Russland, die NATO und der Ukraine-Konflikt

Finde ich einerseits zu hoch aufgehängt, andererseits würde ich die dahinterliegende Analyse nicht teilen. Ich wusste nicht, dass Harari zu der Gruppe von Intellektuellen zählt, die die These von der friedlichsten aller Zeiten vertreten. Die hat viele Probleme.

Es ist schön, dass seit dem Zweiten Weltkrieg keine Staaten mehr geschluckt wurden. Könnte natürlich daran liegen, dass große Teile der Welt immer noch in Kolonialreiche integriert waren, für deren Schaffung in den Vorjahrhunderten viele der Kriege geführt wurden, und es im Rest vom 20. Jahrhundert vor allem zu Kriegen kam, die mit dem Zerfall dieser Reiche und ihrer Nachfolgewirkung zu tun hatten. Mit der Zahl der staatlichen Konfliktteilnehmer ist die Zahl der Konflikte in jedem Fall gewachsen.

Zudem Harari sitzt nicht einfach in Südwestasien, er sitzt in Israel. Und dieses Land ist ein Paradebeispiel für das ganze Spektrum von Völkerrechtsverletzungen: Angriffskrieg, militärische Interventionen in anderen Ländern ohne Kriegserklärung, Drohung mit militärischer Gewalt, Annexion eroberter Gebiete, Siedlung auf besetztem Gebiet, ethnische Säuberung, (Luftkriegsführung in dicht besiedelten zivilen Gebieten), Ermordung von Staatsangehörigen fremder Staaten, Beschaffung von Waffen, die internationaler Kontrolle unterliegen. Das meiste davon mit Deckung der USA. Nun kann man sich lange streiten, ob Israel einige Dinge von dieser Liste tun musste, um zu überleben, der Punkt ist, als jemand, der in einem Land lebt, das vom Nichtgelten der internationalen Ordnung für den eigenen Fall enorm profitiert, finde ich, ist es eine erstaunliche Einschätzung, die ich sonst vermutlich eurozentrisch genannt hätte.

Vielen Dank für die Perspektiverweiterung. Das stimmt, dass eine offene Kriegserklärung nicht der einzige Weg ist, über andere Völker zu herrschen.

Russland hält die Drohung, jederzeit einen Krieg gegen die Ukraine beginnen zu können, schon seit 8 Jahren aufrecht. Da kann das Land natürlich keinen wirtschaftlichen Aufschwung erleben. Die Ukraine soll als Mitglied für NATO und EU möglichst unattraktiv sein. Die einzigen zwei Wege da raus sind entweder Putin die Garantien zu geben die er will, oder die Ukraine in die NATO aufzunehmen und damit auf maximale Konfrontation zu gehen - auch wenn das Krieg mit Russland bedeuten könnte.

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Ich bin durch einen Artikel im Guardian (auch interessant, lässt sich aber hauptsächlich über die Unfähigkeit/Untätigkeit Großbritanniens aus) über diesen Artikel hier gestolpert: WHY INTERMEDIATE-RANGE MISSILES ARE A FOCAL POINT IN THE UKRAINE CRISIS

Es wurde ja ein paar mal teils relativ verächtlich darauf hingewiesen, dass es nichts gäbe wovor Russland sich fürchten könnte. Wenn man das verengt auf einen direkten Angriff auf Russland betrachtet, wird das wohl auch stimmen, aber der Artikel beleuchtet, auf welcher Ebene sich Russland militärisch tatsächlich als bedroht ansieht.

Für die, die es nicht lesen wollen oder können, im wesentlichen geht es darum, dass die USA das Abkommen über das Verbot von Mittelstreckenwaffen in Europa aufgekündigt haben. Als Grund dafür wurden Verletzungen des Abkommens durch Russland geltend gemacht. Wichtiger als der Grund ist aber die Folge. Den US-Militärs schien das ganz gelegen zu kommen, um endlich in größerem Stil Präzisions-Mittelstreckenwaffen zu entwickeln, ein Gebiet auf dem China gerade wohl die Vormachtstellung hat. Putin hat mehrfach ein Moratorium zur Stationierung dieser Waffen in Europa ins Spiel gebracht, aber die USA (noch unter Trump) haben das Angebot ignoriert. Von diesen Waffen sieht Russland jetzt anscheinend erstens seine militärischen Operationsfähigkeiten bedroht und zweitens gibt es das Problem, dass die USA diese Waffen wohl konventionell bestücken, für den „Empfänger“ aber nicht ersichtlich ist, was auf ihn zukommt. Die Russen müssen die Verwendung dieser Waffen also immer als potentiellen nuklearen Erstschlag sehen.

In dem Kontext finde ich es dann auch interessant, dass zumindest in den Medien, die ich konsumiere, ständig darauf hingewiesen wird, dass Russland sich bedroht fühlt, das aber nie konkretisiert wird. Das wird einfach immer so in der Luft hängen gelassen, so dass für den Leser die Implikation bleibt, dieses Bedrohungsgefühl sei unverständlich bis imaginiert.

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Wäre fast so als würde Mexiko China militärisch um Hilfe bitten.

Zu Folge 277: Die Logik hinter diesen Überlegungen, Russland könnte eine Eskalation militärischer Präsenz nicht wieder zurückfahren, erschließt sich mir wirklich nicht. Die Russen haben bisher darauf bestanden, dass es keine Angriffspläne gäbe. Warum sollte es von diesem Stand aus irgendwelche Hürden geben, Einheiten wieder aus der Region an ihre eigentlichen Stationierungsorte zu verschieben? Die militärische Schlagkraft Russlands basiert auch darauf, dass sie diese große Armee zur Verfügung haben und die Möglichkeit sie schnell zu verlegen. An der dauerhaften Bindung konzentrierter militärischer Kräfte an einen Standort ist man denke ich nicht interessiert. Und einige der Einheiten, die aus Fernost in den Westen verlegt wurden, können auch gar nicht dort bleiben, weil sie in der Heimat Teil der Abschreckung sind.

Ich behaupte nicht, dass das Blödsinn ist, sondern nur, dass ich mir nicht eine oder gar zwei Stunden Video auf Empfehlung von jemanden angucke, ohne zu wissen, worum es geht und was daran interessant sein soll.
Deshalb werfe ich auch keinen Blick darauf, wenn Du nicht wenigstens ein paar der für Dich neuen Gedanken aufzählst.
Musst Du nicht, aber dann schaue ich nicht - und vielleicht auch viele andere nicht.

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Ich habe die Empfehlung hier nicht eingestellt, und die Vermutung, „dass nur Blödsinn geredet wird“, kam von Dir.
Auf das Video bin ich durch einen Post bei Fefe aufmerksam geworden. Das Video wird von einer renommierten Institution verbreitet, und der Vortragende ist ein bekannter russischer Journalist. Das genügt mir, um zumindest reinzuschauen. Ob Dir das Video neue Erkenntnisse bringen wird, kann ich nicht einschätzen. Mir liefert es vor allem eine russische Analyse des Konflikts auf akademischem Niveau. Man muss diese Analyse nicht teilen, aber wer den Konflikt verstehen will, sollte sie zumindest kennen.

Schon bemerkenswert wie Putin die Klaviatur der Machtspiele beherrscht. Nach dem Treffen mit Lawrow heute kann er sich nach innen in jedem Fall als weiser, friedliebender Führer präsentieren, was seine Position nur stärkt.

Entweder „der Westen“ ergreift diesen vermutlich letzten Strohhalm der Diplomatie und bringt tatsächlich etwas auf dem Tisch, mit dem Putin arbeiten kann. Dann erreicht er seine Ziele doch noch, ohne den Konflikt eskalieren zu müssen und kann sich (wiederum nach innen) als konzilianten Regierungschef verkaufen, der seinen unnachgiebigen Gegnern die Hand gereicht hat, ohne dabei aber eingeknickt zu sein. Wenn das jedoch nicht passiert, hat er immer noch die Möglichkeit, einen Zwischenfall zu inszenieren und kann dann umso besser verkaufen wie übel dem friedfertigen Russland mitgespielt wird.

In diese Richtung argumentiert auch ein sehr guter Artikel in der aktuellen ZEIT. Dortiger Tenor: die ganzen Ambitionen seitens Russland bezüglich der ehemaligen UDSSR-Staaten haben nichts mit Völkern und deren Zugehörigkeiten zu tun sondern mit dem Selbstverständnis des russischen Herrschers. Beim Lesen des dortigen Artikels fiel mir auf, wie sehr in der ganzen Diskussion die Stimme der Ukraine fehlt…

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In Ergänzung das ist aus einem der zurückrudernden Artikel, die gerade geschrieben werden:

While previously it would have been hard to cast any retreat by Putin as anything but humiliating failure, […]

Selber Gedanke. Aber wieso? Diese Einschätzung ist fast trotzig. Wenn wir sagen, dass Russland angreift und sie machen es nicht, dann, dann sind sie eben feige. Es ergibt vorallem Sinn, wenn man in seinem Kopf die Drohung, die man aus den russischen Truppenbewegungen herausliest, als eine ausgesprochene russische Drohung vermerkt, die sie dann nicht durchziehen. Insofern haben diese Einschätzungen auch etwas von einem Selbstgespräch.

Auch für diese Art Artikel ist es gerade eigentlich etwas zu früh. Allerdings scheint es, dass Russland hier eine hauptsächlich im Westen fabrizierte Wirklichkeit bedient und das nährt erneut meinen Verdacht, wir sehen diese Choreographie - ich vermute das wird sie bleiben - mit einem Grad an Ausschmückung, der nur durch die mediale Aufmerksamkeit ermöglicht wurde.

Wenn jetzt die In-Betriebnahme von Nordstream 2 Teil der Zugeständnisse an Putin ist, war die Außenministerin und der Wirtschaftsminister da mit im Boot?

Das bezweifle ich. Gazprom muss immer noch die speziellen Bedingungen für den Betrieb von Nord Stream 2 erfüllen. Die Bundesnetzagentur wird die Pipeline sonst nicht zulassen und über die nachfolgende Prüfung der EU-Kommission kann sich Deutschland auch nicht beliebig hinwegsetzen.

Als ich das erste Mal etwas zu dem Thema im Forum geschrieben habe, verwies ich auf diese Situation Ende 2016, wo es schonmal einen Aufmarsch russischer Truppen gab:

Ich hätte weiterschauen sollen, denn es ergibt sich ein klares Muster:

2017 haben sie wohl wegen der vierjährlichen Zapad-Übung ausgesetzt.

Deswegen waren die Ukrainer skeptisch als die US-Amerikaner ihnen erzählt haben, Russland würde mit dem typischen Truppenaufmarsch dieses Mal eine Invasion planen. Aber sie haben sich darauf eingelassen, weil sie sich Aufmerksamkeit für ihre Situation davon versprochen haben. - Nun die haben sie in einem ungesunden Ausmaß bekommen.

Was sich hier also am Muster verändert hat, war die westliche Reaktion inklusive der zunehmenden medialen Aufmerksamkeit. Und damit besteht die Möglichkeit, dass das hier passiert ist:

Es ist nicht gesagt, dass Russland tatsächlich vor hatte ihre jährliche Demonstration von Stärke im erweiterten ukrainischen Grenzgebiet in diesem Umfang abzuhalten. Es ist möglich, dass sie all das aufgefahren und choreographiert haben, weil der Westen einen großen Scheinwerfer auf ihre Bühne gerichtet hat.

Mein Fazit bleibt also das selbe:

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Es zeigt eigentlich nur, wie die Situation immer mehr eskalierte.
2015: Das Minsker Abkommen wird geschlossen.
2016: Russland behauptet, militärische Anschläge der Ukraine auf der Krim vereitelt zu haben und droht mit Abbruch der diplomatischen Beziehungen
2018: Russland beschießt ein Marineschiff und setzt drei weitere Schiffe fest. Außerdem wird durch Bau der Krimbrücke die Durchfahrt einer Meerenge erschwert
2020: Selenskyj stellt Ultimatum. Innerhalb eines Jahres sollte eine Vereinbarung getroffen werden. Mehr sei nicht drin. Wenn es länger dauere, müsse das Format geändert und eine andere Strategie gefunden werden.

Passend dazu würde ich mal auf diese Analyse der Stiftung Wissenschaft und Politik zur Ukraine-Krise verweisen: Ukraine im Nato-Russland-Spannungsfeld - Stiftung Wissenschaft und Politik
Das Papier stammt von letztem Freitag, und zeigt schön auf, wie akut die Kriegsgefahr tatsächlich ist, und was man zur Entschärfung der Situation tun könnte.

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Also diese Liste zeigt meines Erachtens eher, dass die Situation nicht besonders eskaliert, sondern eher stabil geblieben ist. Die Brücke würde ich auch nicht als Eskalation deuten. Das ist eine Infrastruktur, die man sich baut, wenn man eine Halbinsel hat, deren Landverbindung man nicht kontrolliert.

Der andere Strang wurde geschlossen, daher antworte ich mal hier:

Vor ungefähr einem halben Jahrhundert gab es eine Phase, während der in manchen Regionen der Welt ein zum Westen in Konkurrenz stehendes Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell als attraktiv wahrgenommen wurde. Als Reaktion darauf haben „wir“ dort hunderttausende Menschen umbringen lassen, damit die betreffenden Staaten in der Spur bleiben*.

Ich will damit nicht Mord und Totschlag als Mittel der Politik rechtfertigen. Aber es ist eine Tatsache, dass dies genauso zum Instrumentenkasten des Westens gehört, wie zu dem der Russen, Chinesen, etc. Und deswegen, verdammt nochmal, haben „unsere“ Entscheidungsträger diese Dimension der Handlungsmöglichkeiten unserer geostrategischen Rivalen gefälligst einzukalkulieren, wenn sie versuchen, den Bereich der westlichen Hegemonie weiter auszudehnen.

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Es ist einfach nur unsere kollektive Selbsterzählung, dass wir die „Guten“ sind, weil wir bessere Werte vertreten. Die Wahrheit ist eher, dass wir uns erfolgreich als die „Guten“ inszenieren - was zugegeben durchaus einen Unterschied machen kann - weil wir es uns leisten können. Das gilt gerade für uns Europäer, weil wir im Gegensatz zu den USA nicht mehr diese überbordende militärische Schlagkraft unterhalten, die schon aus schierer Selbstrechtfertigung heraus gelegentlich mit katastrophalen Folgen eingesetzt wird. Leisten können wir es uns deshalb, weil wir relativ zu anderen Weltregionen über deutlich mehr Ressourcen verfügen und zwar deshalb, weil die postkoloniale Ordnung die früheren Kolonialmächte in ihrer Machtposition belassen hat, wo im Prinzip ähnliche Ressourcenflüsse realisiert werden wie vorher, nun sogar ohne die Kosten des Kolonialregimes. Das gilt insbesondere für die Kolonialmacht USA, die zuerst die Wertschöpfung der sogenannten freien Welt auf sich zentriert hat und nach dem Zerfall der Sowjetunion der gesamten Welt, zumindestens bis in den letzten zwei Jahrzehnten mit China ein Konkurrent aus genau diesem Bindungsverhältnis (und unter seiner Nutzung) aufgestiegen ist.

Aber wenn unser Wohlstand bedroht ist, aktuelles Beispiel durch Migration, dann lassen wir lieber Flüchtlinge ertrinken, arrangieren uns mit Sklavenmärkten und schauen weg, wenn an den Außengrenzen Menschen „zurückgestoßen“ werden, ein Euphemismus für Drangsalierung bis Körperverletzung bis gelegentlich Totschlag oder Mord.

Wenn „gute Menschen“ nur „gute Dinge“ tun könnten, wäre die Welt ein wesentlich besserer Ort als sie ist.

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