Liebe alle,
das ist mein erster Beitrag zu einer Folge – und ich möchte einen Gedanken zur Diskussion stellen, der mich beim Hören besonders beschäftigt hat: die Diskrepanz zwischen individueller Lebenslage und gesellschaftlicher Gesamtwahrnehmung. Viele Menschen erleben sich persönlich als relativ abgesichert, äußern aber gleichzeitig die Überzeugung, dass es der Gesellschaft insgesamt „sehr schlecht“ gehe. Diese scheinbare Unlogik finde ich extrem bezeichnend für unsere Gegenwart, in der subjektive Wahrnehmung und objektive Indikatoren oft weit auseinanderklaffen – und in der sich viele politische Debatten weniger auf nachvollziehbare Argumente als auf diffuse Gefühle stützen.
Ein möglicher Schlüsselbegriff für diese Diskrepanz ist – wie Ulf und Philipp in anderen Folgen schon in Bezug auf Ostdeutschland angesprochen haben – Verlustangst/Statusangst. Diese Angst ist nicht notwendigerweise rational begründet, aber emotional sehr wirksam. Ich erlebe das selbst in meinem Umfeld: Mein Onkel lebt finanziell sorgenfrei, fühlt sich aber dennoch von einer Art „untergehender Welt“ umgeben. Obwohl es ihm selbst gut geht, glaubt er fest, dass der gesellschaftliche Zerfall unmittelbar bevorsteht – eine Haltung, die durch polarisierende Medienberichte weiter verstärkt wird.
Aus dieser Perspektive ergibt sich: Es geht nicht um den realen Verlust, sondern um die Angst davor – und um die Vorstellung, dass man nur durch Zufall bislang verschont geblieben sei. Diese psychologische Dynamik könnte erklären, warum in Umfragen regelmäßig ein relativ hoher Lebenszufriedenheitswert mit gleichzeitig stark pessimistischen Einschätzungen zur „Lage der Gesellschaft“ einhergeht.
Ich würde mich freuen, eure Perspektiven dazu zu lesen – und ob ihr vielleicht noch andere Begriffe oder Deutungsmuster kennt, die dieses Spannungsfeld erhellen.
Solche Diskrepanzen lassen sich ja m. E. recht einfach allgemeinpsychologisch erklären.
Aber mir ist noch nicht so ganz die Zielrichtung deines Beitrags klar.
Geht es um Sachsen, um Ostdeutschland, um Deutschland oder gar um überall?
Beim Sachsen-Monitor ist mir etwas ganz anderes aufgestoßen, nämlich die knapp zwei Drittel, die meinen, Deutschland wäre durch die ganzen Ausländer in einem gefährlichen Maße überfremdet (vgl. S. 33 des Ergebnisberichts). Der Ausländeranteil lag im Jahr der Erhebung in Sachsen bei gerade einmal 8,1 %.
Etwas habe ich aber noch zu deinem Beitrag:
Eine Studie zeigt den Zusammenhang zwischen Parteipräferenz und Wohlbefinden. Menschen, die sich der AfD zuwenden, erleben eine Verschlechterung.
Das kann ich verstehen. Wie man aus dieser Emotion heraus ohne Einsatz kritischer Reflexion direkt zu „dann wähle ich die Rechtsextremisten womit ich (mindestens) den Untergang von Demokratie und europäischem Frieden billigend in Kauf nehme“ kommt, kann ich beim besten Willen nicht begreifen. Niemand, der AfD wählt und von sich behauptet, kein Rechtsextremist zu sein, kann mir in sich wiederspruchsfrei (also selbst, wenn man die Lügen und Fehlwahrnehmungen für den Augenblick mal als zutreffend akzeptiert) erklären, was derem Politik für ihn oder sie konkret verbessern soll. Wenn man sich die Zeit nimmt, lange genug nachzufragen, kommt am Ende immer raus, dass diese Menschen bereit sind, für ihre Haltung auch ökonomische oder andere Nachteile in Kauf zu nehmen. Und der Kern dieser Haltung ist, wenn man genau genug nachfragt, praktisch immer gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, wenn auch in wechselnder Geschmacksrichtung. Es geht nicht darum, selbst nach oben zu kommen, sondern wahlweise oder in Kombination Linke, „Fremde“, LGBTQ, Arme tiefer in den Staub zu treten. Nicht mal unbedingt, weil man deren soziale oder ökonomische Position für sich haben will, sondern meist einfach, um andere dafür zu strafen, dass man selbst nicht klar kommt. Das wird nicht jedem bewusst sein, aber gegen Verdrängung oder Leugnung kann man mit rationalen Argumenten eben nicht ankommen, deswegen laufen Gespräche mit diesen Leuten so oft so ins Leere.
Ich weiß nicht mehr, wo ich das kürzlich gehört habe (ich dachte in der LdN, hab‘s aber nicht in Transkript gefunden, als sinngemäß eine kluge Interviewte sagte:
Viele Rechte und Progressive sind sich doch in einem Punkt einig: Die Demokratie liefert vielfach nicht mehr. Dabei ziehen die Rechten daraus einen ganz anderen Schluss als die Progressiven: Das gegenwärtige System muss zerstört werden.
Da kann es einem selbst sehr gut gehen - ein Teil davon zieht den Schluss daraus, „das System“ zu sprengen, in dem man diejenigen wählt, die des sprengen wollen. Ob man deshalb alle Positionen solcher Parteien teilt oder nicht, ist vielleicht gar nicht so wichtig.
Die Frage zum „Nicht-Liefern“ von Demokratie treibt mich schon lange um und ich habe auch hier immer wieder geschrieben, z.B. hier:
Ergänzen würde ich noch, dass die gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit das zentrale Motiv ist, die AgD zu wählen.
Alles andere sind Folgewirkungen. Die apokalyptischen Verschwörungsnarrative vom Bevölkerungsaustausch und drohendem Zusammenbruch nähren und festigen die ursprüngliche Einstellung. Ein sich selbst verstärkender Kreislauf oder Teufelskreis.
Aber - und das ist hier m. E. entscheidend - am Anfang stand die gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit.
Ich würde mal schätzen, 80-90 % der Wähler können Dir ihre Wahlentscheidung widerspruchsfrei wählen.
Auch ich wähle Partei eine Partei, obwohl ich mit etlichen Punkten in ihrem Partei- oder Wahlprogramm nicht einverstanden bin. Ja, ich kann trotzdem erklären kann, warum ich sie gewählt habe. Aber das kannst Du nicht von 80-90% der Wählern erwarten, die sich am Tag weniger als 5 Minuten am Tag mit Nachrichten und Politik beschäftigen.
Widerspruchsfrei wäre ja bspw. auch, wenn man darlegen kann, dass man sich mit der Kritik an einer Partei auseinander gesetzt hat, diese vielleicht sogar teilt und dann auf Grundlage transparenter Maßstäbe erläutern kann, warum die erwarteten Vorteile es rechtfertigen, die Risiken in Kauf zu nehmen.
Aber ich kann von Erwachsenen, die wollen, dass man ihre politische Meinung und Entscheidung ernst nimmt, erwarten, dass sie sie selbst ernst genug nehmen, dass sie sie besser begründen können (oder wenigstens genauso gut), als/wie ihren letzten Handy- oder Autokauf. Dieses „erstmal rechtsextrem wählen und nachher nichts gewusst und gewollt haben“ habe ich ohnehin satt aber grade Deutsche können sich darauf nie wieder berufen.
Ich wiederhole nochmal: Der durchschnittliche Deutsche beschäftigt sich weniger als 5 Minuten am Tag mit Nachrichten und Politik. Deine Erwartungen sind per se nicht erfüllbar. Das ist auch der Grund, warum Populismus Erfolg hat.
Das gibt dann aber erst recht Rätsel auf. Wenn ich mich fünf Minuten am Tag mit Politik beschäftige und dann bei der AFD lande, nimmt sie eindeutig zu viel Raum ein und den in sehr fragwürdigem Maße. Eine politische Meinung wächst ja auch. Die fünf Minuten am Tag müssen also reichen, mir meine bisherige politische Partei so madig zu machen, dass ich mich bei der nächsten Wahl aktiv gegen sie entscheide. Sorry, aber das erklärt doch nicht den raketenhaften Aufstieg der AFD.
Edit: es bleibt ja auch die Frage, wie die Minuten sich verteilen. 30 Minuten am Wochenende sind wesentlich effektiver als fünf Minuten am Tag.
Edit 2: gibt es Studien, die diese fünf Minuten stützrn?
Nicht können nicht mit nicht wollen verwechseln. Erwachsene nutzen pro Woche im Schnitt rund 20 Stunden allein soziale Medien. 21 Stunden Fernsehen. 5 Minuten am Tag sind keine Leistungsgrenze. Nicht mehr politische Bildung ist eine freie, eigenverantwortliche Entscheidung.
Wenige Dinge sind emotionsgesteuerter als ein Autokauf. Eine Soundanlage, die ein Vielfaches der Boxen zu Hause kostet ist nicht rational zu erklären. Das nur nebenbei.
Ich erwarte von niemandem, dass er sich 100e Seiten Wahlprogramme und Grundsatzprogramme durchliest. Aber man weiß ja zumindest wofür eine Partei steht. Das zeigen ja auch die Nachwahlbefragungen, dass die Leute das wissen. Nun so zu tun, die Leute wüssten nicht, dass die AFD eine rechtsextreme Partei wäre oder die Demokratie zerstören will, geht an der Realität vorbei. Sie wissen das und es ist ihnen egal oder finden es sogar gut. Ihre Antwort auf die gefühlte zukünftige Unsicherheit ist ein Hass auf die Institutionen, die sie dafür verantwortlich machen: EU, Linke, Woke, Feministen, vielleicht sogar die Wiedervereinigung
Früher war eben alles besser bevor die Veränderer die Welt aus den Fugen gerissen haben und jetzt geht alles den Bach runter. Die Parallelen sind für sie zu deutlich. Da ist eine antidemokratische Partei, die das alles einreßt und Deutschland politisch 100 Jahre zurückwirft, genau das richtige.
Das ist nicht, was ich gesagt habe. Ich nehme auch niemanden in Schutz.
Ich sage, dass Wahlentscheidungen in vielen Fällen eine irrationale Affekt-Enscheidung sind. Meine Hypothese: Dahinter steht das irrationale Bedürfnis, das bestehende System, dass in so vielfältiger Weise „versagt“ (s.o.: nicht mehr liefert), zu beseitigen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass viele AfD-Wähler sich Gedanken darüber machen, wie denn ein von der AfD regiertes Deutschland aussehen wird.
Genauso wenig glaube ich, dass ein großer Teil der Wähler von Trump sich vor der Wahl vorher das ausgemalt hat, was seit der Regierungsübernahme in den USA passiert ist.
Mir geht es darum, dass Unwissen eben keine Entschuldigung oder Rechtfertigung sein können. Bei Trump nochmal weniger, als bei der AfD.
So, wie ich dich verstehe, sind wir uns an dem Punkt einig.
Dass viele Wähler:innen meine Erwartung/ mein Verständnis von Verantwortung nicht erfüllen, sehe ich auch. Für mich ist da natürlich nicht meine Erwartung das Problem, sondern dass zu viele ihrer Bürgerpflicht nicht nachkommen, aber sofort jammern, wenn man sie entweder für ihre Positionen und Entscheidungen in die Verantwortung nimmt oder nicht so tut, als wären ihre Positionen diskussionswürdig. Man kann aber für eigene politische Entscheidungen/Meinungen nicht beides haben: Respekt und Verantwortungsfreiheit.
Das ist allerdings etwas, vor dem auch informierte Wähler nicht gefeit sind. Viele können sich einfach nicht vorstellen, dass es tatsächlich so schlimm wird wie es dargestellt wird. Der erste Club of Rome-Bericht erschien 1972 und fiel damit mit der Ölkrise zusammen. Mit dem heutigen Wissen hätte man damals auf diese Krise ganz anders reagiert. Aber so hat man den Bericht freundlich zur Kenntnis genommen und weiter gemacht wie bisher. Ich möchte auch gar nicht framen, dass politische Systeme versagen. Es gibt einfach sehr viel, das sich aufgestaut hat und in einer globalen Welt nun drängender wird als dies in einem Nationalstaat wäre. Wir können aber auch nicht mehr zum Nationalstaat zurück, zu viel ist mittlerweile miteinander verwoben. Das stellt Politik und Bürger vor Herausforderungen auf die sie nicht vorbereitet waren und deren Lösungen und Reaktionen noch nicht ausverhandelt sind. Das ist durchaus eine Erklärung reaktionäre Parteien zu wählen, aber auch ein Eingeständnis, dass man vor den Problemen resigniert hat. Das haben sich die Wähler vielleicht noch nicht bewusst gemacht, unterbewusst ist es ihnen aber längst klar.
Ja, da stimme ich Dir zu. Das kann man beklagen. Bringt aber wenig bis nichts. Alltagsüberforderung, und/oder mangelndes Gemeinschafts- und Verantwortungsbewusstsein sind eine Konstante, mit der wir irgendwie klarkommen müssen, oder nicht? Ich glaube nicht, dass Wählerbeschimpfung oder Appelle an die Verantwortung da irgendetwas bringen.
Ich finde es wichtig, dass man solche Mangelleistungen nicht einfach als gegeben akzeptiert. Und selbstverständlich darf man mit Menschen schimpfen, die aus selbstbewusster Bequemlichkeit und Ignoranz oder mit Vorsatz die Grundlagen unserer Freiheit und unseres Wohlstands zerstören. Ob es in dem Sinne was bringt, dass die dann plötzlich zu Einsicht und Besserung gelangen, da bin ich auch nicht so hoffnungsvoll. Aber dass ständig so getan wird, als wären Migration/Bürokratie/die Politik/das Wirtschaftssystem die Wurzel aller Probleme, wenn fast alles, was schief, zu langsam oder überhaupt nicht läuft, letztlich auf den Souverän und seine defizitären Anteile zurückfällt, einfach, weil das die mehrheitsfähigere Debatte ist, kann es in meinen Augen auch nicht sein.