Lieber Philip, lieber Ulf,
in meinen Augen sind Eure Ausführungen zur rechtlichen Beurteilung der Situation im Frühherbst 2015 nicht ganz vollständig bzw. etwas einseitig darauf angelegt, den Mythos des Rechtsbruchs zu widerlegen. So sehr ich politisch die Maßnahmen aus 2015 ausdrücklich begrüße, erscheint mir die Frage der Verfassungsmäßigkeit bis heute in der juristischen Diskussion immer noch nicht abschließend geklärt. So eindeutig, wie Ihr es darstellt ist jedenfalls nach meiner Auffassung nicht. Ich habe das Buch von Detjen/Steinbeis mit großem Gewinn gelesen und finde, dass die beiden vor allem eine tolle Dirkursgeschichte liefern, um die harten juristischen Fragen wird sich aber an zumindest einer Stelle etwas „herum gewunden“.
Um das darzulegen, muss man leider juristisch etwas tiefer einsteigen. Verkürzt gesprochen, müssen nach der sog. Wesentlichkeitstheorie Entscheidungen, die von fundamentaler Bedeutung - eben wesentlich - sind, von einem Parlamentsbeschluss gedeckt sein. Jetzt führen selbst Detjen/Steinbeis aus, dass es sich bei der Entscheidung aus 2015 durchaus um eine solche „wesentliche Entscheidung“ gehandelt haben könnte, denn schließlich hat man sich damals dazu entschieden, 900.000 Menschen in Deutschland Flüchtlingsschutz zu gewähren. Nach der aktuellen Situation in Syrien ist nicht davon auszugehen, dass diese Menschen in absehbarer Zeit ihren Flüchtlingsschutz verlieren. Da man aber kaum dauerhaft eine Millionen Menschen mit allen hier geltenden Pflichten (Strafgesetze, Steuerpflichten) in Deutschland leben lassen kann, ohne ihnen mittelfristig auch Repräsentation zu gewähren, ist davon auszugehen, dass viele dieser Menschen - was ich richtig finde (!) - irgendwann deutsche Staatsbürger werden. Hierdurch würde sich dann aber die Zusammensetzung des deutschen Staatsvolkes nicht unerheblich verändern, da relativ gebündelt eine große Anzahl an Menschen „dazu stößt“, die bisher nicht Teil des Staatsvolkes waren. Das ist alles in meinen Augen überhaupt nicht schlimm, sondern das Wesen einer Republik, die eben nicht auf einem biologistischen Volksverständnis fußt. Das verfassungsrechtliche Problem scheint mir nur zu sein, dass diese nicht unerhebliche Veränderung der Volkszusammensetzung die o. g. Wesentlichkeitstheorie aktiviert und es einen Parlamentsbeschluss hinsichtlich der Frage, ob man von dem Selbsteintrittsrecht nach Dublin massenhaft Gebrauch macht, nie gab, sondern diese Entscheidung - soweit ich das überblicke - einzig von der Regierung und den nachgeordneten Verwaltungseinheiten getroffen wurde. Ich habe zu diesem Problem, das ich mir nicht ausgedacht habe, sondern bei Detjen/Steinbeis bereits angedeutet wird, auch auf einer Diskussionsveranstaltung schon einmal Steinbeis gefragt. Selbst Steinbeis hat an dieser Stelle „eingeräumt“, dass diese Gedankenkette durchaus stringent ist und er sie juristisch ad hoc nicht wirklich widerlegen könne.
Abschließend: Ich bin der Letzte, der hier ein flammendes Plädoyer für die „Rechtsbruchtheorie“ halten will. Vielmehr möchte ich nur darlegen, dass es zumindest in sich stringente Argumente gibt, die die Verfassungsmäßigkeit der damaligen Entscheidungen in Zweifel ziehen können. Ich fände es toll, wenn Ihr - um die Frage des Rechtsbruch wirklich umfassend zu behandeln - zu diesem Themenkomplex und dem aufgeworfenen Problem nochmal eine/n Verfassungsrechtsprofessor/in, der/die hierzu viel forscht (z. B. Prof. Thym), befragen könntet.