Unbezahlte Praktika und soziale Gerechtigkeit

Das Thema ist sicherlich nicht neu, aber gleichwohl fortwährend brisant. Unbezahlte Praktika gehören in allen Wirtschaftsbereichen zum absoluten Usus und werden von vielen Vertretern der Wirtschaft regelmäßig vehement verteidigt.
Allerdings führen die Erfordernisse von Pflichtpraktika häufig dazu, dass es zu einem sozialen Ungleichgewicht kommt. Entweder müssen finanziell schwächer aufgestellte Aspiranten gänzlich auf die Durchführung des Praktikums verzichten oder müssen nebenher noch zusätzlich arbeiten und Geld verdienen, was zu einer Doppelbelastung führt.

Nunmehr entschied auch das Bundessozialgericht, dass bei Pflichtpraktika kein Anspruch auf Mindestlohn besteht.
BAG: Kein Mindestlohn für Praktika vor dem Studium (lto.de)
(BAG Urt. v. 19.01.2022, Az. 5 AZR 217/21).

Meines Erachtens bedarf es hier gesetzlicher Regelungen, um diese Unsitte zu verbieten. Eine derart wohlständige Wirtschaft, wie die deutsche, sollte nicht zur Perpetuierung von sozialer Ungleichheit begünstigt werden. Vielleicht könntet ihr das Thema mal wieder auf die Agenda bringen. Würde mich freuen.

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ich habe an einer Hochschule für Soziales gearbeitet und Kommilitoninnen haben nach dem Praxissemester eine Umfrage gemacht in der herauskam, dass (etwa) 70% der Praktikantinnen neben dem Vollzeitpraktikum noch arbeiten mussten. So gut wie niemand wurde bezahlt. Von den übrigen 30% waren viele dabei, die das Praktikum einfach dort gemacht haben wo sie eh schon angestellt waren, damit sie bezahlt werden.

Klar, dass Menschen im sozialen Bereich am besten schon währende des Studiums darauf vorbereitet werden sollten ausgebeutet zu werden.

Ich habe in gewissem Rahmen Verständnis für die Praxis.
Es ist wie bei Azubis erstes Lehrjahr. Die Kosten Geld und sind keine wirkliche Hilfe beim Umsatz / der Erledigung der Arbeit.
Wer also für Vorpraktika Mindestlohn fordert, kann genauso gut Ausbildungsgeld ab dem ersten Schuljahr verlangen …

Immerhin reden wir hier von Arbeitsplätzen die am Ende keine Anlernjobs sind.

Das wiederum gleich gar nichts gezahlt wird ist dagegen auch nicht in Ordnung.

Irgendeine Vergütung als Aufwandsentschädigung muss schon sein.

Und noch wieder anders sehe ich das für Praktika die im weiteren Verlauf des Studiums gemacht werden (müssen?). Da können die Leute schon was. Da kann man dann auch schon langsam darüber nachdenken, daß das die leistfähige Arbeit Mindestlohn wert sein müsste.

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Da könnte man aber auch die Frage stellen, wozu es überhaupt die Praktika gibt? Aus Arbeitgebersicht: Billige Arbeitskräfte. Warum sollten sonst Praktikumsplätze angeboten werden, wenn die Menschen dort doch nur Geld kosten? Alles andere kann man auch mit ins Studium/Ausbildung packen, dafür braucht man kein Ausbeuter-Praktikum.

Das ist die Gretchenfrage.

Ich hatte in meinem Leben zwei Schülerpraktika um halt in’s Arbeitsleben zu schnuppern.
Eins im Krankenhaus: da war ich billige Arbeitskraft = eine Woche Boden wischen
Eins in einem Schlosserbetrieb: jeden Tag Handlanger für einen anderen Mitarbeiter mit anderen Arbeitsaufgaben.

Das zweite war wesentlich interessanter.

Ich denke das kommt darauf an. Die einen werden Praktikanten als billige Arbeitskraft einstellen. Das ist nicht nachhaltig und eher dumm, aber teilweise auch verständlich, denn oft sind selbst akademische Praktikanten keine große Hilfe im Alltagsgeschäft.

Vor allem in Bereichen mit Fachkräftemangel werden Praktika aber auch angeboten um guten Nachwuchs früh zu
finden und zu binden. Dort gibt es dann auch meist eine Aufwandsentschädigung.

Ich würde hier sagen, dass zB Schülerpraktika bis zu vier Wochen und bis zu einem Alter von 16 Jahren unbezahlt seien dürfen, da ich einen Gesellschaft Wert in der Orientierungshilfe für junge Menschen sehe, aber alles was darüber hinausgeht, sollte mit dem Mindestlohn (oder mehr) vergütet werden. Egal ob Pflichtpraktikum oder nicht.

Natürlich wird kein Unternehmen Praktika anbieten ohne einen Nutzen davon zu haben, auch wenn dieser ggf. nicht direkt in gesteigertem Profit sondern zB in Mitarbeitergewinnung liegt und deshalb würde ich auch für eine Bezahlung plädieren.

Auf der anderen Seite ist aber auch heute schon niemand verpflichtet, ein unbezahltes Praktikum zu machen und/oder eine Ausbildung zu wählen wo unbezahlte Pflichtpraktika dazugehören. Persönlich habe ich es während meines Studiums immer geschafft, eine Vergütung rauszuhandeln und hätte meine Arbeitskraft sonst auch nicht zur Verfügung gestellt. Für mich eine Frage des Selbstwertgefühls.

Mindestlohn ist relativ hoch angesetzt.
Hier müsste man den Vergleich zur Ausbildungsvergütung stellen - warum soll ein 18-Jähriger Fachoberschulpraktikant einen höheren Gehaltsanspruch haben als ein 18-jähriger Azubi selbst im dritten Lehrjahr bekommt, wo er zweifelsfrei schon viel mitarbeitet?

Ich würde es daher nicht am Alter fest machen, sondern an der Qualifikation. Damit steht der Unterschied zwischen einem Praktikum mit starkem Hospitanz-Anteil und einem Arbeitspraktikum im Vordergrund.

Ein Schüler einer Fachoberschule z.B. muss zahlreiche Praktika in der Schulzeit und vor dem Studium absolvieren (zumindest hier in NRW). In diesen Praktika, gerade in Sozial- und Gesundheitsbereich, kann nur sehr, sehr eingeschränkt aktiv mitgearbeitet werden. Welches Unternehmen und welche Behörde würde solche Praktika anbieten, wenn sie dafür den Mindestlohn zahlen müssten? Absolut keine, weil die Arbeitskraft des Praktikanten und die Kosten in keinem sinnvollen Verhältnis stehen.

Das ist ein ganz schlechtes Argument. Also sollen Leute nicht ihren Traumberuf verfolgen, weil sie dort Pflichtpraktika machen müssen? Praktika sind ein Element der Berufswahl und wer dieses Element zur Ausschlusskriterium erhebt hat seeeeehr merkwürdige Prioritäten.

Das ist sehr abhängig von den Bereichen, in denen du arbeitest.

Ich habe zum Beispiel vor langer Zeit Praktika in der Jugendgerichtshilfe, der Bewährungshilfe (beides vor und während des Studiums als Sozialarbeiter) und am Landgericht Arnsberg (im Jurastudium) gemacht. Viel Spaß, dort eine Bezahlung auszuhandeln. Gerade verpflichtende Behördenpraktika wie im Jura-Studium wirst du nie bezahlt bekommen, auch verpflichtende Praktika für Sozialarbeiter wirst du so gut wie nie bezahlt bekommen.

Das hat dann nichts mit „Selbstwertgefühl“ zu tun, sondern mit den Realitäten der verschiedenen Branchen.

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mich ärgern eure Beiträge, weil sie den (sicher auch zahlenmäßig nicht marginalen) sozialen Bereich ausblenden. So weit ich das überblicke ist jeder Winkel der sozialen Arbeit – teilweise von krassem – Fachkräftemangel betroffen. Dazu kommt die wirklich unübertroffene Systemrelevanz. Gibt es deswegen eine Aufwandsentschädigung? Nein. Haben Praktikant:innen in diesen Jobs deswegen ein geringes Selbstwertgefühl? Nein. Eher ein übersteigertes Mitgefühl mit Menschen.

Bei euren Beiträgen schwingt ein bisschen „der Markt regelt“ und ein bisschen „eigenes Glückes Schmied:in“ mit. Das ist fern der Realität in der viele Leute gern eine wirklich (!) sinnvolle Arbeit machen würden, wenn sie nicht von Anfang an so scheiße bezahlt wäre.

(Seht es mir nach; wenn ich euch falsch verstanden habe, liegt es daran, dass das Problem einfach sehr groß ist : )

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Können wir das etwas spezifizieren?

Mir sind verschiedene Arten von Praktika bekannt.
Zum einen Praktikas für Schüler und/oder Studenten.
Beide sind extrem stressig für die Personen, welche die Praktikanten und Praktikantinnen betreuen, insbesondere wenn die Praktikanten oder Praktikantinnen uninteressiert/faul/unbegabt sind. Andernfalls macht die Betreuung Spaß, kostet das Unternehmen aber dennoch Geld. Das Unternehmen betrachtet das dann als sinnvolle Investition, quasi als Reklame, um Nachwuchs zu gewinnen.
Bei Schülern ist es hier angemessen und gerecht, dass sie kein Geld erhalten.
Studenten erhalten normalerweise bei einem Praktikum, welches eine gewisse Dauer hat, Geld. Früher gab es im Studium Pflichtpraktika, in der IT ist das wohl unüblich. Praktikaten, welche studieren, habe ich die letzten 20 Jahre nicht gesehen, was nicht heißt, dass es sie nicht gibt.

Eine weitere Art Praktikum, die ich kenne, ist eine Art Check und/oder eine Vorbereitung für eine Ausbildung bzw. eine Festanstellung, wenn ein Bewerber oder eine Bewerberin aussichtsreich erscheint, aber mutmaßlich die Voraussetzungen für die Stelle nicht oder noch nicht gegeben sind.
In dem Fall gibt es je nach Grad der Erfüllung der Voraussetzungen entweder den Mindestlohn (es sind in der Regel Erwachsene mit Pech im Lebenslauf, z. Bsp. Flüchtlingshintergrund) oder ein sehr niedriges Einstiegsgehalt. In beiden Fällen ist das eine große Investition für das Unternehmen, welche mit ca. 50 % (n = klein) verloren ist.

Gemäß Personalabteilung ist es nicht erlaubt, Leute für weniger als den Mindestlohn als Praktikant zu beschäftigen. Da ich weder Personaler noch Jurist bin, gehe ich zunächst davon aus, dass diese Leute wissen, was sie tun und sagen.
Somit ist mir nicht klar, wie hier die Wirtschaft legal unbezahlte Praktika durchführen kann.

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Wenn das Praktikum vom Unternehmen ernst genommen wird und zur Ausbildung genutzt wird, ist die Arbeitskraft der Praktikantin/des Praktikanten doch überhaupt gar nicht nützlich. Wenn die Unternehmen in jedem Fall Mindestlohn zahlen müssten würde wahrscheinlich:

  1. Die Zahl der angebotenen Praktika sinken.
  2. Ein falscher Anreiz dafür gesetzt, dass die Praktikantinnen und Praktikanten mehr einfache Hilfstätigkeiten ausüben anstatt wirklich was zu lernen.
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Auf die Frage nach Spezifizierung würde ich gern ein Beispiel anbringen, das m.E. treffend zuspitzt, bis wohin die Rechtslage führen kann (kurzer Disclaimer: ich bin nicht grundsätzlich dafür, dass Pflichtpraktika in jedem Rahmen vergütet sein müssen, insb. in den 8W in meinem Bachelor habe ich tatsächlich viel gelernt und meinen Ableiter viel Zeit gekostet, aber…): Nach noch aktueller Rechtslage müssen Personen in der Ausbildung zum/r Psychotherapeut*in (PiA, =mind. 3-jährige Weiterbildung, die mit dem Staatsexamen/Approbation endet und ein abgeschlossenes Hochschulstudium der Psychologie (oder für KiJu-Bereich: soziale Arbeit o.a.) voraussetzt, also Master/Diplom!) ganze 1800 Stunden Pflichtpraktikum ableisten (1,5 Jahre!).
Zum einen in einer Psychiatrie (1200h, mit inzwischen gesetzlich festgelegtem Mindestlohn von 1000€ brutto/M bei 26h/W, da zusätzlich Theorieeinheiten abzuleisten sind) zum anderen in der psychosomatischen Versorgung (600h, bis zu 0€/h möglich - da eben ein „Pflichtpraktikum“).
Es läuft zwar nun eine Reform der PsychThAusbGes., die u.a. den prekären Sozialrechtlichen Status beheben soll (abgeschlossenes Hochschulstudium, aber keine tarifähnliche Vergütung; nicht mehr Studierend, daher kein Recht auf Bafög aber die Verpflichtung, sich im letzten Abschnitt (mind. 1,5J) selbst krankenzuversichern). ABER: die Finanzierung ist WIEDER nicht geklärt und aktuell sieht es aus, als würde eine Sicherstellung dessen in der Verantwortungsdiffusion von Krankenkassen, Gesetzgeber und Politik wieder untergehen. Vgl. dazu den Beitrag Gesetz zur Reform der Psychotherapeutenausbildung - Umsetzung?!

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Genau richtig! Der Markt regelt das und Du bist selber für Deine Berufswahl verantwortlich!

Das wollte ich auch gerade schreiben. Da die Firmen ja nicht gezwungen werden können, Praktikanten anzunehmen, wird es massiv weniger Praktikantenstellen geben.

Ist also auch nicht besser.

Der Markt regelt weder Pflege noch Bildung noch Gesundheitsversorgung.

Daher sieht es da auch übel aus.

Wenn die Pädiatrie unterbesetzt ist und Kinder gesundheitlich Schaden nehmen ist das keine Regulierung sondern Systemversagen.

Wenn wir nicht genügend Lehrkräfte haben weil sie nicht ausgebildet wurden , dann regelt das kein Markt. Vielleicht kann ich Seiteneinsteiger gewinnen , aber das überwindet nicht den Mangel an Kompetenz.

Den Markt interessiert das nicht .

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