Umgang der BRD mit der Verherrlichung russischer Gräueltaten

Problematisch am Urteil des OVG finde ich genau deshalb, dass Flaggen der UdSSR mit denen der Russischen Förderation gleichgestellt wurden. Ich weiß schon, dass diese für viele Menschen aus der Ex-Sowjetunion und Ex-Warschauer-Pakt-Staaten im wahrsten Sinne des Wortes ein „rotes Tuch“ ist, aber dennoch: ausgerechnet am 9. Mai in Berlin?

Historisch gesehen gäbe es ja keinen Grund, mit einer weiß-blau-roten Flagge den Sieg von 1945 zu feiern - das hätte das Gericht also nachvollziehbar als Identifikation mit der aktuellen Instrumentalisierung des „Großen Vaterländischen Krieges“ durch das Putin-Regime interpretieren können.

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Das ist durchaus eine berechtigte Kritik am Urteil. Solche Urteile werden genau mit solchen Argumenten in juristischen Fachpublikationen regelmäßig kritisiert. Richter sind letztlich auch nur Menschen und bei all den Entscheidungen und Abwägungen, die sie in so einem Verfahren fällen müssen, wird es immer auch Raum für Kritik geben.

Daher stimme ich dir zu, dass man durchaus sagen kann, dass das Verbot von UdSSR-Flaggen und St. Georgs-Bändern zu weit geht. Die Gegenargumentation würde jedoch darauf verweisen, dass gerade das St. Georgs-Band (und auch UdSSR-Flaggen) als Erkennungszeichen von Unterstützern des russischen Angriffskrieges benutzt wurden und deshalb in vielen postsowjetischen Ländern verboten sind, wie bei uns die Reichskriegsflagge als Ersatzsymbol der Hakenkreuzflagge.

Anders ausgedrückt: Es geht hier ähnlich wie bei der Reichskriegsflagge (von 1892 bis 1921 verwendet, daher eindeutig kein direkter Nazi-Bezug) darum, dass der historische Kontext und die konkrete Verwendung (als Ersatzsymbol für ein verbotenes Zeichen) auseinanderfallen.

Ob man jedem, der am 08/09 Mai mit einer UdSSR-Flagge demonstrieren will, unterstellen kann, damit eigentlich eine Russland-Flagge zu meinen, kann man natürlich kritisch hinterfragen und dadurch zu einer anderen Bewertung kommen.

Was ich damit verdeutlichen will, ist nur, dass die Argumentation des OVG, auch UdSSR-Flaggen und St.Georgs-Bänder nicht zuzulassen, zumindest vertretbar ist. Man kann mit diesem Urteil unzufrieden sein, weil man sich andere Abwägungen gewünscht hat, aber es ist kein Fehlurteil.

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Grundsätzliche Zustimmung. Ich würde nur nochmal stärker zwischen Sowjet-Flagge und St.-Georgs-Band unetrscheiden. Letzteres wurde in und von der Russischen Föderation schon seit 2014 massiv als Zeichen für die Unterstützung der sogenannten „Separatisten“ im Donbass eingesetzt und hat somit eine klare Umkodierung erfahren. Das gilt für die Flagge der UdSSR so m. E. nicht.
(anekdotische Ausnahmen bestätigen die Regel: Ich habe in Israel am 9. Mai mal einen Veteranen gesehen, der die Uniform der Roten Armee trug, dazu das St.-Georgs-Band und eine ukrainische Flagge).
Und ich würde auch tatsächlich zwischen dem 8. und dem 9. Mai unterscheiden - das Datum ist in diesem erinnerungspolitischen Kontext alles andere als beliebig.

Ja.

Bei diesen Menschen handelt es sich um Besatzer die in ihrer Vergangenheit aktiv daran gearbeitet haben die Lettische Sprache, die Lettische Bevölkerung zu vernichten:

[Die] Maßnahmen der sowjetischen Zentralregierung [drohten] die lettische Bevölkerung zur Minderheit in ihrem eigenen Land zu machen. Der bereits erwähnten ersten großen Welle der Massendeportation im Jahr 1941 folgten zwei noch größere im Jahre 1945 und im März 1949.

Betroffen waren überwiegend lettische Bauern, mehrheitlich Frauen und Kinder, die in diverse Gebiete Sibiriens zwangsumgesiedelt wurden. Neueren Berechnungen zufolge wurden in den Jahren 1940 bis 1953 etwa 140.000 bis 190.000 lettische Staatsbürger von der Sowjetmacht deportiert oder inhaftiert.[21] Bürger aus anderen Regionen der UdSSR wanderten dagegen in Lettland ein und übernahmen dort führende Positionen.

(…)

Wer die sklavenähnlichen Arbeitsbedingungen in Sibirien überlebte, durfte erst nach Stalins Tod im Jahr 1956 zurückkehren.[23] Es war jedoch verboten, über das geschehene Unrecht zu reden, so dass die Aufarbeitung erst im Zuge der politischen Veränderungen ab 1987 erfolgen konnte.

(…)

Die Landwirtschaft wurde kollektiviert. Die lettische Industrie wurde verstaatlicht und in Kombinaten organisiert. (…) Die forcierte Industrialisierung diente auch der Russifizierung.

1935 lebten in Lettland 77 % Letten, 8,8 % Russen, etwa 5 % Juden, etwa 4 % Deutsche, 2,5 % Polen, 1,4 % Weißrussen und 0,1 % Ukrainer.

Dagegen 1989 waren es nur noch 52 % Letten, aber 34 % Russen, 4,5 % Weißrussen, 3,5 % Ukrainer, 2,3 % Polen und 1,3 % Litauer.
[Geschichte Lettlands]

Das ist jetzt wieder die Diskussion, inwiefern der Zweck die Mittel rechtfertigt.

Dazu schrieb ich ja schon häufig - auch wenn das ein unpopulärer Standpunk zu sein scheint - dass die Zweck-Mittel-Relation sehr stark von der Stabilität des jeweiligen Systems abhängt.

Daher: In einem stabilen Land wie Deutschland verstoßen manche Dinge klar gegen die Zweck-Mittel-Relation, die in einer instabileren Situation (z.B. Ukraine seit der Annexion der Krim, Baltikum im Hinblick auf die Bedrohung durch Russland, Südkorea im Hinblick auf die Bedrohung durch Nordkorea, Israel im Hinblick auf den Terrorismus) unter Umständen noch als Verhältnismäßig angesehen würden.

Recht ist immer ein Stück weit relativ, so sehr wir uns auch wünschen würden, dass es mehr „universelle“ Rechte gäbe.

In diesem Kontext werfe ich es den baltischen Staaten oder der Ukraine nicht vor, wenn sie versuchen, jeden russischen Einfluss zurück zu drängen, während das in Deutschland hochgradig problematisch wäre. Denn: Unser Staat ist stark genug, sich mit russischer Einflussnahme auseinander zu setzen, ohne, dass er dadurch maßgeblich in seiner Existenz gefährdet wird. Im Baltikum oder in der Ukraine ist durch russische Einflussnahme jedoch eine ganz konkrete Gefährdung der staatlichen Existenz zumindest denkbar, sodass hier mehr Mittel verhältnismäßig sind, um dies zu verhindern, als bei uns.

Kurzum:
Ich kritisiere die Letten im Hinblick auf ihre individuelle Situation nicht für ihre harte Linie gegen die russischstämmige Bevölkerung (wenngleich ich hinterfragen würde, ob das zum richtigen Ziel führt, aber das ist eine andere Diskussion), aber ich halte derartige Maßnahmen in Deutschland für nicht rechtstaatlich vertretbar, weil sie unverhältnismäßig wären.

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Eine heute 75-Jährige, die irgendwann in der Zeit der Sowjetunion mal innnerhalb eines Staates umgezogen ist (sagen wir mal von Nowgorod nach Riga), die ihr Leben lang nur Russisch gesprochen hat und nun mit über 70 keine Fremdsprache mehr lernen kann oder will ist für Dich also eine „Besatzerin, die aktiv daran gearbeitet hat, die lettische Bevölkerung zu vernichten“ - da sag ich nur: Don’t feed the troll!

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Ja. Wenn sie zu Sowjetzeiten nach Riga umgezogen „wurde“ hatte ja genug Zeit Lettisch zu lernen.

Aus dem verlinkten TAZ Artikel, ein paar Zeilen weiter oben:

Russisch spricht auch eine Mitarbeiterin am Stand, die hinter einer Scheibe Teig für einen Strudel vorbereitet. Sie sei Russin, erzählt die Frau und noch zu Sowjetzeiten nach Lettland gekommen. Ihr Mann, ihre Kinder und Enkel hätten alle lettische Pässe. Sie hingegen sei laut Ausweisdokument „Nichtbürgerin“, habe jedoch eine ständige Aufenthaltsberechtigung.

Die lettische Sprache beherrsche sie kaum. Sich einbürgern zu lassen, habe sie daher nie versucht. „Mich dieser Prozedur zu unterziehen, das ist für mich erniedrigend“, sagt sie. Dann ballt sie ihre Faust, reckt sie in die Höhe und fügt lachend hinzu: „Hier in meiner Ecke weht noch ein echter russischer Geist.“

Ich vermisste dabei ein wenig die Binnendifferenzierung.

Ja, die Menschen hatten genug Zeit, lettisch zu lernen. Aber in manchen Fällen war das schlicht nicht nötig - und Menschen sind grundsätzlich erst mal faul, sodass Dinge, die nicht als nötig empfunden werden und anstrengend sind (z.B. lettisch lernen, wenn man in einer russischen Community in Lettland wohnt) gerne mal auf die lange Bank geschoben werden. Das ist verständlich und ich würde den Menschen dabei keinen bösen Willen unterstellen.

Natürlich ist es wünschenswert, dass jeder Bürger eines Landes die Landessprache spricht - das gilt für alle Länder ziemlich uneingeschränkt. Aber direkt jeden auszuweisen, der das aktuell nicht leisten kann und vielleicht altersbedingt auch nicht mehr leisten will (also 60-jährige jetzt noch in verpflichtende Sprachkurse zu stecken erscheint mir fragwürdig…) hielte ich dann doch für übertrieben.

Daher:
Generell habe ich Verständnis dafür, dass Lettland von der russischen Minderheit offensiv einfordert, Lettisch zu lernen. Aber bevor es zu harten Maßnahmen wie Ausweisungen kommt, muss eine Einzelfallprüfung erfolgen. Grundsätzlich würde ich sagen: Desto jünger der Mensch, desto stärker ist die Pflicht, die Landessprache zu lernen. Zumal die Gefahr russischer Einflussnahme ja auch vor allem bei Männern in wehrfähigem Alter besonders groß ist. Ob der 70-jährige jetzt Lettisch spricht ist da eher nebensächlich, gleiches gilt für 70-jährige Türken in Deutschland und die deutsche Sprache…

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Danke dafür, dass es Dir - anders als mir - gelungen ist, sachlich darauf zu antworten.

In dieser Altersgruppe gibt nun mal den höchsten Anteil an „Nicht-Staatsangehörigen“. Zudem diskriminiert das geplante Gesetz explizit nach „ethnischer Zugehörigkeit“ . So verständlich das Anliegen zumindest einer basalen Beherrschung der Landessprache ist, so skandalös ist m. E. der Umgang Lettlands mit dieser Gruppe, die etwa der UNHCR als Staatenlose ansieht.

Ein derartiges Vorgehen als leuchtendes Beispiel anzuführen - ausgerechnet in Deutschland, das nun gerade sehr „besondere“ Erfahrungen mit seiner spezifischen Auslegung des ius sanguinis hat, finde ich etwas geschmacklos. Aber scheinbar gibt es ja bei einigen die Tendenz, mit der als Solidarität mit Ukrainer:innen verkauften Ablehnung alles Russischen gleich die deutsche Vergangenheit mit zu entsorgen.

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Danke dir für die Erklärung. Es ist immer klasse, solche Begründungen und Hintergrundinfos zu bekommen.

Ist das tatsächlich so? Zu Schüler- und Studentenzeiten sind min. 1-mal jährlich Neonazis in meiner Straße vorbeigelaufen (Trauermarsch in Gedenken an die Opfer von Flächen-Bombardierungen der Stadt im zweiten Weltkrieg). Ich stand mehr als einmal demonstrierend in Sichtweite und bin denen auch nach der Demo teils über den Weg gelaufen.

Weder Fahnen noch „uniformierte“ Bekleidung (fast alle schwarze Kleidung) fand ich jemals bedrohend. Bedrohend war, wenn überhaupt, wenn die Polizei Lücken gelassen hat und mal jemand aus der Demo in unsere Richtung ausgebrochen ist. Mir fällt es daher schwer, das Einschüchterungspotenzial nachzuvollziehen, zumal auch Kriegs-Flüchtlinge in der Lage sein sollten zwischen einem mordenden Regime und einem historischen Gedenken zu unterscheiden.

Was machen wir, wenn Palästinenser sich von Israel-Flaggen eingeschüchtert fühlen oder Taiwanesen von Chinesen oder (nicht ganz ernst gemeint) Autofahrer von Flaggen der Letzten Generation?

Und lässt sich ein solches Verbot nicht einfach umgehen, indem man sich auf eine andere Flagge commited? Dann nehmen sie halt die Flagge der Niederlande (gleiche Farben, andere Anordnung). Dem empfindlichen Mitmenschen wird doch trotzdem vermutlich flau im Magen, oder?

Das Konzept einzelne, normalerweise nicht verbotene, Erkennungszeichen zu verbieten, nur damit sich andere Menschen nicht getriggert fühlen, leuchtet mir beim besten Willen nicht ein.

Aber vielleicht bin ich dafür nicht empathisch genug.

Ein durchaus übliches Vorgehen in diesem Fall - zumindest der Berliner Polizei - ist es, Demonstrant:innen ihre Israelflaggen aus der Hand zu reißen und diese als „Provokation“ zu bezeichnen. Absolut unterträglich, aber zumindest fahren die eine konsequente Linie :wink:

Grundsätzlich kann man natürlich nicht nur auf das subjektive Empfinden abstellen, ob sich jemand konkret eingeschüchtert fühlt, sondern muss es zumindest so weit objektivieren, dass die Frage ist, ob eine Gruppe von Menschen sich in nachvollziehbarer Weise von einem als Aggressor empfundenen verhalten bedroht fühlen kann.

Das ist bei Israel-Flaggen und China-Flaggen in Deutschland definitiv nicht der Fall, da die Zahl der pro-israelischen Übergriffe auf z.B. Palästinenser oder chinesischen Übergriffe auf Taiwanesen in Deutschland doch sehr niedrig sein dürfte. Gleiches gilt für die Letzte Generation, hier ist einfach klar, dass zwar die Mittel der Blockade nicht von jedem gutgeheißen werden, aber andererseits definitiv keine Gewalttätigkeit gegen Autofahrer im engeren Sinne zu erwarten ist (also Aktivisten werden nicht plötzlich Autofahrer aus ihren Autos ziehen und verprügeln…). Übergriffe von Russen auf Ukrainer in Deutschland gibt es hingegen leider durchaus.

Außerdem wird die deutsche Justiz in solchen Fällen immer auch den historischen Kontext berücksichtigen, der alleine schon das Verbot von Israel-Flaggen sehr problematisch macht.

Aber wie gesagt, es sind immer komplexe Abwägungen und im Einzelfall wäre es auch denkbar, zu dem Ergebnis zu kommen, dass bei einer bestimmten Demonstration Israel-Flaggen zu untersagen (z.B. bei einer Gegendemonstration gegen eine Gedenkveranstaltung für getötete palästinensische Zivilisten in einer Moschee, wenn ein international als völkerrechtswidrig angesehener Militäreinsatz dem vorausging, weil in diesem Falle die Israel-Flagge auch nachvollziehbar als Billigung dieses völkerrechtswidrigen Angriffs gedeutet werden könnte und ihre Verwendung bei der Demonstration daher eine reine Provokation wäre). Aber hier müssten halt schon sehr spezifische Dinge zusammen kommen…

Es geht hier primär um die öffentliche Ordnung. Die Befürchtung ist, dass Flaggen ähnlich wie Uniformierungen dazu beitragen, dass sich Gewalttäter bestätigt fühlen könnten und die Situation eskaliert. Uniformierungen und Flaggenmeere haben eben eine psychologische Wirkung auf Menschen.

Deshalb ist es auch relevant, warum die Flaggen geführt werden - ob aus der Position des Aggressors oder aus der Position des Opfers (wie bei ukrainischen Flaggen, die vor allem auf den Krieg aufmerksam machen wollen). Bei ersterem ist das Eskalationspotential einfach deutlich höher.

Okay, got it. Das Konzept erscheint mir zwar trotzdem als ziemlich anfällig für Doppelmoral und Willkür, aber die Erklärung ist nachvollziehbar.

Danke.

Heute in Aachen, während der Verleihung des Karlspreises: Etwa 300 Menschen gingen begleitet von Trommeln in einem prorussischen Demonstrationszug mit.