Das ist das große Problem dabei - neben den ethisch-moralischen Bedenken.
Selbstverständlich wird Russland diese Beispiele aufgreifen, um seiner Bevölkerung zu „beweisen“, dass Russen in der Ukraine unterdrückt würden.
Das Problem, dass die Ukraine es nach dem Fall der Sowjetunion nicht geschafft hat, die russischsprachigen Bevölkerungsteile richtig zu integrieren und nach dem Euromaidan verstärkt versucht hat, eine stärkere ukrainische Nationalbewegung zu fördern und dazu die Russifizierung aus der Sowjet-Zeit so weit wie möglich zurückzudrängen, ist natürlich die Basis für die russische Propaganda. Und wie Propaganda halt so ist, werden solche - in der Tat bedenklichen - Handlungen der Ukraine dann zum Genozid hochstilisiert. Jede Propaganda, jede Lüge, selbst jeder Verschwörungsmythos braucht halt einen minimalen wahren Kern, um Glaubwürdigkeit zu erzeugen.
Auf der anderen Seite muss man halt die Ukraine verstehen, die wiederum um ihre Existenz kämpft und durch den russischen Angriffskrieg quasi gezwungen wird, das eigene Volk gegen Russland aufzustacheln und entsprechend jede Ausbreitung der russischen Kultur in der Ukraine als Problem wahrnimmt. Es herrscht halt Krieg, so wenig man das auch wahrhaben möchte.
Diese Zustände sind absolut traurig und auch für die Menschenrechte in der Ukraine natürlich eine Katastrophe, eben weil die Ukraine - nachvollziehbar - aktuell jeden Menschen, der russischer Herkunft ist oder sich der russischen Kultur nahe fühlt, mit maximalem Misstrauen beäugt (oder, um es mit Melnyk zu sagen: „Alle Russen sind im Moment unsere Feinde“ - eine Aussage, von der er sich leider auch im Interview beim Zeit-Podcast „Das Politikteil“ nicht distanzieren wollte. Übrigens ein sehr empfehlenswertes Interview, hier verlinkt).
Staaten neigen leider zu solchen Handlungen - siehe z.B. die Internierung der japanisch-stämmigen Bevölkerung in den USA nach Pearl Harbor. Kurzum: Es geht auch noch deutlich schlimmer… ich hoffe, dass es in der Ukraine nicht auch so endet.
Die Frage, die sich die Ukraine sicherlich auch stellt, ist halt:
Welches Vorgehen hat die größeren negativen Auswirkungen? Russische Kultur scharf verbieten, weil diese als Propaganda für Russland wahrgenommen wird und entsprechende Auswirkungen haben könnte - oder sie halt nicht verbieten. Aus unserem rechtstaatlich-menschenrechtlichen Blickwinkel lautet die Antwort vermutlich, dass ein Verbot schädlich ist - aus dem Blickwinkel einer konkret betroffenen Kriegspartei sieht das vermutlich anders aus.
Wie so oft in diesem Krieg gilt halt, wie Brecht schon sagte: „Erst kommt das Fressen, dann die Moral“. Dinge wie Rechtstaatlichkeit und Menschenrechte sind „nice-to-have“, aber wenn man am Abgrund steht und die eigene Existenz gefährdet ist, wird das Abwenden einer konkreten, diesbezüglichen Gefahr halt höher eingeschätzt.
Wie ich schon öfter zu ganz anderen Themen (z.B. auch zum realexistierenden Sozialismus) gesagt habe: Desto kritischer die Situation für ein Land wird, desto mehr gehen Menschenrechte und Rechtstaatlichkeit verloren. Das war immer so, auch in Deutschland (Notstandgesetze '68), den USA (Internierung der Japaner, McCarthy-Ära-Antikommunismus) und anderen Demokratien. Und die Ukraine kämpft halt gerade um ihre Existenz - zu erwarten, dass sie ideologische Aspekte über ihre konkrete Existenz stellt, ist einfach unrealistisch.