Ukraine-Krieg: aktuelle Entwicklungen, Szenarien seines Endes und seiner Folgen

Klar sollten wir uns eigene Gedanken machen, was wir tun sollten. Und das kann natürlich abweichen von dem, was die Ukraine sich wünscht (z.B. haben wir zurecht keine Flugverbotszone errichtet).

Das ist aber etwas anderes, als sich hinzustellen und von außen Kraft seiner Wassersuppe auf Basis von Spekulationen über die Zukunft zu erklären, was der „richtige Weg“ wäre.

Letzteres ist einfach Anmaßung und Paternalismus.

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Es stimmt, dass es relativ schwierig ist, herauszufinden, was die Bevölkerung der Krim wirklich will, weil freie Meinungsäußerung auch dort schwierig ist. Es gibt allerding einige freie Meinungsforschungsinstitute, die sich damit beschäftigt haben [1], [2] und das Ergebnis deutete in Richtung einer Zustimmung zur Angliederung an Russland.

Natürlich haben wir damit keinen Beweis dafür, dass die meisten Menschen auf der Krim mehrheitlich die russische Besatzung gutheißen. Allerdings deutet für mich derzeit mehr in diese Richtung als in die andere. Und dass es dort einen „großen Teil russlandtreuer Bevölkerung“ gibt, wie ich es formuliert habe, halte ich daher für keine gewagte These.

Bei den nachfolgenden Nachfragen bin ich nicht ganz sicher, ob wir uns missverstanden haben, aber ich beantworte sie trotzdem mal:

Ein Kompromiss zum Status der Krim wäre nicht fair, weil die Krim rechtmäßig zur Ukraine gehört. Selbst der Statuswechsel von „durch Russland besetzt“ zu „Unabhängig und nicht mehr besetzt“ wäre daher ein Verlust für die Ukraine relativ zu ihrem völkerrechtlichen Anspruch und damit unfair.

Selbe Argumentation wie oben. „Fair“ wäre nur, wenn die Krim wieder vollständig Teil der Ukraine würde.

Ich habe ja in meinem vorherigen Beitrag ein Beispiel ausgeführt, dass genau das erläutern soll.

Sorry, aber nichts anderes machen wir alle hier in diesem Thread. Wenn damit gemeint ist, dass ich nicht die notwendige Kompetenz habe, sowas belastbar herzuleiten – geschenkt. Deshalb schreibe ich das auch nicht als Forderung in eine Petition, sondern stelle es als Meinung zur Diskussion in dieses Forum.

[1]

[2]

Wie die Krim-Bewohner nach der Annexion die Welt sehen.

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Thomas Wiegold hat kürzlich ein ganz interessantes Interview bei Jung & Naiv gegeben. Darin sagt er schon auch, dass weiterhin „Back Channels“ existieren, also zumindest zwischen den USA und Russland. War generell ganz spannend zu hören, dass es selbst in Kriegszeiten noch Kommunikation gibt, wozu die dient usw. Über die Ukraine hat er konkret nichts gesagt, vermutlich wird es auch da eine sehr eingeschränkte Kommunikation geben.

Dass es im Moment keine sinnvolle Basis für Verhandlungen gibt, muss man hier glaube ich nicht noch einmal ausführen, das haben wir reichlich erörtert.

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Alleine die Tatsache dass es immer wieder einen Austausch von Gefangenen gibt zeigt, dass es eine Kommunikation gibt.

Dieser Waffenstillstand ist dann nichts anderes wie die derzeitige Situation einzufrieren. Wenn dann die Verhandlungen nichts bringen (davon gehe ich aus da Putin eine nicht zu akzeptierende Maximalposition einnimmt) geht es später gerade so weiter.

Danke @MarkusS, ich kann hier noch weitere Zahlen hinzuwerfen. Es ist Fakt, dass sehr viele Menschen (die Umfragen deuten auf eine große Mehrheit hin) auf der Krim die russische Annexion 2014 begrüßt haben.

Die englische Wikipedia widmet den verschiedenen Umfragen vor (ab 2008), während und nach (2019) der Annexion und dem Referendum auf der Krim einen langen Abschnitt:

Das rechtfertigt zwar keineswegs die Annexion. Trotzdem, die Verhältnisse zurück zu drehen, schadet eher den Menschen, die auf der Krim leben und nicht den Russen.

Ulrich Wickert, ehemaliger Tagesschau Anchorman und für gewöhnlich sehr gut aus Hintergrundgesprächen informiert, sprach kürzlich in einer Talkshow der ARD (Maischberger) davon, dass die westlichen Verbündeten der Ukraine Selensky in der Krim-Frage misstrauten. Man habe in den Regierungen Sorge, dass umfangreiche Waffenlieferungen dazu führten, dass Selensky versuche die Krim zurück zu erobern. Das erkenne man als rote Linie für Putin-Russland an.

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Ich denke Kiew hat bereits gezeigt, dass sie in der Lage sind die Situation ständig zu bewerten und zu neuen Positionen zu kommen. Wie eben im März 2022 als man die Neutralität und Kompromissbereitschaft bezgl der Separatistengebiete gezeigt hat 2022

Momentan gibt es kein Verhandlungsfenster, deshalb besteht Kiew auf der maximalen Forderung (kompletter russischer Rückzug). Das kann sich je nach Verlauf wieder ändern. Deshalb bleiben das - wie Du es auch beschreibst - Szenarien und Spekulationen.

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Das ist wohl ein schlechter Scherz? Es gibt keine Experten für Außen- und Verteidigungspolitik? Nein, natürlich hat es genau diese Situation noch nie gegeben, aber das ist auch nicht nötig, um relevante Expertise dafür zu haben.

Dass Schwarzer und Wagenknecht et al diese nicht haben, ist evident, bedeutet aber nicht, dass die Leute, die die beiden kritisieren, es auch nicht besser wissen. (Zufällig scheinen die sich alle schon etwas tiefer in der Materie zu befinden.)

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Expertise sicher, aber abhängig von Prämissen, die wiederum unklar sind. Wenn wir genau wüssten, was die Ukraine braucht um Russland zu vertreiben und genau wüssten, wie Russland auf eine Vertreibung reagiert, würden wir ja entsprechend handeln.
Offenbar sind beide Fragen also eben nicht einfach zu beantworten. Daher sind verschiedene Argumentationen und Konsequenzen grundsätzlich denkbar und dürfen diskutiert werden, was ja auch passiert. Man kann sich dann über die eine oder andere Position lustig machen, darf dann aber nicht überrascht sein, wenn man sich auch unbeliebt macht bzw. die empfundene (falsche) Überlegenheit als Arroganz herausgestellt wird.

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Wenn ein irrationaler Akteur Atomwaffen einsetzen will (und in der Lage ist, dies auch intern durchzusetzen), dann wird er dies tun und Abermillionen Menschen rund um den Erdball werden sterben. Das war zu Zeiten der Kubakrise so, das ist heute so und dies wird auch so bleiben, solange es diese Waffen gibt. Für das Gegenüber des ‚Irrationalen‘ ist es nämlich rational, nicht zurückzuweichen. Denn sonst wäre das vermeintlich irrationale, offensive Ausspielen des atomaren Drohpotentials ja von Erfolg gekrönt. Und damit hätte sich das irrationale Vorgehen in ein rationales Vorgehen verwandelt, von dem ein hinreichend risikobereiter Akteur erwarten kann, seine Ziele zu erreichen.

Folglich ist die einzig sinnvolle Art, auf die atomaren Drohgebärden Russlands zu reagieren, eben das Schulterzucken von Ulf und Philip. Denn wenn Putin tatsächlich Willens und in der Lage ist, zur Durchsetzung seiner Eroberungspläne einen NATO-Staat mit Atomwaffen anzugreifen, wenn sich die Lage auf dem Schlachtfeld nur schlecht genug für ihn entwickelt, dann sind wir alle (zumindest viele) schon tot. Das ist dann halt so.

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Da stimme ich zu. Ich würde trotzdem sagen, dass die Ukraine naturgemäß eine andere Einstellung und damit auch andere Interessen bzgl. der Rückeroberung der Krim hat, als (viele Mitglieder der) NATO. So wie es vermutlich jedes Land hätte, das in eine ähnliche Situation geraten wäre.

Auch das stimmt. Aber aus meiner Sicht ist es trotzdem unabdingbar, eine Strategie auch vom Ende her zu denken. Wenn hier postuliert wird, dass der Krieg nur enden kann, wenn die Grenzen von 2014 wieder hergestellt werden, dann muss man sich schon Gedanken darüber machen, wie das bewerkstelligt werden soll.

Und sollte an einem solchen Szenario

auch nur ansatzweise etwas dran sein, dann macht es dringend Sinn, sich mit dem Szenario Krim-Rückeroberung HEUTE schon zu beschäftigen. Schließlich wäre es fatal, wenn wegen sowas die Ukraine die notwendigen Waffen, die sie aktuell dringend zur Befreiung ihres Territoriums benötigt, nicht oder nicht schnell genug bekommt.

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Wer sagt denn, dass man sich mit dem Thema nicht schon HEUTE beschäftigt? Ich denke es gibt da zwei Szenarien im Falle einer positiven Entwicklung für die Ukraine: 1) Rückeroberung und Wiederherstellung der souveränen Grenzen, 2) Krim als Verhandlungsmasse im Falle, dass es einen Kompromiss braucht (“Friedensverhandlungen”).

Beides wird von den Entscheidungsträgern sicherlich nicht offen debattiert. Die Rolle von Deutschland in dem Ganzen benötigt eine separate Debatte. Deutschland führt da nicht von vorne sondern läuft hinterher.

Ich habe hier auf den in diesem Thread häufig genannten Hinweis reagiert, dass es sich lediglich um Szenarien und Spekulationen handelt. Ich wollte damit ausdrücken, dass es trotzdem sinnvoll ist, sich damit zu beschäftigen.

Diese beiden Szenarien habe ich ja ebenfalls genannt und beschrieben, welche Probleme ich bei Szenario 1 sehe. Bei Szenario 2 ist wiederum extrem unwahrscheinlich, dass Russland sich auf die Wiederherstellung des Zustands vor 2014 einlässt. Wie könnte man Moskau dazu bewegen, außer durch die Aufhebung der Sanktionen? Was ich mir maximal vorstellen könnte ist ein irgendwie gearteter politischer Sonderstatus der Krim.
Wenn ich die Wiederherstellung der Grenzen von 2014 zur Bedingung für die Beendigung des Konfliktes mache, ist daher m.E. die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass dies die militärische Rückeroberung der Halbinsel erfordert.

Freilich haben bereits 2014 einschlägige Wissenschaftler:innen mit Ukraine-Expertise (z.B. Timothy Snyder) davor gewarnt, den durch den Kreml gepushten Narrativen von der rechten Unterwanderung des Euromaidan und der Ost/West-Spaltung der Ukraine allzu sehr auf den Leim zu gehen. Stattdessen haben sie dazu aufgerufen, die zivilgesellschaftlichen Proteste zu unterstützen und insbesondere die Integration der verschiedenen Landesteile der Ukraine zu betreiben. Auch die Warnungen vor den Gefahren eines imperalistischen Ethnonationalismus Russlands waren ziemlich akkurat.

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Da irgendwo im Forum zu diesem Thema mal „False Balance“ als Argument angeführt wurde, möchte ich gerne darauf hinweisen, dass es auch bezüglich der Prognosen über ein wahrscheinliches Kriegsende nicht DIE Wissenschaft gibt, sondern eher eine ziemliche Bandbreite unterschiedlicher Einschätzungen. Die Zeitschrift Foreign Affairs hat verschiedene Expert:innen die Aussage

Das wahrscheinlichste Ergebnis des Krieges in der Ukraine ist eine Verhandlungslösung, bei der Kiew einige territoriale Zugeständnisse an Russland macht.

kommentieren lassen. Eine grafische Übersicht der Antworten zeigt, wie breit das Meinungsspektrum hier ist. Ich bin nicht in der Lage, diese Meinungen alle einzuschätzen, aber so simpel wie die Konstellation Vad/Varwick vs. Major/Masala/Möller etc. scheint es nicht zu sein:

Ähnliches gilt m. E. für Einschätzungen des Risikos einer nuklearen Eskalation durch Russland. Während einige (ich erinnere mich etwa an Timothy Snyder) sich sehr sicher sind, dass ein Atomwaffeneisatz quasi ausgeschlossen ist, weil nur die Angst davor Russland nutzt, nicht aber der Einsatz selbst, warnen andere, wie Michael Kofman oder Frank Sauer davor, das Ganze auf einen Bluff zu reduzieren und empfehlen, das reale Risiko nicht außer acht zu lassen.

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Wobei man sich fragen muss, ob solche Annahmen nicht auf den selben falschen Überlegungen fußen, die auch bei vielen im Westen dazu geführt haben, dass man die Ukraine am Anfang des Krieges direkt aufgeben wollte.

Den es gibt ja z.B. die Aussicht das die Ukraine in die EU aufgenommen werden könnte, wovon sich vermutliche viele Ukrainer wirtschaftlichen Aufschwung versprechen. Und die Aufnahme in die EU ist sehr viel wahrscheinlicher, wenn das Land es schafft, die territorialen Konflikte mit Russland zu beenden, also z.B. die Krim und den Donbass komplett zurück zu erobern.

Ich komme nicht ganz mit. Worauf beziehst du dich mit „solche Annahmen“ [ich hatte erst irrtümlich „solche Einstellungen“ geschrieben]? In meinen Post ging es ja explizit um die Bandbreite unterschiedlicher Einstellungen und konkret um unterschiedliche Einschätzungen zu der zitierten These.

Was die EU angeht, glaube ich traut sich gerade kaum jemand zu sagen, dass auch eine Ukraine, in der es keinerlei bewaffneten Konflikt mehr gibt, in den nächsten 15-20 Jahren nicht EU-Mitglied sein wird. Das geben die Struktur und die innere Verfasstheit der EU sowie die unterschiedlichen Interessen ihrer Mitglieder m. E. nicht her. Und man sollte versuchen, da nicht allzu hohe Erwartungen zu schüren, die dann backfiren können, wie in der Türkei oder auf dem Balkan.

Das Wort „Einstellung“ kommt bei mir nicht direkt vor, daher kann ich jetzt nur mutmaßen, dass du diese Textstelle hier meinst:

Die Annahmen zu Beginn des Ukraine-Krieges bei einigen Beobachtern im Westen war ja, dass Russland im Verhältnis zu seinen eingesetzten Streitkräften auf viel zu wenig Widerstand stoßen würde, weil die Ukrainer u.A. nicht motiviert genug sind. Natürlich haben die Russen wohl auch die Ausrüstung und Organisation unterschätzt, aber ohne genügend Moral in der ukrainischen Armee hätte das auch nichts genützt.

Und ich halte es auch aktuell nicht für ausgeschlossen, dass gerade wir im Westen die Ängste der Ukrainer vor einem russischen Sieg und die daraus resultierende Entschlossenheit der Ukrainer unterschätzen könnten.

Die Russen haben ja in Bachmut gezeigt, dass sie auf besetztem Gebiet zu Gräueltaten fähig sind und ich persönlich glaube, dass das damit zu tun hat, wie erbittert sich die Ukrainer direkt vor Bachmut gewehrt haben. Das hat die Soldaten frustriert und wütend gemacht, und sie haben sie an der Bevölkerung der besetzten Ortschaften gerächt.

Diese Bilder haben sehr wahrscheinlich alle ukrainischen Soldaten vor Augen und es macht für die ukrainische Führung auch absolut Sinn, den Soldaten damit, durchaus zu Recht, ein „Die oder Wir“-Szenario vor Augen zu führen. Daher kann ich mir in der aktuellen Situation sehr gut vorstellen, dass die Ukrainer eben aus berechtigter Angst vor den Russen deutlich entschlossener und länger kämpfen könnten, als wir es aus deutscher Sicht für möglich halten.

Dazu passt eine Umfrage aus der Ukraine, die im NDR-Podcast Strategien und Streitkräfte vor kam und besagte, dass die Ukrainer sich zwar auch vor einem russischem Atomwaffenangriff fürchten, aber dass ihre Angst vor einem konventionellen russischen Sieg noch konkreter ist.

Und wenn man sich z.B. in Afghanistan ansieht, wie die Taliban nach der Rückeroberung gezielt die ehemaligen Polizisten und Armee-Angehörigen jagen, kann man das auch gut nachempfinden:

Ja, ich meinte in der Tat die Textstelle „solche Annahmen“ (inzwischen korrigiert). Ich verstehe leider immer noch nicht, ob bzw. wo sich Deine Antwort auf meinen Post bezieht - aber egal.

Was die Entschlossenheit vieler Ukrainer:innen betrifft, hast Du höchstwahrscheinlich Recht. Nur sagt diese allein noch wenig darüber aus, wie sich der Krieg entwickeln und wie er enden wird. Dazu ist die Ukraine einfach zu sehr von massiver Unterstützung durch die USA und andere abhängig und damit auch davon, wie diese die Lage einschätzen (und auf welche Stimmungen von Wähler:innen z.B. Rücksicht genommen werden).

Die Brutalität der russischen Armee würde ich nicht als „spontanen Frust“ ansehen. Gräueltaten gab es ja schon in den ersten Wochen des Krieges (siehe Butscha). Außerdem ist das eine Art der Kriegsführung, die Russland schon mehrfach angewandt hat, u. a. in Tschetschenien und Syrien.

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Der Autor des Videos schreibt selbst:

Hello, I see a lot of people in the comments making opinion on the whole population of Russian people (140M+ of people), so I’d like to remind you that this video might just have a „lucky“ sampling of people, which might not correspond to reality on the bigger picture.
Some people in the video said hateful comments, it doesn’t mean you should also fall for hatred. Be kind.*

Leider findet man solche Meinungen auch in Deutschland, wenn man lange genug sucht.