Russische Teilmobilmachung / EU-Asyl für russische Reservisten

Annahme(n): Die russischen Streitkräfte sind mit der Invasion der Ukraine letztlich erfolgreich. In der Folge setzt die russische Führung ihre Vorstellung von „Ordnung“ an der russischen Westgrenze durch, sprich: Belarus und bedeutende Teile der Ukraine werden de facto Teil der Russischen Föderation. Zwischen der NATO/„dem Westen“ und Russland mit seinen Satellitenstaaten gibt es eine Neuauflage des Kalten Krieges.

Es stellt sich dann die Frage, was eine wirksame Maßnahme sein könnte, um Russland zumindest auf lange Sicht soweit zu schwächen, dass nicht noch meine Kindeskinder an der Grenze zu einem „Reich des Bösen“ bis an die Zähne bewaffnet Patrouille gehen müssen. Was teilweise schon umgesetzt ist und wo es sicherlich noch Luft nach oben gibt, das sind wirtschaftliche Sanktionen. Problematisch daran ist, dass es auf mittlere bis lange Sicht im Westen nichts gibt, was Russland nicht auch aus China beziehen könnte. Und umgekehrt hat die chinesische Wirtschaft großen Bedarf für all die Rohstoffe und Vorprodukte, die Russland liefern kann. Kurzfristig können wir Russland massiven wirtschaftlichen Schaden zufügen, doch langfristig wird dies nur zu einem Umorientierung Richtung China führen. Der Westen schießt sich dann zweimal ins Knie, indem er seinerseits auf den russischen Absatzmarkt und - weit wichtiger - die gewaltigen russischen Rohstoffvorkommen verzichtet und sie damit dem großen Rivalen China überlässt.

Wo ich aber eine große Chance sehe, nicht nur Russland kurzfristig weh zu tun, sondern das Land und damit die Möglichkeiten seiner Führung dauerhaft zu schwächen, das ist die Demographie. Russland hat schon länger mit einer schrumpfenden Bevölkerung zu kämpfen, was seit dem Wiedererstarken unter Putin nur zum Teil durch Zuwanderung aus früheren Sowjetrepubliken kompensiert werden konnte. Russland ist von seiner Bevölkerungszahl und seiner Wirtschaftskraft her aber schon jetzt kaum in der Lage, seinen Ambitionen gerecht zu werden. Was könnte dieses Reich brutaler treffen, als die Abwanderung von Millionen von Bürgern mit guter Ausbildung und im noch fortpflanzungsfähigen Alter?

Что делать? Mein Vorschlag: Den maximalen ökonomischen Druck für ein paar Jahre aufrechterhalten. Und währenddessen jedem Bürger aus dem russischen Einflussbereich (=Russische Förderation, Belarus, die der Ukraine entrissenen Gebiete, etc.), der eine halbwegs akzeptable Ausbildung nachweisen kann und unter 50 Jahre ist, für z. B. drei Jahre Niederlassungsfreiheit inklusive Kernfamilie im Westen anbieten. Wenn die Person bis dahin wirtschaftlich halbwegs Fuß gefasst hat, dann dauerhaftes Aufenthaltsrecht und Staatsbürgerschaft anbieten. Für besonders interessante Personen, z. B. Akademiker aus dem technischen Bereich oder Militärs kann man auch gern ein ordentliches Begrüßungsgeld anbieten.
Im Gegensatz zu einem bis in alle Ewigkeit bestehenden Sanktionsregime würde der Westen, den letztlich die gleichen demographischen Probleme wie Russland drohen (allein Deutschland bräuchte demnächst jedes Jahr 500.000 Zuwanderer, um die Zahl von Erwerbstätigen stabil zu halten), von so einer Maßnahme doppelt profitieren: Russland wird geschwächt und „wir“ gestärkt. Außerdem würden, wenn dieses Abwerben tatsächlich millionenfach erfolgreich wäre, unzählige menschliche Verbindungen zwischen Russland und dem Westen geknüpft, die auf Sicht von Jahrzehnten hoffentlich eine politische und kulturelle Wiederannäherung befördern können.

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Die wirtschaftlichen Sanktionen können auf Dauer nur funktionieren, wenn man China eine klare Positionierung gegen diesen Angriffskrieg und den damit verbundenen Sanktionen abringt.
Ich denke es ist unstrittig, dass China ideologisch viel viel näher bei Russland steht als dem Westen, aber China braucht den westlichen Absatzmarkt.
Das mag naiv sein, und gerade die letzten Tage haben ja bewiesen dass man das Handeln von solchen Machthabern wir Putin und Xi nicht rational vorhersagen kann, dennoch glaube ich das China viel tun wird, um nicht wirtschaftlich vom Westen abgeschottet zu werden.

Für China kann es gar nichts besseres geben, als Russlands einzige verbleibende Option zu sein, nachdem dieses vom Westen entfremdet ist. China selbst wiederum ist inzwischen zu groß geworden und zu weit technisch fortgeschritten, um sich vom Westen irgendwas vorschreiben zu lassen. Zum Teil sind sie uns ja sogar schon enteilt, was z. B. den Bau von Infrastruktur angeht. Das einzige, was China wirklich braucht, ist Zugriff auf Rohstoffe, die es selbst nicht hat.

Kurzfristig wird China nicht die Sanktionen des Westens unterlaufen - auch um nicht in den Konflikt, von dem es aus Außenstehender nur profitieren kann, hineingezogen zu werden. Aber auf Sicht von Jahren kann man das vergessen.

Da hast du recht, dass ist aber genau das Gegenteil was ich meinte.
In deine Worten meinte ich, dass es aber für China nichts schlechteres geben kann, als das Russland ihre verbleibende Option ist in wirtschaftlicher Hinsicht.
Auch wenn ich deine Einschätzung teile, was technischen Fortschritt und Infrastruktur angeht, damit China wirtschaftlich und innenpolitisch stabil bleibt braucht China den Absatzmarkt des Westens.
Wenn hier spürbare Anteile wegfallen würden, das kann Russland nicht kompensieren.
Eine deutliche wirtschaftliche Verschlechterung würde für China würde zu inländischen Spannungen führen, die China sicherlich so gut es geht unterdrücken würde, es kann aber nichts sein was China herbeiführen möchte.
Wo hier das Pendel auf die eine oder andere Seite kippt, wenn Xi Jinping eine Entscheidung treffen muss, ist denk ich kaum vorhersehbar.

Da stimme ich zu. Aber es wäre für „den Westen“, insbesondere die Europäer, gar nicht drin, sowohl gegen Russland als auch gegen China weitreichende Sanktionen zu verhängen.

Das, was wir jetzt an Sanktionen gegenüber Russland verhängen, würden wir niemals - außer es kommt direkt zum Krieg zwischen USA und China - gegen China anwenden.

Sicher nicht in dem Umfang, was auch nicht gerechtfertigt wäre.
Allerdings sollte China die Sanktionen gegen Russland unterminieren, kann das nicht unbeantwortet bleiben.

Das geht wohl schon in die Richtung, China wird sich an einem Punkt entscheiden müssen
https://www.golem.de/news/ukraine-krieg-usa-wollen-china-in-sanktionen-gegen-russland-einbeziehen-2203-163545.html

Ich würde bezüglich eurer Diskussion gerne ein paar Gedanken einwerfen:

  1. Es ist nicht abzustreiten, dass die wirtschaftlichen Verwebungen zwischen Deutschland und China um ein vielfaches enger sind als die zwischen Deutschland und Russland. China benötigt den europäischen Absatzmarkt zwar im Moment noch, Deutschland als Exportnation ist auf den chinesischen Absatzmarkt allerdings mindestens genau so, wenn nicht sogar mehr angewiesen.
    Was exportwirtschaftliche Perspektiven angeht steht es um Deutschland denke ich schlechter als um China bestellt. Der chinesische Binnenmarkt ist bei weitem nicht so gut ausgebaut wie der deutsch/europäische und bietet nationale Wachstumsperspektive, welche Exportabhängigkeiten reduzieren würde. Deutschland Binnenmarkt ist bereits bestens ausgebaut und trotzdem ist China außerhalb der EU vor den USA der größte Absatzmarkt schlichtweg aufgrund des brachialen Humankapitals welches China beherbergt. China wandelt sich von einem Land, welches lange Zeit gedankliches Eigentum stahl und regen Technologietransfer betrieb zum Innovationsführer und wird immer weniger abhängig von deutscher „Ingenieurskunst“ dem Rückgrat des deutschen Mittelstands. China verbaut 5G Mobilfunktechnologie in Deutschland, während Deutschland die wachsende Chinesische Mittel-und Oberschicht benötigt, da diese ausgesprochen gerne in Autos von Mercedes Benz und CO. umherfährt. Der aktuelle Spagat, den China außenpolitisch zwischen Positionen des Westens und Russlands vollzieht, sorgt einzig dafür, dass China uns wie Russland immer mehr von sich abhängig macht. China ist meiner Ansicht nach auf geopolitischer Ebene der einzige „klare Gewinner“ dieses Konflikts.
    All diese Fakten lassen nur den Schluss zu: Unsere Abhängigkeit von China wächst, die umgekehrte Abhängigkeitsbeziehung verliert hingegen an Wirkkraft, wir sollten uns als Europäer bloß nicht zu sicher sein, dass China uns wirtschaftlich braucht.

Diesbezüglich vielleicht noch kurz etwas zu der Aussage von @AlexS, dass „China viel dafür tun wird, nicht wirtschaftlich vom Westen abgeschottet zu werden“. Der Zeitraum in dem der Westen China ernsthaft weltwirtschaftlich hätte isolieren können ist längst verpasst. Ein vollständiges chinesisches Wirtschaftsembargo würde die Welt in die nächste globale Finanzkriese stürzen.

  1. Für Chinas Machtinteressen kann es nicht besser kommen als das Putin die Ukraine überfällt, den „Westen“ unterschätzt und dieser ihn und seinen Petrostate wirtschaftlich aufs härteste abstraft. Wir sollten uns über die Tatsache, dass wir Russland durch unsere Sanktionen in die Arme Chinas treiben, sehr bewusst sein. Wir koppeln Russland von SWIFT ab was dazu führt, dass das alternative russische Zahlungssystem Sputnik SWIFT bestmöglich (natürlich bei weitem nicht vollkommen) substituiert, der Handel mit China ist durch die Verwendung dieses Zahlungssystems weiterhin möglich und wird sicher in Zukunft gestärkt. Russland ist das Bauernopfer für Peking durch welches die chinesische Führung nun bestens kommende Konsequenzen für die Invasion Taiwans abschätzen kann.

  2. Was Europa zugute kommt ist, dass Russland und China sich zwar idiologisch näher stehen, doch werden beide Länder langfristig nicht gut miteinander auskommen werden. Beides sind ehemalige Großmächte die nach ihrem „Platz an der Sonne“ streben und eine Vormachtstellung in Asien für sich beanspruchen. Vielleicht ist diese Prognose als kleines Licht der Hoffnung zu betrachten, dass die Achse Moskau-Peking langfristig keinen Bestand haben wird.

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Mal von China zurück zum ursprünglichen Vorschlag:

Die Idee hatte ich in den letzten Tagen tatsächlich auch und bin bei folgenden Gedanken hängen geblieben:

Wollen die Russen auswandern? Der Migrationssaldo war in Russland in den letzten Jahren trotz massiver Repressionen positiv (es wandern in Summe Menschen ein). Jetzt müsste man natürlich schauen welche Teile der Bevölkerung das betrifft.

Soweit ich weiß war in der Vergangenheit die Skepsis gegenüber dem Westen auch in der jüngeren Bevölkerung in Russland sehr verbreitet. Das könnte sich natürlich durch den Konflikt ändern. Dass den viele Russen verurteilen, hängt aber vielleicht weniger mit Sympathien für den Westen zusammen als mit Sympathien für die Ukraine. Sprich: dass die Russen diesen Konflikt und ihren Machthaber verurteilen muss nicht heißen, dass sie dadurch eine höhere Motivation haben, auszuwandern.

Könnte sich das ändern, wenn die Sanktionen über längere Zeit bestehen bleiben? Vielleicht. Die Frage ist, wem die Russen dafür auf lange Sicht die Schuld geben – insbesondere, wenn der unmittelbare bewaffnete Konflikt in der Ukraine beendet ist. Möglich, dass die russische Bevölkerung auch auf lange Sicht die Schuld bei Putin sieht. Möglich ist aber auch, dass die Sanktionen neuen Hass auf den Westen schüren, wenn der Ukraine Konflikt langsam wieder in Vergessenheit gerät.

Schließlich ist die Frage, was das Ganze mit Russland macht. Eine Abwanderung kritischer junger Russen könnte den inner-russischen Widerstand (der nie eine besonders große Chance hatte) entweder beflügeln – weil Russen im Ausland mit ihren Landsleuten kommunizieren und damit kulturellen Austausch befördern. Es könnte den Widerstand aber auch schwächen, weil diese Leute vor Ort fehlen und vielleicht auch das politische Interesse verlieren. In letzterem Fall wird Russland ein unterdrückendes, schwaches aber verbittertes Land, das aber immer noch die Hälfte aller Atomwaffen besitzt.

Das Ganze ist jetzt erstmal nur laut gedacht und ohne Wertung, insofern kann es gerne jemand aufgreifen und weiterentwickeln / widerlegen.

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Prognosen, gerade wenn sie die Zukunft betreffen, sind immer schwierig. Die Auswanderung aus dem russischen Einflussbereich so einfach und attraktiv wie möglich zu machen, wäre aber für uns eine Maßnahme, die nahezu nichts kostet und im Fall des Erfolges viel einbringt.

Schon in Zeiten des Kalten Krieges musste der Ostblock seine Bevölkerung einsperren, um die Abwanderung von gut ausgebildeten Arbeitskräften zu verhindern. Das war vor mehr als einem halben Jahrhundert. Heute, nach 30 Jahren der Globalisierung, die auch vor Russland nicht Halt gemacht hat, sollten die praktische und geistige Schwelle zur Auswanderung noch weit niedriger liegen.

Wichtig wird sein, mit welcher Wucht die Sanktionen die Russen der oberen Mittelklasse aus ihrem gewohnten Leben reißen. Nehmen wir mal die zivile Luftfahrt (ein im riesigen Russland wichtiger Sektor) als Beispiel. Momentan herrscht die Erwartung, dass diese innerhalb eines Monats entweder sukzessive zum Erliegen kommt oder auf riskante Bastelei angewiesen sein wird, weil Wartung und Reparatur nur in Zusammenarbeit mit den Herstellern aus dem Westen möglich ist. Wieviele der in der Luftfahrt beschäftigten Fachkräfte in Russland, deren Arbeit somit massiv erschwert wird, werden sich überlegen, ob sie ihre Spezialkenntnisse nun nicht außerhalb Russlands zu Geld machen sollen? Und je mehr von denen die Koffer packen, desto schwieriger wird es für Russland, für das nun ausbleibende Material und Knowhow Alternativen zu entwickeln.

Ein Update zum „Projekt Aderlass“: Unser Institut hat inzwischen zwei Wissenschaftler aus Russland aufgenommen. Sie werden zunächst mir Verträgen für zwei Jahre ausgestattet. Wir hoffen, dass wir dafür noch eine Förderung einwerben können (auch wenn das eigentlich Mittel für Forschende mit anerkanntem Flüchtlingsstatus sind). Ihre Familien werden sie nachholen und, wenn sich in Russland nichts grundlegendes ändert, auch auf absehbare Zeit nicht zurückkehren.

Das sind gut ausgebildete Menschen (und deren Kinder), die unser Land sehr gut gebrauchen kann und die in Russland über kurz oder lang bitter vermisst werden. Es ist mir unverständlich, warum Deutschland oder gleich die EU als Ganzes nicht schon längst eine mit Mrd Euro unterlegte Abwerbeaktion von gut ausgebildeten Russen (wie oben skizziert) gestartet haben.

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Mit der russischen Teilmobilmachung könnte das Thema eine neue Dimension bekommen. In Verbindung mit den „Referenden“ im Donbass kommt Putin damit sicher seinen nationalistischen Kritikern entgegen. Damit die Strategie des Kremls aufgeht, muss eine Rückeroberung des Donbass als Angriff auf russisches Territorium dargestellt werden. Falls diese Propaganda zieht und Russen im großen Stil in die Kampfhandlungen involviert werden, birgt das die Gefahr, dass der Konflikt zwischen Putin und der Urkaine zu einem zwischen den Russen und den Urkainern wird. Auch wenn es derzeit nicht so aussieht, als würde die Strategie aufgehen, ist das ein Szenario, das unter allen Umständen verhindert werden muss.
Derzeit fliehen russische Reservisten im großen Stil ins Ausland – allerdings gibt es nur noch begrenzt viele Gebiete, in denen das visafrei geht. Aus meiner Sicht sollten wir eben diesen Russen ermöglichen, in Europa Asyl zu bekommen. Neben diesem gerechtfertigten Asyl und der Schwächung des russischen Militärs / der russischen Propaganda bauen wir damit auch eine Brücke zur russischen Zivilbevölkerung, die wir für die Zeit nach diesem Konflikt dringend brauchen werden.

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Update: auch in der Politik wird das Thema diskutiert [1]. VertreterInnen von Grünen, CDU SPD, darunter die Bundesinnenministerin, befürworten Asyl für russische Kriegsdienstverweigerer. Aus meiner Sicht irritierende Einlassungen dagegen von Andrij Melnyk:„Falscher Ansatz! Sorry. Junge Russen, die nicht in den Krieg ziehen wollen, müssen Putin und sein rassistisches Regime endlich stürzen, anstatt abzuhauen und im Westen Dolce Vita zu genießen.“
[1]
https://www.zeit.de/politik/deutschland/2022-09/politisches-asyl-deutschland-russland-deserteure-kriegsdienstverweigerer