Immun-Escape aufweist, dass wir die bisher erreichten Impferfolge einfach in die Tonne drücken können, steigt mit anhaltend hoher Inzidenz!

Vorgehensweise:

  1. Man müsste einen kompetenten Anwalt oder ein Anwaltsteam finden, der bereit wäre, diese Klage zu übernehmen.
  2. Man bräuchte ein kompetentes, gutes Campaigner-Team, die via Social Media kurzfristig Unterstützer und v.a. Spender für das Vorhaben einwerben. Dabei ist es wichtig, nicht den kurzen Lockdown in den Vordergrund zu bringen, sondern die mit einer Niedrig-Inzidenz möglich werdenden, vorsichtigen Öffnungen.
  3. Man müsste Betroffene finden, die als Kläger auftreten
  4. Man müsste Sachverständige finden, die überzeugend darlegen können, dass und mit welchen Maßnahmen so etwas wie NoCovid auch in Deutschland funktionieren würde und die die üblichen Gegenargumente widerlegen.

Bin ich naiv?

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Ich habe das an anderer Stelle hier schon mal kurz angerissen. Das Hauptproblem einer solchen Klage ist meiner Meinung nach, dass Artikel 2(2) GG in erster Linie ein Abwehrrecht gegen den Staat ist, und die sich daraus ergebenen Schutzpflichten nicht absolut sind. Wenn der Staat überhaupt nichts tun würde, wäre eventuell eine Klage erfolgreich, aber eine Klage auf bestimmte Maßnahmen halte ich für aussichtslos.

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Dann könnte man das als Klage gestalten darum, dass der Staat ein niedriges Inzidens-Ziel anzustreben hat, um Leben und Gesundheit zu schützen. Aktuell kann man ihm zwar keine Untätigkeit vorwerfen, wohl aber, dass er weit weniger tut, als er tun könnte, ohne dass eine angemessene Güterabwägung mit anderen Grundrechten dies rechtfertigen könnte.

Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz statuiert bei Abwehrrechten ein Übermaßverbot, bei Schutzpflichten aber lediglich ein Untermaßverbot.

Das heißt der Staat muss nur ein Mindestmaß an Schutz gewährleisten. Alles darüber ist Spielraum, Kür, Politik – bis das Übermaßverbot greift, also jemand anders zu sehr belastet wird, z. B. Hotelbetreiber.
Aufgrund dieser herkömmlichen Dogmatik gibt es keine rechtliche Handhabe, eine optimale Pandemiestrategie zu erzwingen.

Quasi so:

xxxxxx+++++++++++++++++xxxxxx

x heißt verboten, + heißt erlaubt (aber nicht geboten).
(Die linken xe kann man sich Untermaßverbot vorstellen, die rechten xe als Übermaßverbot.)

Das hängt auch mit Gewaltenteilung und Demokratie zusammen. Die Legislative soll Handlungen aus einem Pool an Möglichkeiten auswählen. Das Verfassungsgericht kontrolliert nur, ob der rechtlichen Rahmen (/Beckenrand?) überschritten ist. Der Rahmen kann selbstverständlich aufgrund verschiedener Faktoren enger oder weiter sein.

Interessant ist aber in der Tat die Überlegung: Was, wenn die Strategie des Wenigtuns für alle schlecht ist – COVID-Gefährdete, Hotelbetreiber, Staatskasse etc., und NoCovid für alle besser? Das kann man mMn auf lange Sicht wohl bejahen. Gibt bekanntlich auch Leute, die es verneinen. Insb. bei solchen unsicheren Prognosen kommt dem Gesetzgeber eine Einschätzungprärogative zu.

Die herkömmliche Dogmatik mit dem Untermaßverbot geht mW davon aus, dass ein Mehr an Schutz für eine Person A eine Person B stärker belastet (und sei Person B die Staatskasse).

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Es gab bereits letzten Sommer Studien, die zeigten, dass es einen Sweet Spot bei R~0,6 gibt, an dem das Verhältnis von wirtschaftlichen Schäden und der Anzahl an Toten/Belastung des Gesundheitssystems am günstigsten ist. Die Bundesregierung hat R dagegen um 1 herum gehalten und damit das Gesundheitssystem unnötig belastet, unnötige Tote herbeigeführt und die Wirtschaft unnötig geschädigt. Die Strategie war also für alle schlechter als R~0,6.

An der Stelle lohnt es sich glaube ich auch, sich nochmal die Argumentation in Sachen Klimaschutzgesetz genau vor Augen zu führen. Das BVerfG hat das KSG gerade nicht gekippt, weil der Staat zu wenig tut, um die Gesundheit zu schützen (s. Rn. 153 ff. - da erkennt man gut die Begrenztheit der Kontrolle, die hier schon erklärt wurde). Der Clou des Urteils ist vielmehr, dass das Gericht aus der Schutzfrage eine Verteilungsfrage macht: Weil wir jetzt nur so wenig tun, müssen wir später viel mehr tun und das wird schmerzhaft. Diese Argumentation funktioniert aber nur, weil das 1,5-Ziel nach Ansicht des BVerfG verfassungsrechtlich vorgegeben ist (Rn. 185 f.). Der Gesetzgeber habe Art. 20a GG durch den Beitritt zum Pariser Abkommen und durch § 1 III KSG konkretisiert (Rn. 208 ff.).

Das ist also das besondere am Klimaschutzgesetz-Urteil: Das BVerfG leitet die konkrete Zielvorgabe schon aus der Verfassung ab. Dadurch löst man sich von den Fesseln der Untermaßverbots-Dogmatik. Das lässt sich aber auf die Pandemie nicht übertargen, weil wir uns gerade über die Zielvorgabe (wie viel Lebensschutz ist verfassungsrechtlich gefordert) streiten.

@vieuxrenard, ist das ein Fall für die GFF? Die Staatsorgane gerichtlich zwingen, die Infektionen zu minimieren. Auf Tatsachengrundlage des von @FlorianR genannten „R=0,6 ist besser für alle“.

Das wäre doch ein großer Wurf.


Folgefrage an alle Juraleute: Wie ist das eigentlich, wenn das BVerfG entscheidet, nachdem sich die Pandemie schon (teilweise) erledigt hat? (Zu einem großen Teil hat sie sich ja bereits durch Zeitablauf erledigt.)

Feststellungsurteil? Staatshaftung?

Das scheint im Gefolge des Kunduz-Falls sehr im Fluss zu sein.

https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2020/11/rk20201118_2bvr047717.html

Aus der Pressemitteilung:

Die Haftung für staatliches Unrecht ist nicht nur eine Ausprägung des Legalitätsprinzips, sondern auch Ausfluss der jeweils betroffenen Grundrechte, die den zentralen Bezugspunkt für staatliche Einstandspflichten bilden. Die Grundrechte schützen nicht nur vor nicht gerechtfertigten Eingriffen des Staates in Freiheit und Gleichheit der Bürgerinnen und Bürger und sind insoweit Grundlage von Unterlassungs- und Beseitigungsansprüchen, die die Integrität der grundrechtlichen Gewährleistungen sicherstellen. Wo dies nicht möglich ist, ergeben sich aus ihnen – und nicht allein aus dem auf einer politischen Entscheidung des Gesetzgebers beruhenden einfachen Recht – grundsätzlich auch Kompensationsansprüche, sei es als Schadensersatz-, sei es als Entschädigungs- und Ausgleichsleistungen. Eine derartige Rückbindung der staatlichen Unrechtshaftung ist heute ein allgemeiner Rechtsgrundsatz im europäischen Rechtsraum.


edit: Systemimmunologe Michael Meyer-Hermann vom Braunschweiger Helmholtz Zentrum für Infektionsforschung:

Auf diese Weise schwanke der Inzidenzwert stets um die Marke von 100, sinke aber nicht. Denn dann würden die Einschränkungen ja wieder gelockert, was wiederum die Zahlen nach oben treibe. „Das kostet die Gesellschaft unglaublich viel: wirtschaftlich, bildungstechnisch, psychosozial. Auf allen Ebenen verlieren wir mit dieser Taktik, die das Ganze in die Länge zieht“, kritisierte der Experte. „Wir können das natürlich auf Ewigkeit auf 100 lassen. Aber das ist ja keine Lösung dieses Problems.“

Was ihm vor allem nicht in den Kopf will, ist die Anhebung des Grenzwerts von einst 35 auf 100. „Wir erzeugen mit den gleichen Maßnahmen den gleichen gesellschaftlichen Schaden“, sagte Meyer-Hermann. „Aber es gibt einen massiven Unterschied: Wir haben dreimal so viel Tote. Ich verstehe es nicht. Ich komme nicht dahinter.“ Er warnte davor, in der Debatte um die Rückgabe von Freiheiten und ähnlichem das Wesentliche aus den Augen zu verlieren. „Das ist das große Missverständnis in dieser Pandemie: Es sind nicht die Maßnahmen, die die Gesellschaft kaputtmachen. Es ist das Virus, das die Gesellschaft kaputtmacht.“


edit: @vieuxrenard , danke für die Ausführungen zur Erledigung in LdN 240 :slight_smile:

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Neben der sicher interessanten juristischen Frage, wie sowas funktionieren könnte, wozu führt es? Was sind ganz konkret die Maßnahmen, für Mai und Juni 2021 - bitte nicht nur auf nocovid verweisen. Auch nocovid wäge ab:

Betriebe des produzierenden Gewerbes sollten geöffnet bleiben, solange es nicht zu
SARS-CoV2-Infektionen am Arbeitsplatz kommt, selbst wenn sie nicht in einer Grünen Zone
sind und das lokale Infektionsgeschehen höher ist.

Wie sollte also das Leben im Mai/Juni bei einer vollherzigen Pandemiebekämpfung aussehen?

Du schaust schon weitsichtig voraus.

Ich will nur noch anmerken, dass für den Verfassungsprozess vorm BVerfG das „Wie“ der Umsetzung mW egal ist.

Im Klimaurteil sagt es mW auch nicht „rettet JETZT das Klima mit diesen 10 einfachen Tricks!“.

Sondern es sagt, dass ein gewisses Ziel zu erreichen ist und der Staat nicht genug dafür tut, also mehr tun muss.