"Schwarze Null" als Übeltäter bei Impfstoffbestellung? - LdN227

Da ihr in der aktuellen Lage so ein bisschen die Knausermentalität der Schwarzen Null, v.a. durch Deutschland mithilfe seiner Ratspräsidentschaft, als Grund für die suboptimale Impfstofflage in der EU verantwortlich macht, möchte ich dazu ein paar Gedanken beitragen.

Unabhängig wie man zur „Schwarzen Null“ und fiskalpolitischen Austeriätspolitik steht, ich glaube nicht, dass diese Ideologie hier eine große Rolle gespielt hat.

  1. DE hat ja bereits im April eine 180°-Wende vollzogen und ein ich glaube 3x so hohes Haushaltsdefizit verabschiedet als der bisherige Rekord - als der größte Verfechter der Schwarzen Null. Also bereits weit bevor DE die Ratspräsidentschaft im Juli übernommen hat.
  2. Man muss bei der Bestellung glaube ich etwas tiefer in die Zuständigkeiten innerhalb der EU eintauchen. Das Geld kam in diesem Fall direkt von den Mitgliedsstaaten, nicht aus EU-Mitteln. Somit ist die Verantwortlichkeit der Geldmenge primär den Regierungschefs zuzuschreiben. Was man hört, sollen große Vorbehalte gegen den neuartigen mRNA Impfstoff (Europa ist Gentechnikscheu!), den vergleichsweise hohen Preis im Gegensatz zu zb Sputnik oder AstraZeneca (die ärmeren EU-Länder in Osteuropa waren kaum von der 1. Welle betroffen und haben wohl leichtsinnigerweise geglaubt, dass das so bleiben würde und werden allein deshalb kaum zu hohen Extraausgaben für Impfstoffe bereit gewesen sein) und die komplizierte Logistik und Lagerung bei -70° (bei der Infrastruktur in Teilen Ost-/Südosteuropas nachvollziehbar) existiert haben.
  3. Dazu wollte man in Europa wohl unbedingt eine Wiederholung der Schweinegrippe-Impfstoff-Bestellung vermeiden, wo das Umsonst-Bestellt-haben in der Öffentlichkeit nicht gut wegkam.
  4. Außerdem ist in Europa Contagan im kollektiven Gedächtnis (siehe Interview mit J.C. Juncker kürzlich), eine Notfallzulassung und/oder ein Haftungsausschluss der Hersteller wäre also kaum durchsetzbar gewesen im Sommer.

Mit relativ wenig Geld, hohen Ansprüchen bzgl Haftung, Technologie und vlt nationalen Befindlichkeiten (FR mit Sanofi) lässt sich wohl kaum mehr erreichen, als das jetzige Ergebnis. Ich denke, dass hier insgesamt auch die EU zu schlecht wegkommt in der öffentl. Diskussion.

8 „Gefällt mir“

Aus dem Podcast:

„Weil sich die EU dem deutschen Spardiktat gebeugt hat“ (Sascha Lobo)
„Die schwarze Null kostet Leben“

Nachdem die These von Sascha Lobo mehr oder weniger ohne hinterfragen für die nachfolgende Diskussion übernommen wurde - gibt es für die These denn irgendeinen Beleg? Also das sich Frau Merkel als Ratspräsidentin für geringe Ausgaben gegen andere EU-Länder duchgesetzt hätte? Auch befremdet der später folgende Verweis, die EU hätte mehr in den Ausbau von Produktionskapazitäten investieren müssen, nachdem zuvor das aktuelle „Problem“ durch Vergleich der EU mit GB und USA begründet wurde. Haben diese Länder denn massiv in den Ausbau entsprechender Produktionskapazitäten für diverse Impfstoffe investiert und stehen deshalb besser da? Oder ist es doch z.B. der Exportstopp, den man dann konsequenter Weise auch von der EU fordern müsste?

Was bei dem Zahlenspiel zu den Pro-Kopf Ausgaben für Impfungen auch unter den Tisch gefallen ist - das waren ja nicht die einzigen Investitionen zur globalen Bekämpfung der Pandemie. Im Gegenteil - der geforderte Aufbau von Produktionskapazitäten würde ohnehin von diesen Zahlen nicht wiedergespiegelt. So gab es z.B. im Mai eine von der EU-Kommission organisierte Geberkonferenz, auf der 7,4 Mrd. Euro für Covid-19 Forschung eingenommen worden, mit denen ein Impfstoff, Medikamente und Testmaterial global zur Verfügung gestellt werden sollen, um allen Ländern die gleichen Chancen zur Bewältigung des Virus zu geben. Die USA waren freilich nicht dabei.Insgesamt sind über Coronavirus Global Response glaube 15,9 Milliarden Euro zusammengekommen von denen 11,9 Milliarden von den Mitgliedstaaten der Komission und der European Investment Bank stammen.

3 „Gefällt mir“

Prinzipiell ja: Es ist erfreulich, dass ein Konstrukt aus 27 Nationen überhaupt in der Lage ist, gemeinsam Entscheidungen zu treffen und prinzipiell von zB Skalen-Effekten beim Einkauf sowie rechtlicher und gesundheitlicher ABsicherung zu profitieren. Das hilft insbesondere kleineren Staaten.

Welches Argument Du aber meiner Meinung nach noch nicht hinreichend entkräftet hast: Die Wirtschaftlichkeits-Analyse. Die Kosten / Tag Lockdown ins Verhältnis zu einer selbst sehr breit gestreuten Investition je Impfstoff zu setzen, erscheint mir (im wahrsten Sinne des Wortes) opportun zu sein. Sowohl die laufenden Kosten der Einschränkungen sowie Hilfspakete auf er einen Seite als auch die erwartbaren Einkaufskosten je Vakzin auf der anderen Seite waren ja bekannt. Warum das niemand ins Verhältnis gesetzt hat, ist mir recht schleierhaft.

Darüber hinaus scheint auch der Zeitraum ein „Nachteil“ an der EU zu sein. Länder, die nicht (mehr) in einen Staatenbund eingebunden oder sehr klein sind, konnten recht früh Dosen sichern. Beim Prinzip first come, first serve, ist das sehr praktisch. Eine Idee, wie der Prozess der EU hier generell schneller möglich ist, habe ich leider nicht.

2 „Gefällt mir“

Hmm, bei AstraZeneca hatten wir uns bereits Anfang Juni 300 Millionen Dosen gesichert (was heute gerne mal vergessen wird). Haben wir die schon bekommen?

1 „Gefällt mir“

Wie gesagt, ich denke, dass viele vor allem ärmere osteuropäische Staaten (die über den Rat ja ein Vetorecht haben) zu selbstbewusst davon ausgegangen sind, dass sie keine 2. Welle treffen wird und somit auch kein lockdown erforderlich sein würde. Ich kann mich noch gut erinnern wie zb Polen sich im Frühjahr 2020 fast schon überheblich mit Grenzkontrollen nach Deutschland mit dem Verweis auf den deutschen Coronaföderalismus, der die Lage nicht in Griff bekommt, abgeschottet hat.

Das würde jetzt eine ganz neue große Diskussion aufmachen, aber ich denke im Großen und Ganzen hat Corona den westlichen Gesellschaften aufgezeigt, dass sie nur mangelhaft mit naturwissenschaftlichen Herausforderungen umgehen können. Mit Blick auf den Klimawandel lässt das nur hoffen, dass institutionelle und kulturelle Reformen passieren in der Zukunft. Ein System, das primär gesellschaftliche Präferenzen und Werte abwägt (und das auch gut kann) kommt mMn bei naturw. Herausforderungen an seine Grenzen, da diese nicht mit sich verhandeln oder Kompromisse eingehen lassen.

1 „Gefällt mir“

Nun ist es ja so, dass die EU mehr Impfdosen gekauft hat, als für die gesamte EU-Bevölkerung erforderlich wären (ich erinnere auch nochmal an die 300 Millionen Dosen die wir uns bereits Anfang Juni bei AstraZeneca gesichert hatten - von wegen „first come first serve“ …). Die Frage ist halt, wann/ob die verfügbar sind. Und wie groß der Effekt für diesen Winter wäre, wenn man ein paar Prozent mehr impfen könnte? Das ist wohl auch nur sehr schwer in Lockdown-Tage umzurechnen. Da hier auch Psychologie reinspielt, könnte eine Impfung kurzfristig sogar gegenteilige Effekte haben (z.B. wenn nach Imfung aller 80+ die Bereitchaft zur Vermeidung von Kontakten sinkt und ein Lockdown deshalb zu früh gelockert wird). Bisher sind GB und Israel meines Wissens jedenfalls noch im Lockdown-Modus, auch wenn sich Lockerungen abzeichnen (wird bei uns aber auch nicht mehr so lange dauern). Einen wirklich greifbaren Unterschied wird man vermutlich erst zu Beginn des nächten Winters ausmachen können. Wenn dann in der EU der Impfstand deutlich hinter anderen Ländern zurückliegt, ist die Rechnung sicher einfacher. Bis dahin kann aber noch viel passieren, inklusive Mutationen die bestimmte Impfstoffe wirkungslos machen könnten.

2 „Gefällt mir“

Böse Zungen behaupten, dass die EU nicht mal erfolgreich Druck ausüben kann :grimacing:

Aber Spaß bei Seite. Dieser Artikel hier belegt, dass die EU auch hier später dran war (signing war wohl erst im August?!) und hier schreibt die UK-Korrespondentin der ZEIT, dass ebenfalls bürokratische Hürden die Produktion verzögert haben.

Aber ist das nicht eigentlich nur ein „Verteilungskampf“ zwischen den (westlichen) industriellen Grossmächten? Die Impfdosen die der eine bekommt, hat der andere eben nicht, bis die Produktion des Impfstoffs der Nachfrage nachkommen kann. Dass das nicht von heute auf morgen geht, war doch jedem klar.

Ich mag mir kaum vorstellen wenn die EU am meisten geboten hätte und wir nun hier in Deutschland auf dem ganzen Impfstoff sitzen würden und es nicht auf die Kette bekämen, ihn zu verteilen. Zuindest ist das meine Annahme, wenn ich mir ansehe wie man mit der Menge, die zur Verfügung steht, umgeht.

2 „Gefällt mir“

Interessanter Blick von außen:

There is no doubt that the European Union bungled many of the early steps to line up vaccines. It was slower off the mark, overly focused on prices while the United States and Britain made dollars and pounds no object, and it succumbed to an abundance of regulatory caution. All those things have left the bloc flat-footed as drugmakers fall behind on their promised orders.

But the 27 countries of the European Union are also attempting something they have never tried before and have broken yet another barrier in their deeper integration — albeit shakily — by choosing to cast their lot together in the vaccine hunt.

In doing so, they have inverted the usual power equation of the bloc. Bigger, richer countries like Germany and France — which could have afforded to sign contracts directly with drugmakers, as the United States and Britain did — saw their vaccine campaigns delayed by the more cumbersome joint effort, while smaller countries wound up with better supply terms than they were likely to have negotiated on their own.

For the bulk of E.U. nations, that experiment has been beneficial. But it has not necessarily been greeted happily in the disadvantaged wealthiest countries, and it has left leaders like Chancellor Angela Merkel of Germany and President Emmanuel Macron of France open to criticism at home.

They and E.U. leaders have nonetheless stood by their decision and the impulse for solidarity, even as the finger-pointing has begun.

“What would people have said if Germany and France had been in competition with one another for the purchase or production of vaccines? That would have been chaos,” Mr. Macron told a news conference on Friday, after a virtual meeting with Ms. Merkel. “That would have been counterproductive, economically and from a public health perspective, because we will only come out of this pandemic when we have vaccinated enough people in Europe.”

Experts say that Germany could potentially have been faster to get vaccines for its population had it acted on its own, but ultimately it would have been a disaster to abandon the E.U. joint effort in many other ways.

Mr. Wolff added that given Germany was at the heart of Europe’s open labor market, and shared borders with nine other countries, ensuring the whole of the bloc was getting vaccines was a matter not just of politics but also of self interest.

4 „Gefällt mir“

Der Vertrag ist laut EU-Kommission nicht im Juni sondern am 27. August zustande gekommen.
Im Juni verhandelte noch die Impfallianz um Jens Spahn mit AstraZeneca, weshalb die Verhandlungen der Impfallianz erst Monate später zu Verträgen der EU wurden, weiß wohl nur die Kommission.

Die EU vielleicht, aber es gab vorher ja schon eine Gruppe von Ländern (darunter Deutschland und Frankreich) die Anfang Juni 300 Millionen Dosen mit AstraZeneca verhandelt hatten. Das die dann in den später unterschriebenen Vertrag mit der EU überführt worden, ändert doch daran nix (der Verweis auf den EU-Vertrag passt aber natürlich besser ins Narrativ des Konzerns). Ist aber auch egal ob Juni, August oder noch später. Denn AstraZeneca hat doch schon Anfang Mai verlauten lassen, dass man natürlich und selbstverständlich zuerst den heimischen Markt bedienen wird (auf ihrer HP wird Vertrag mit GB sogar im April angegeben). Zu dem Zeitpunkt war die EU doch noch garnicht mit Impfstoffbeschaffung beauftragt, oder? Also wäre es sogesehen ein Versagen der nationalen Regierungen, die es im April versäumt haben, entsprechende Verträge mit BioNTech, CureVac etc. abzuschließen. Soviel dazu, dass es ohne EU bei uns besser gelaufen wäre ^^. Damit ist auch die Frage, ob die EU früher und mehr bei AstraZeneca hätte bestellen sollen, um jetzt mehr Dosen zu haben, imho hinfällig. Bürokratische Probleme bei der Produktion wären eher interessant um daraus für die Zukunft zu lernen. Am Ene ist das Problem doch aber nicht die absolute Anzahl verfügbarer Impfungen in der EU (eigentlich natürlich schon, aber…), sondern die Tatsache, dass andere Länder mehr impfen (relative Bewertung; Neid). Hätten wir jetzt nur halbsoviele Impfdosen, aber Israel, GB, USA … nicht mehr als die EU, dann würden jetzt alle jubeln. Und das hat imho dann halt doch noch andere Ursachen, als allein den Zeitpunkt und die Anzahl bestellter Dosen durch die EU. Hätte D bzw. die EU z.B. ähnlich wie die USA einen Export-Stopp für BioNTech verhängt, würden wir relativ zu anderen Ländern wohl besser dastehen. Ob man das wirklich so wollen würde? Zumindest sollte man sich aber bei der Diskussion so ehrlich machen, das „Problem“ und damit dann auch entsprechende Schlussfolgerungen richtig zu benennen (die relativen Unterschiede und ihre Ursachen, nicht etwa die absolute Anzahl verfügbarer Impfdosen).

1 „Gefällt mir“

Das stimmt nur teilweise.
Deutschland hat jetzt viel ausgeben.
Es wird bereits jetzt überlegt, an wann und wie man das wieder „einspart“. Und Einsparen sind die einzigen Gedanke, an mehr „Einnehmen“, Dittrich Steuererhöhungen für z.B. Vermögenden, Erbende, können dabei nicht in den Sinn.
Die unsägliche Schuldenbremse soll schon 2022 wieder greifen.

Eine positive Auswirkung der Impfungen wird es bestenfalls im 2. Quartal geben wie Drosten sagt. Da ist die Verzögerung, die schon wenige Tage nach Impfstart sehr hochgehängt wurde, längst vergessen.

Das sehr viel bedeutendere Mittel zur Eindämmung (eben auch der Mutanten) ist ein intelligenter, gut kontrollierter lockdown, der erst bei Null gelockert werden darf. Die Bürgerinnen werden dafür aber viel zu wenig informiert und mitgenommen, als dass sich eine Dynamik der Eigenverantwortung in der Bevölkerung entfalten könnte. Stattdessen machen die MPn und einige Parteiführer Wahlkampf mit „Perspektiven“ auf Lockerung. Wenn ich in einem Rettungsboot sitze, muss ich halt so lange rudern, bis ich an Land bin.

Man muss auch sehen, dass UK mit der Notzulassung ein ziemliches Risiko eingegangen ist, um sich einen Vorsprung zu sichern. Johnson ist ein Zocker, und für ihn geht es um viel. Der schnellere und breitere Impfstart scheint so ziemlich sein einziger Trumpf gewesen zu sein, indem er seinen Leuten vor Augen halten konnte, um wieviel besser es ist, nicht mehr in der EU zu sein. Auch USA und Israel hatten und haben derzeit fragwürdige Demokraten an der Spitze, die auch beide um ihr politisches Überleben kämpften und kämpfen, und die Impfstoffbeschaffung für sich nutzen wollten.

3 „Gefällt mir“

Im letzten Frühsommer hat DE so viel Geld über Coronahilfen und Konjunkturprogramm ausgegeben wie alle EU-Staaten zusammen. Bei einem Kurswechsel von + ~200Mrd € im Vergleich zu den Vorjahren kann man glaub ich schon von einem (vorerst) 180° Wechsel sprechen.
Du hast natürlich Recht, dass es nicht fest steht, wie die dt. Haushaltspolitik weitergeht. Hängt auch viel von der nächsten Konstellation in der BuRe ab. In irgendeiner Form wird der Bund seine Schuldenquote (in % des BIP) aber wieder senken müssen und wollen, ob durch höhere Steuern, Ausgabenkürzungen oder massives Wirtschaftswachstum wird dann vermutlich die nächste Koalition entscheiden.