US - Kulturkampf, Zukunft in Deutschland?

Ich wollte gern ein Thema im Sinne „How democracies die“‘ anreißen. Und zwar ist ja in den USA zu beobachten, dass der Kulturkampf (woke vs. konservativ) mittlerweile viele Themen durchsetzt. Ich bin bei dem Thema Investition von US Pensionsfonds nach ESG Kriterien darauf gestoßen. Und mir geht es hier gar nicht um das Thema als solches, sondern um einen übergreifenden Effekt, der sich in Deutschland bspw. bei Verkehrspolitik ja schon deutlich zeigt: der Kulturkampf. Also die de-Objektivierung und damit verbundene Lagerbildung bei jedem Sachthema. Gefühlt ist diese Entwicklung gerade seit BLM und Trump schon länger in den USA präsent.
Offene Frage an das Forum: wie bewertet ihr das Risiko bzw. Beobachtet bereits, dass der Kulturkampf alle sachlichen Debatten zersetzt?
Ist das überhaupt ein neues Phänomen?
Fallen euch konkrete Beispiele ein?
Gibt es Möglichkeiten dagegen zu wirken?

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Ich halte das für ein Risiko, die Situation in den USA ist total verfahren, und oft kommen Entwicklungen aus den USA später auch nach Deutschland.
Ein Beispiel ist ein Teil der Corona-Debatten, zum Glück aber ein kleinerer Teil, keine 50:50-Spaltung der Gesellschaft.

Um dem entgegenzuwirken, kann man z. B. auf eine gute Debattenkultur hinwirken, sich informieren, verschiedene Meinungen anhören, Meinung und Fakten trennen, selber sauber argumentieren, und es thematisieren, wenn jemand unsauber diskutiert.

Ich denke eine maßgebliche Rolle werden letztlich die Politik und die Medien spielen.

Die Springer-Presse ist leider schon auf dem besten Weg, den Fox News-Pfad zu beschreiten und extrem einseitige Meinungsmache zu betreiben (siehe z.B. sämtliche Beiträge zur „Letzten Generation“ seitens der Springer-Presse, egal ob BLÖD-Zeitung oder WELT…). Die Gefahr der Amerikanisierung der politischen Debatte ist hier eindeutig bereits realisiert, gerade weil die Springer-Medien leider dominant auf dem deutschen Zeitungsmarkt sind.

Noch haben wir jedoch ein breites Segment an politisch ausgewogenen Medien - und auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk genießt noch großes Vertrauen in weiten Teilen der Bevölkerung und ist ein wesentlicher Schutzfaktor gegen die Amerikanisierung der Debatten.

Ob die Politik je so einseitig-polemisch wird wie in den USA kann auch bezweifelt werden, da die Parteien im deutschen Mehrparteien-System häufig zu mehrjährigen Koalitionen auf Bundes- und Landesebene gezwungen sind. Daher werden Phasen aggressiver Wahlkampf-Polemik stets von Zweckbündnissen durchbrochen, die ein wenig die Polemik rausnehmen und verhindern, dass Wähler des eigenen Lagers über Jahrzehnte gegeneinander aufgewiegelt werden können. In den USA gibt es immer nur sehr begrenzte Kooperationen in einzelnen Sachfragen, das hat grundsätzlich nicht die gleiche Schutzwirkung.

Ich würde daher sagen, dass die Prognose für Deutschland etwas positiver ist als für die USA, weil wir mehr systematische Schutzfaktoren haben. Dennoch werden die Parteien natürlich - wie auch schon zu Zeiten Strauß’ - keine Gelegenheit ungenutzt lassen, Feindbilder aufzubauen, um ihre Anhänger zu mobilisieren. Und das wird negative Folgen für das demokratische Klima auch in Deutschland haben, wie es sie schon immer hatte.

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Das würde mich ja schon interessieren, wie eine „sachliche[] Debatte[]“ über die Frage aussieht, ob die Polizei grund- und wahllos schwarze Menschen erschießen sollte oder nicht.

Ernsthaft: Eigentlich beschreibt der verlinkte Artikel es ganz gut. Hier wird eine seit 20 Jahren akzeptierte unternehmerische Praxis plötzlich von rechts angegriffen und als „woke“ gelabelt. Wie wenig dieses Label aussagt zeigt ja auch, dass es ausgerechnet BlackRock ist, das hier besonders „woke“ sein soll. Man sollte hier schlicht aufpassen, keine falsche Gleichsetzung zu betreiben. Es ist mitnichten so, dass hier zwei Seiten ‚gleichberechtigt‘ daran arbeiten, einen demokratischen Diskurs zu verunmöglichen.

Eine Seite will das demokratische Rad zu einer Art von weißem Patriarchat der 50er Jahre zurückdrehen, demokratische Rechte von Minderheiten beschneiden, Trans-Personen das Existenzrecht absprechen, Abtreibungen verbieten, Migration bekämpfen, abgewirtschaftete Industriezweige protegieren, etc. etc. Die andere Seite insistiert auf demokratischen Mitbestimmungsrechten für alle, Menschenrechten und der Aufrechterhaltung von Lebensgrundlagen. Hier stehen sich mithin nicht zwei Gruppen gegenüber, die sachliche Debatten verhindern, sondern es geht - wenn man beim „Kulturkampf“ bleiben will - um nichts weniger als um die Verteidigung der Demokratie. Demokratien sterben auch, indem man die Verteidigung demokratischer Rechte als ‚extremistisch‘ (oder hier: „zersetzend“) delegitimiert.

P.S.: Apropos New York Times: Der New York Times wird gerade immer wieder der Vorwurf gemacht, vor allem in ihren Op-Eds eine solche Gleichsetzung beider Seiten der „culture wars“ zu betreiben. Konkret richten sich die Proteste - u.a. von 1000 Mitarbeitenden der Zeitung - gegen die massive Überbetonung der Risiken medizinischer Behandlung von Trans-Jugendlichen.

Wenn jemand sich dafür ausspricht, die freiheitlich-demokratische Grundordnung abzuschaffen, ist ihm natürlich zu wiedersprechen, und wenn es jemand mit Taten versucht, sollen wir uns dagegen verteidigen.
Ich glaube aber nicht, dass die halbe Bevölkerung aus solchen Extremisten besteht, sondern dass es auch viele Gemäßigte gibt.